Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Antragstellerin wandte sich als Inhaberin eines Obst- und Gemüsegroßhandels auf dem von der Antragsgegnerin als öffentliche Einrichtung betriebenen Großmarkt im Wege der Normenkontrolle gegen die Auflösung des Großmarkts durch Satzungsänderung.
Das OVG hat den gegen die Änderungssatzung gerichteten Normenkontrollantrag abgelehnt. Die Änderungssatzung sei formell und materiell rechtmäßig. Die satzungsrechtlich umgesetzte Auflösungsentscheidung stehe nicht im Widerspruch zu den rechtlichen Vorgaben der §§ 7, 8 Abs. 1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen. Die Änderungssatzung verstoße auch nicht gegen die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Das gelte selbst dann, wenn man der Selbstverwaltungsgarantie nicht nur das gemeindliche Recht zuordnen wolle, sich grundsätzlich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen, sondern auch eine entsprechende Pflicht. Die Änderungssatzung stehe auch mit sonstigem höherrangigem Recht – insbesondere dem Bestimmtheitsgebot – in Einklang.
Das BVerwG hat die Revision der Klägerin gegen das Urteil des OVG zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das OVG sei von einem zutreffenden Gehalt der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ausgegangen.
Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleiste den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Damit werde ihnen ein grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassender Aufgabenbereich sowie die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte in diesem Bereich gesichert. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft i.S.v. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG seien solche Aufgaben, die das Zusammenleben und -wohnen der Menschen vor Ort beträfen oder einen spezifischen Bezug darauf hätten. Zum Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung gehöre danach kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen seien, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen.
Eine Verpflichtung der Kommunen, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen oder fortzuführen, ergebe sich aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht.
Dagegen spreche bereits der Wortlaut der Vorschrift, die den Gemeinden ausdrücklich ein Recht gewährleiste, nicht aber Pflichten auferlege.
Auch ihrer Entstehungsgeschichte ließen sich keine Anhaltspunkte für eine verfassungsunmittelbare Pflicht der Kommunen zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben entnehmen. Vielmehr habe dem Parlamentarischen Rat bei ihrem Erlass allein vor Augen gestanden, die Kommunen vor staatlichen Übergriffen zu schützen. Die schließlich in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Bestimmung sei im Herrenchiemseer Entwurf noch nicht enthalten gewesen, sondern erst im Laufe der Beratungen eingefügt worden. Der Vorschlag zu ihrer Einführung habe sich an Art. 127 der Weimarer Reichsverfassung orientiert, wonach Gemeinden und Gemeindeverbände das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze gehabt hätten. Damit habe der bis dahin ohne Erwähnung der Gemeinden auskommende Entwurf um eine institutionelle Garantie zur Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung ergänzt und die Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände gewährleistet werden sollen. Dem habe auch die Vorstellung zugrunde gelegen, die Selbstverwaltung schützen zu müssen. In den Beratungen sei durchweg nur vom Recht der Gemeinden oder von der gemeindlichen Selbstverwaltung nicht jedoch von einer kommunalen Pflicht die Rede gewesen. Eine Ergänzung des kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, die nach ihrem Wortlaut für eine aus der Norm folgende Pflicht hätte sprechen können, habe sich im Parlamentarischen Rat nicht durchgesetzt.
Systematisch spreche ebenfalls nichts dafür, aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG eine Pflicht der Kommunen zur Aufgabenerfüllung abzuleiten. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b GG räume den Kommunen das Recht ein, gestützt auf eine (behauptete) Verletzung von Art. 28 GG Verfassungsbeschwerde zu erheben, was nur mit dem Charakter des Art. 28 GG als einer Rechte – und nicht auch Pflichten – regelnden Bestimmung vereinbar sei. Zudem unterscheide der Verfassungsgeber in anderen Normen des Grundgesetzes ausdrücklich zwischen Rechten und Pflichten (vgl. etwa die Art. 1 Abs. 1 Satz 2, 25 Satz 2, 33 Abs. 1 GG).
