Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger ist Anwaltsnotar und wird im Laufe des Jahres 2023 das 70. Lebensjahr vollenden. Er macht geltend, die Altersgrenze verstoße gegen das sich aus Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) sowie den Art. 1, 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (nachfolgend: RL 2000/78) ergebende Verbot der Diskriminierung wegen des Alters. Die Altersgrenze sei angesichts eines mittlerweile eingetretenen erheblichen Nachwuchsmangels nicht mehr i.S.v. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78 objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt. Das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen (OLG Köln, Urt. v. 10.02.2022 - Not 5/21).
Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung. Die Altersgrenze ist sowohl mit deutschem Verfassungsrecht als auch mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der Richtlinie 2000/78 und Art. 21 Abs. 1 GRCh vereinbar. Der vom Kläger unter Berufung auf das Unionsrecht erhobene Einwand, im Anwaltsnotariat sei die Erforderlichkeit der Altersgrenze angesichts eines nunmehr festzustellenden demographisch bedingten Nachwuchsmangels zwischenzeitlich entfallen, so dass sie jetzt eine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters bewirke, greift nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats nicht durch. Zwar sind die Richtlinie 2000/78 und das Diskriminierungsverbot nach Art. 21 Abs. 1 GRCh auf die Altersgrenze für Notare unmittelbar anwendbar. Die Altersgrenze bewirkt auch eine dem Kläger nachteilige Behandlung wegen seines Alters i.S.d. Art. 1, 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a RL 2000/78. Die durch die Altersgrenze bewirkte Ungleichbehandlung ist aber gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78 gerechtfertigt. Nach Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78 stellt eine Ungleichbehandlung wegen des Alters keine Diskriminierung dar, sofern sie objektiv und angemessen ist und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
Das Ziel der 1991 eingeführten Altersgrenze besteht darin, im Interesse funktionstüchtiger Rechtspflege eine geordnete Altersstruktur innerhalb des Notarberufs zu erreichen. Rechtsuchenden, die auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege auf die Inanspruchnahme notarieller Leistungen (§ 1 BNotO) angewiesen sind, sollen Notare unterschiedlichen Lebensalters zur Verfügung stehen, die aufgrund der Anzahl und Art ihrer Amtsgeschäfte auf allen Gebieten des Notariats über ein Mindestmaß an Berufserfahrung verfügen. Die Zulassungspraxis muss indes gemäß § 4 BNotO Bedürfnisgesichtspunkten Rechnung tragen. Werden keine weiteren Notare benötigt, können jüngere Berufsbewerber daher nur im Rahmen freiwerdender Notarstellen Berücksichtigung finden. Das würde ohne Altersgrenze zu einer Überalterung der Notare führen. Dem Rechtsuchenden stünden in zunehmendem Maße nur noch lebensältere Notare zur Verfügung, deren Berufserfahrung wegen ihrer späteren Zulassung geringer wäre. Das würde die Funktionsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege gefährden. Die bundeseinheitlich für alle Notare geltende Altersgrenze ist auf der Grundlage der vom Senat getroffenen Feststellungen zur Erreichung dieses Ziels (nach wie vor) erforderlich. Es trifft entgegen der Ansicht des Klägers nicht zu, dass sie wegen eines demographisch begründeten Nachwuchsmangels im Anwaltsnotariat nicht mehr dazu dient, den Zugang junger Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zum Notarberuf zu fördern.
Im hauptberuflichen Notariat werden bei der Prognoseentscheidung, ob zusätzliche Notarstellen einzurichten sind, mit unterschiedlichen Gewichtungen zwischen 1.350 und 1.800 bereinigte Urkundsgeschäfte pro Jahr zugrunde gelegt. Im Anwaltsnotariat haben die Justizverwaltungen der Länder für die Bedürfnisprüfung unterschiedliche Richtzahlen zwischen 350 bereinigten und 400 bzw. 450 unbereinigten Urkundsgeschäften jährlich festgelegt. Dabei handelt es sich um Richtwerte, deren Erreichen für die notwendige vielseitige Erfahrung und die Urkundsqualität nach dem Ermessen der Justizverwaltungen als erforderlich angesehen wird. Der auf dieser Grundlage ermittelte Stellenbedarf spiegelt lediglich einen einfachen Bedarf wider. Ihm lässt sich deshalb, wenn ein höheres Urkundsaufkommen pro Stelle anfällt, kein zwingendes Bedürfnis dafür entnehmen, zusätzliche Stellen zu besetzen, weil die ordnungsgemäße Erfüllung der anfallenden Aufgaben durch die bereits vorhandenen Notare nicht mehr gewährleistet werden könne. Allein der Umstand, dass eine oder mehrere Stellen ausgeschrieben sind, bedeutet daher nicht, dass die Stellenanzahl mit dem zwingenden Bedarf in diesem Sinn