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Anmerkung zu:BGH 9. Zivilsenat, Beschluss vom 12.01.2023 - IX ZR 71/22
Autor:Stephan M. Schubert, RA
Erscheinungsdatum:19.04.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 140 InsO, § 143 InsO, § 522 ZPO, § 133 InsO, § 17 InsO, § 950 BGB, § 142 InsO, § 951 BGB
Fundstelle:jurisPR-InsR 7/2023 Anm. 1
Herausgeber:Ministerialrat Alexander Bornemann
Dr. Daniel Wozniak, RA, FA für Insolvenz- und Sanierungsrecht, FA für Handels- und Gesellschaftsrecht und FA für Steuerrecht
Zitiervorschlag:Schubert, jurisPR-InsR 7/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung in praxi nur bezüglich Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners, nicht bei Kenntnis des Anfechtungsgegners davon



Leitsatz

Für die gesetzliche Vermutung der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners muss der Anfechtungsgegner nicht wissen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können.



A.
Problemstellung
Bekanntlich hat der IX. Zivilsenat des BGH mit seinem Urteil vom 06.05.2021 (IX ZR 72/20 - BGHZ 230, 28) eine Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung insbesondere im Hinblick auf kongruente Deckungen eingeläutet. Er hat in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung ausgesprochen, die Feststellung, dass der Schuldner mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz gehandelt hat (§ 133 Abs. 1 Satz 1 InsO), könne nicht allein darauf gestützt werden, dass der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung erkanntermaßen zahlungsunfähig war. Hinzukommen müsse, dass der Schuldner im nach § 140 InsO maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können. „Entsprechendes gilt für die Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners.“ (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 Rn. 36).
Die Rechtsprechungsänderung hatte sich also schwerpunktmäßig mit dem Vollbeweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners und dem Vollbeweis der Kenntnis des Anfechtungsgegners von diesem Vorsatz beschäftigt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In dem hier zu besprechenden – kurzen – Beschluss, der die Nichtzulassungsbeschwerde eines anfechtenden Insolvenzverwalters zurückweist, hat der BGH klargestellt, dass seine Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung im Wesentlichen nur die Feststellung des Schuldnervorsatzes betrifft. Zwar ist davon – so der IX. Zivilsenat des BGH weiter – auch der Vollbeweis der Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Vorsatz des Schuldners betroffen: Will der Insolvenzverwalter diesen Vollbeweis führen, hat er dem Anfechtungsgegner nicht nur die Kenntnis der schuldnerischen Zahlungsunfähigkeit nachzuweisen. Vielmehr muss er auch die Kenntnis des Anfechtungsgegners davon darlegen und beweisen, dass der Schuldner bei Vornahme der Rechtshandlung wusste oder billigend in Kauf nahm, auch künftig seine übrigen Gläubiger nicht vollständig befriedigen zu können.
Allerdings bleibt es, wie der Senat klarstellt, dem anfechtenden Insolvenzverwalter auch nach der Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung unbenommen, seiner Darlegungslast hinsichtlich der Bösgläubigkeit des Anfechtungsgegners dadurch zu genügen, dass er sich auf die Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 InsO stützt. Die Voraussetzungen des Vermutungstatbestands sind von der neuausgerichteten Rechtsprechung nicht betroffen, wie der BGH betont. Um die Vermutungswirkung auszulösen, muss der Insolvenzverwalter – so der Senat weiter – dem Anfechtungsgegner nicht die Kenntnis davon nachweisen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können.
In dem Sachverhalt, der dem Beschluss zugrunde lag, war ein Insolvenzverwalter mit seiner auf die §§ 143 Abs. 1, 133 InsO gestützten Klage nicht durchgedrungenen. Das OLG Hamburg hatte die Berufung per Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen. Dabei hat es nach dem BGH zwar womöglich rechtsfehlerhaft verkannt, dass die Neuausrichtung der Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung die Vermutung nach § 133 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 InsO unberührt lässt. Dies war nach dem BGH jedoch nicht entscheidungserheblich, weil der Kläger schon nicht die Kenntnis der Beklagten von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im maßgeblichen Zeitpunkt dargelegt und bewiesen hatte. Daher konnte – so der Senat weiter – auch dahinstehen, ob das Berufungsgericht in zulassungsrelevanter Weise einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners verneint hat.