Schließlich stünden auch Sinn und Zweck des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG der Annahme einer aus der Regelung folgenden kommunalen „Aufgabenerfüllungspflicht“ entgegen. Das durch die Norm verbürgte „Aufgabenfindungsrecht“ im örtlichen Wirkungskreis würde durch eine zugleich aus der Vorschrift folgenden Pflicht zur Aufgabenerfüllung schrittweise ausgehöhlt werden. Wegen ihrer begrenzten finanziellen Mittel würden Kommunen schnell außerstande sein, sich neuer freiwilliger Aufgaben anzunehmen, da die Aufgabenerfüllung nur selten kostenneutral möglich sein werde. Mit fortschreitender Zeit und der wachsenden Zahl einmal angenommener Aufgaben liefe das Recht, neue Aufgaben übernehmen zu können, zunehmend leer. Um den kommunalen Aufgabenkreis entsprechend dem Bedeutungsgehalt von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG entwicklungsoffen zu halten, müsse mit dem Recht, Aufgaben der freiwilligen Selbstverwaltung an sich ziehen zu können, das Recht einhergehen, die Erfüllung solcher Aufgaben nicht fortzuführen. Schließlich enthalte Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch eine spezifisch demokratische Funktion. Die Bestimmung verlange für die örtliche Ebene eine mit wirklicher Verantwortlichkeit ausgestattete Einrichtung der Selbstverwaltung, die den Bürgern eine effektive Mitwirkung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ermögliche. Diese demokratische Funktion, deren Verwirklichung ein hinreichendes Maß an Kompetenzen der gewählten kommunalen Vertretungsorgane erfordere (vgl. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG), wäre durch eine Aufgabenfortführungspflicht gefährdet. Angesichts endlicher Ressourcen ginge neu gewählten Organen der legitime Einfluss auf die Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben schrittweise verloren. Es träte eine Bindung an frühere Entscheidungen ein, ohne die Möglichkeit, sich daraus zu lösen.
Bei Anwendung dieses Maßstabs sei die Antragsgegnerin nicht verpflichtet gewesen, den Großmarkt als öffentliche Einrichtung fortzuführen, sondern habe die Einrichtung ohne Begründung auflösen dürfen. Auch sonstige Verstöße gegen höherrangiges Recht seien nicht ersichtlich.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung revidiert die neuere Rechtsprechung des BVerwG zum Gehalt des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG.
Das BVerwG war ursprünglich davon ausgegangen, dass eine Gemeinde aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht verpflichtet sei, einen Markt mit der Eigenschaft einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung beizubehalten. Seine Aufhebung und Privatisierung gehöre zur Organisationsgewalt der Gemeinde (BVerwG, Urt. v. 21.07.1964 - I C 60.61 Rn. 63).
Mit seiner Entscheidung zum Offenbacher Weihnachtsmarkt (BVerwG, Urt. v. 27.05.2009 - 8 C 10/08) entnahm es der bundesverfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung erstmals auch die Pflicht einer Gemeinde, sich im Interesse einer wirksamen Wahrnehmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nicht ihrer gemeinwohlorientierten Handlungsspielräume zu begeben. Eine materielle Privatisierung eines kulturell, sozial und traditionsmäßig bedeutsamen Weihnachtsmarktes, der bisher in alleiniger kommunaler Verantwortung betrieben worden sei, widerspreche dem. Eine Gemeinde könne sich nicht ihrer hierfür bestehenden Aufgabenverantwortung entziehen. Ihr obliege vielmehr auch die Sicherung und Wahrung ihres Aufgabenbereichs, um eine wirkungsvolle Selbstverwaltung und Wahrnehmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu gewährleisten.
Das BVerwG wendet sich mit seiner Entscheidung nunmehr von dieser neueren Auslegung der grundgesetzlich gewährleisteten kommunalen Selbstverwaltungsgarantie ab und verfolgt seine ursprüngliche Rechtsprechungslinie weiter. Es vertritt nicht mehr die Auffassung, dass sich aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch eine Pflicht zur Fortführung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben ergeben kann. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ist danach eine Verfassungsnorm zum Schutz der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften und begründet weder eine Pflicht zur Übernahme freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben noch wird eine Kommune hierdurch gehindert, einmal übernommene freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben ohne Begründung wieder aufzugeben.