übereinstimmt. Die Entscheidung der Landesjustizverwaltung, Notarstellen auszuschreiben, knüpft im Anwaltsnotariat nicht wie im hauptberuflichen Notariat an das Ausscheiden eines bestellten Notars an, sondern wird nach Vorliegen der Geschäftszahlen des Vorjahres oder der Vorjahre anhand der Zahl der vorhandenen Notare getroffen. Das vom Senat eingeholte Gutachten der Bundesnotarkammer hat ergeben, dass zwar im Anwaltsnotariat ein – teils deutlicher – Bewerbermangel festzustellen ist. Das gilt allerdings nicht für das hauptberufliche Notariat. Dort besteht durchgängig ein erheblicher Bewerberüberhang. Im hauptberuflichen Notariat wurden Stellen im Zeitraum 2020 bis 2022 nur in vernachlässigbarem Umfang (deutlich unter 1%) eingezogen. Auf zu vergebende Stellen bewarben sich durchgängig in allen Bundesländern und für alle Amtsgerichtsbezirke deutlich mehr Bewerber als offene Stellen vorhanden waren. So etwa waren 2022 im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe sechs Stellen ausgeschrieben, auf die 35 Bewerbungen eingingen, im Oberlandesgerichtbezirk München gingen 308 Bewerbungen auf 17 ausgeschriebene Stellen ein und im Oberlandesgerichtsbezirk Naumburg 24 Bewerbungen auf vier ausgeschriebene Stellen. Lediglich vereinzelt entsprach die Bewerberzahl derjenigen der offenen Stellen, wie etwa in den Oberlandesgerichtsbezirken Brandenburg und Thüringen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bereitet es ferner keine Schwierigkeiten, die für Notarassessoren ausgeschriebenen Stellen mit hochqualifizierten Bewerbern zu besetzen. Im Anwaltsnotariat ist die Anzahl der Anwaltsnotare in diesem Zeitraum ebenfalls unwesentlich, nämlich von 5.275 auf 5.102 (- 3,28%) gesunken. Auf zu vergebende Stellen gingen allerdings anders als im hauptberuflichen Notariat nicht durchgängig deutlich mehr oder jedenfalls nicht in ausreichender Anzahl Bewerbungen ein. Es gab zahlreiche Gerichtsbezirke, in denen deutlich weniger Bewerbungen eingingen, als Stellen ausgeschrieben waren. So etwa waren 2022 in den Oberlandesgerichtsbezirken Braunschweig, Celle, Frankfurt am Main, Oldenburg, Schleswig und Hamm insgesamt 61, 128, 139, 64, 194 und 337 Stellen ausgeschrieben, auf die sich sechs, 39, 69, 31, 20 und 49 Rechtsanwälte bewarben. Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist die bundeseinheitlich geltende Altersgrenze zur Erreichung des genannten legitimen Ziels auch im Anwaltsnotariat weiterhin erforderlich. Das beruht anders als im hauptberuflichen Notariat allerdings nicht darauf, dass im Hinblick auf die ausgeschriebenen Stellen ein Bewerberüberhang herrschte. Zu Recht weist der Beklagte aber darauf hin, dass es vor dem Hintergrund der Ausgestaltung des Anwaltsnotariats vielmehr gerade dann, wenn keine ausreichende Zahl an Bewerbungen eingeht, erforderlich ist, dass weiterhin lebensältere Notare aus dem Nebenberuf ausscheiden, um die Berufschancen zwischen den Generationen gerecht zu verteilen und eine Überalterung des Berufsstandes zu verhindern. Nur wenn lebensältere Notare aus dem Nebenberuf ausscheiden, haben nämlich jüngere Notare eine hinreichende Aussicht auf ein angemessenes Urkunden- und Gebührenaufkommen und werden die erheblichen persönlichen und finanziellen Belastungen auf sich nehmen, die mit dem Eintritt in den Nebenberuf verbunden sind.
Dem im Gegensatz zum Anwaltsnotariat bestehenden Bewerberübergang im hauptberuflichen Notariat lässt sich entnehmen, dass es für den Notarberuf entgegen der Ansicht des Klägers keinen Nachwuchsmangel aus demographischen Gründen gibt. Aus den unterschiedlichen Bewerberzahlen schließt der Senat auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme, dass der Bewerbermangel im Anwaltsnotariat anderweitige, auf den Spezifika dieser Notariatsform beruhende strukturelle Gründe hat. Nicht die Demographie, sondern die für den Eintritt in den Nebenberuf im Interesse einer besseren Qualifikation seit 2010 deutlich erhöhten und sich zudem wegen der zunehmenden Digitalisierung und Regelungsdichte stetig weiter erhöhenden Anforderungen sind der ausschlaggebende Grund für die durchgängig geringen Bewerberzahlen. Kann danach kein im Wesentlichen demographisch begründeter Nachwuchsmangel festgestellt werden, sondern hat dieser ausschlaggebend die genannten anderen strukturellen Gründe, kommt es entgegen der Ansicht des Klägers für die Erforderlichkeit der Altersgrenze auf die Frage, ob die im Anwaltsnotariat ausgeschriebenen Stellen besetzt werden können, nicht an.
Nach alledem kann der Senat nicht feststellen, dass der Gesetzgeber den ihm nach der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs zukommenden Prognose- und Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Altersgrenze und ihre Ausgestaltung verletzt hat.