C.
Kontext der Entscheidung
Der BGH selbst hatte bereits in seiner Grundsatzentscheidung vom 06.05.2021 darauf hingewiesen, dass die gesetzliche Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO zu beachten sei, wenn der Vollbeweis einer Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Schuldnervorsatz nicht geführt worden sei (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 Rn. 49). Auch in der Literatur war ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die Neuausrichtung aufgrund ihrer oben unter A. genannten Schwerpunktsetzung zwar den Eindruck vermittle, Insolvenzverwalter müssten künftig die den Vollbeweis auf Schuldnerseite tragenden Umstände auch für die Bösgläubigkeit des Anfechtungsgegners darlegen und beweisen. Dies stimme jedoch gerade nicht, da insofern die Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 InsO anwendbar bleibe (Thole, ZRI 2021, 609, 610). Trotzdem scheint in der allgemeinen Aufregung um die viel beachtete Kurskorrektur der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung kongruenter Deckungen teilweise der Eindruck entstanden zu sein, sie betreffe generell auch die subjektiven Voraussetzungen aufseiten des Anfechtungsgegners (z.B.: Hiebert, ZInsO 2022, 1660, 1665). Dass dies nur für den Vollbeweis der schädlichen Kenntnis des Anfechtungsgegners gilt, nicht aber für die Vermutungsregel nach § 133 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 InsO, hat der BGH mit seinem Beschluss (nochmals) klargestellt.
Tatsächlich war es gerade ein Anliegen des BGH, mit seiner Neuausrichtung der Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO einen eigenständigen Anwendungsbereich zu geben (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 Rn. 35). Nach der alten Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung genügte für den Vollbeweis des Benachteiligungsvorsatzes des Schuldners und der Kenntnis des Anfechtungsgegners davon in der Regel, dass beide Seiten Kenntnis von der schuldnerischen Zahlungsunfähigkeit im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung hatten. Dies begründete der BGH mit einer spiegelbildlichen Anwendung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO auf den Nachweis des Schuldnervorsatzes: Es könnten „für den Schuldner selbst keine strengeren Anforderungen gelten“ als für den Anfechtungsgegner (BGH, Urt. v. 13.04.2006 - IX ZR 158/05 Rn. 14). Für anfechtende Insolvenzverwalter war § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO damit als Beweiserleichterung für die Bösgläubigkeit des Anfechtungsgegners faktisch obsolet geworden (Thole, ZRI 2021, 609).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Wie stark sich die neuausgerichtete Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung insbesondere kongruenter Deckungen in der Praxis auswirkt, ist noch unklar. Auch in der Literatur gehen die Ansichten darüber, ob der BGH nur etwas höhere Beweishürden aufgestellt oder die Vorsatzanfechtung grundlegend zurückgenommen hat, auseinander.
Der vorliegende Beschluss stellt jedenfalls in aller Deutlichkeit heraus: Die Neuausrichtung selbst betrifft im Wesentlichen die Schuldnerseite, denn anfechtende Insolvenzverwalter werden zum Nachweis der Kenntnis des Anfechtungsgegners in aller Regel die Vermutung nach § 133 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 InsO heranziehen. Diese greift ein, wenn der Verwalter die Vermutungsbasis des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO (bei kongruenten Deckungen i.V.m. § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO), die Kenntnis der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit des Schuldners und die Kenntnis der Gläubigerbenachteiligung, dargelegt und bewiesen hat. Der Nachweis von der Kenntnis der schuldnerischen Zahlungsunfähigkeit wird dabei durch § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO erleichtert, wonach Zahlungsunfähigkeit in der Regel anzunehmen ist, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat. Für den Nachweis von der (Kenntnis der) Zahlungseinstellung hat der BGH eine Reihe von Indizien entwickelt, die Anfechtenden ihren Vortrag erleichtern.
Abgesehen von dem Ausnahmefall, dass der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und die Kenntnis davon auch unabhängig von (und weit vor) der materiellen Insolvenz des Schuldners vorliegen können, wirkt sich die neuausgerichtete Rechtsprechung wie folgt aus:
Auf Schuldnerseite sind die Anforderungen an den Vorsatznachweis zwar erhöht worden, aber – unter Inkaufnahme des Mehraufwands – durch anfechtende Insolvenzverwalter nach wie vor gut zu bewältigen, da sie umfassenden Einblick in die Geschäftsunterlagen des Schuldners haben (Hiebert, ZInsO 2022, 1660, 1665).
Im Hinblick auf den Nachweis der Bösgläubigkeit des Anfechtungsgegners können und werden Verwalter weiterhin auf § 133 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 InsO zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung naheliegend, die Neuausrichtung der Rechtsprechung habe gar nicht so viel geändert (Thole, ZRI 2021,609, 615; Kayser, INDat Report 02/2023, 13, 21) – ob dies in der Sache zu befürworten ist, sei hier dahingestellt. Zu beachten ist insofern aber, dass der BGH flankierend seine weite Rechtsprechung zu den Indizien, die für eine (Kenntnis der) Zahlungseinstellung (§ 17 Abs. 2 Satz 2 InsO) sprechen, zurückgenommen hat (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 Rn. 41 ff.; BGH, Urt. v. 10.02.2022 - IX ZR 148/19 Rn. 18 f., 22 ff.; BGH, Urt. v. 28.04.2022 - IX ZR 48/21 Rn. 27 ff.; dazu Stohrer, ZInsO 2023, 121, 125 ff.). Es lässt sich daher nach wie vor kaum abschätzen, wie sich die Trendwende des BGH in der Anfechtungspraxis auswirken wird.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
In dem Fall, der dem hiesigen Beschluss zugrunde liegt, war in der ersten Instanz auch thematisiert worden, ob die angefochtenen kongruenten Deckungen des Schuldners nicht im Rahmen eines Bargeschäfts gemäß § 142 InsO erfolgt seien. Eine Anfechtung nach § 133 Abs. 1 bis 3 InsO wäre dann bereits wegen nicht erkennbaren unlauteren Schuldnerverhaltens ausgeschlossen (LG Hamburg, Urt. v. 29.01.2021 - 325 O 330/19 Rn. 22 ff.). Problematisch war allerdings die Unmittelbarkeit des Leistungsaustauschs, da die von der Beklagten gelieferten Waren unter verlängertem Eigentumsvorbehalt in Form eines Kontokorrentvorbehalts standen. Ob das Forderungskonto des Schuldners gegenüber der Beklagten jemals ausgeglichen war, war streitig. Das LG Hamburg hat dazu ausgeführt, dies könne dahinstehen, da der Schuldner, ein Bäcker, spätestens durch die kurzfristige Verarbeitung der gelieferten Waren (Mehl, Hefe etc.) gemäß § 950 Abs. 1 BGB Eigentum erworben habe, so dass Unmittelbarkeit i.S.v. § 142 InsO vorliege (LG Hamburg, Urt. v. 29.01.2021 - 325 O 330/19 Rn. 25).
Dieser Rechtsansicht ist entgegenzutreten. Voraussetzung für die Annahme eines Bargeschäfts ist, dass die Gegenleistung tatsächlich in das Aktivvermögen des Schuldners gelangt ist (BGH, Urt. v. 11.02.2010 - IX ZR 104/07 Rn. 36; BGH, Urt. v. 23.09.2010 - IX ZR 212/09 Rn. 30). Die Gegenleistung bestand hier nicht nur in der Besitzverschaffung durch Übergabe der Waren, sondern auch in deren Übereignung. Ist es zu letzterer wegen des Eigentumsvorbehalts nicht gekommen, steht der Kaufpreiszahlung nur die geringwertigere Besitzverschaffung gegenüber. Es fehlt dann an der Gleichwertigkeit als konstitutiver Bargeschäftsvoraussetzung. Bestätigt wird dies dadurch, dass der Eigentumserwerb des Schuldners durch Verarbeitung zu Bereicherungsansprüchen des vormaligen Eigentümers führt (§ 951 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BGB).



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