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Anmerkung zu:BGH 4. Strafsenat, Urteil vom 15.09.2022 - 4 StR 87/22
Autor:Dr. Jens Peglau, Vors. RiOLG
Erscheinungsdatum:14.11.2022
Quelle:juris Logo
Normen:§ 20 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB
Fundstelle:jurisPR-StrafR 20/2022 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Peglau, jurisPR-StrafR 20/2022 Anm. 1 Zitiervorschlag

Gefährlichkeitsprognose (§ 63 StGB) bei nicht feststellbarer Krankheits- und Delinquenzvorgeschichte des Täters



Orientierungssatz zur Anmerkung

Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Satz 1 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.



A.
Problemstellung
Die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) bedarf der Feststellung der Gefährlichkeit des Täters aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung. Bei dieser spielt insbesondere auch sein Vorleben, insbesondere seine Krankheits- bzw. Störungs- sowie Delinquenzgeschichte eine große Rolle. Was aber gilt, wenn hierzu keine hinreichenden Feststellungen möglich sind, etwa wegen eines Vorlebens des Täters im Ausland oder bei ungeklärten Personalien? Damit befasst sich die vorliegende Entscheidung.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Angeklagte leidet spätestens seit Anfang des Jahres 2021 an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Zum Tatzeitpunkt war er in einer Unterbringungseinrichtung. Aufgrund seiner Psychose litt er an der Wahnvorstellung, der Geschädigte habe das Essen vergiftet. Nachdem er Bauchschmerzen empfand, wollte er sich an dem Geschädigten rächen. Er nahm eine Schere und stach mehrfach auf den am Esstisch sitzenden, sich keines Angriffs versehenden, Geschädigten von hinten ein. Nach dem Vorfall war der Angeklagte apathisch und ließ sich widerstandslos festnehmen. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung wegen Schuldunfähigkeit (Steuerungsfähigkeit wegen der Psychose aufgehoben) freigesprochen und seine Unterbringung nach § 63 StGB angeordnet.
Die gegen die Unterbringungsanordnung gerichtete Revision des Angeklagten hat der 4. Strafsenat des BGH verworfen. In seiner Entscheidung greift er zwei Punkte heraus:
I. Das Landgericht hatte ohne nähere Begründung die Einschätzung des Sachverständigen, dass der Angeklagte im Zustand aufgehobener Steuerungsfähigkeit gehandelt habe, übernommen. Der 4. Strafsenat meinte aber, dass die fehlende Begründung im vorliegenden Fall unschädlich sei, weil sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch hinreichend ergebe, dass der Angeklagte unter dem Einfluss eines akuten Schubs seiner Erkrankung gestanden habe, als er die Tat beging. Bei seiner Festnahme habe er sich in einem quasi katatonischen Zustand befunden und für den exzessiven Gewaltausbruch habe es „auch mit Blick auf das wahnhafte Beeinträchtigungserleben offenkundig keinen normalpsychologisch erklärbaren Zusammenhang“ gegeben.
II. Das Landgericht konnte keine näheren Feststellungen zur Dauer des Aufenthalts des Angeklagten (der bis zur Hauptverhandlung unter Aliaspersonalien handelte) in Deutschland und zu seinem Vorleben treffen. Grundsätzlich bedarf es aber zur Feststellung der in § 63 StGB vorausgesetzten Gefährlichkeit des Täters einer Prognose auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten. Zutreffend hatte das Landgericht in diesem Rahmen berücksichtigt, dass der Angeklagte erst ganz am Beginn seiner Rehabilitation stehe und seine paranoide Wahrnehmung fortbestehe. Er sei nicht absprachefähig und sein Verhalten nicht vorhersehbar. Er nehme zwar die orale Medikation ein und an Therapieangeboten der vorläufigen Unterbringung teil, zeige aber keine Krankheitseinsicht und verweigere die Einnahme einer Depotmedikation. Der 4. Strafsenat meinte, dass das Fehlen näherer Feststellungen zum Vorleben des Angeklagten hier unschädlich sei. Zwar könne der Umstand, dass der Täter trotz seiner psychischen Erkrankung in der Vergangenheit strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei, ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit der künftigen Begehung erheblicher Straftaten i.S.d. § 63 StGB begründen und sei deswegen im Urteil regelmäßig zu erörtern. Dies setze aber belastbare Feststellungen voraus. Solche seien hier nicht möglich gewesen, weil der Angeklagte, der noch bis zur Hauptverhandlung unter Aliaspersonalien gehandelt habe, entsprechende Angaben nicht gemacht habe.


C.
Kontext der Entscheidung
Zu I.: Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH führt die Diagnose einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung und eine konkretisierende Darlegung des Einflusses des diagnostizierten Störungsbildes auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation (BGH, Urt. v. 10.11.2021 - 2 StR 173/21). Die bloße Beschreibung eines allgemeinen Störungsbildes reicht für die Feststellung der Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit regelmäßig nicht aus (vgl. etwa: BGH, Beschl. v. 15.07.2015 - 4 StR 277/15). Außerhalb eines akuten Schubs einer Schizophrenie mag die Tat auch normalpsychologisch erklärbar sein, so dass dann eine erhebliche Verminderung oder eine aufgehobene Schuldfähigkeit nicht festgestellt werden kann. Das ist hier – wo nur die Maßregel angeordnet wurde – insofern von Relevanz, weil nur bei einer sicheren Feststellung der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB möglich ist, nicht hingegen etwa nur auf der Basis einer „nicht ausschließbar“ angenommenen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit in dem o.g. Sinne (vgl. nur: BGH, Beschl. v. 08.05.2019 - 5 StR 118/19 m.w.N.). Vorliegend sah der 4. Strafsenat aber die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen akuten Schub der Schizophrenie als so evident an, dass der genannte Erörterungsmangel unschädlich war.
Zu II.: Der Angeklagte muss keine Angaben machen. Vielleicht ist er krankheitsbedingt auch nicht in der Lage, Angaben zu seinem Vorleben zu machen. Da sich aber aus der Krankheits- und Delinquenzvorgeschichte wesentliche Anhaltspunkte für die Gefährlichkeitsprognose ergeben (etwa, wenn bereits früher krankheitsbedingt rechtswidrige Taten begangen wurden, vgl. BGH, Beschl. v. 26.09.2019 - 4 StR 24/19, oder wenn eben – trotz Erkrankung – keine erheblichen Straftaten verübt wurden, vgl. BGH, Beschl. v. 07.06.2016 - 4 StR 79/16), gebietet es die Aufklärungspflicht, dass der Tatrichter versucht, auf andere Weise Erkenntnisse hierzu zu erlangen. Das ist bei einem Täter mit einem Vorleben im Inland und geklärter Identität meist nicht schwer (BZR-Auszug; Befragungen des Umfelds des Angeklagten zum Auftreten einer psychischen Erkrankung etc.). Bei einem erst kurze Zeit im Inland befindlichen Täter, noch dazu mit ungeklärter Identität, sind derartige Ermittlungen (etwa eine BZR-Auskunft) wegen der Kürze des Aufenthalts nicht aussagekräftig oder aber mangels des Vorhandenseins von Ermittlungsansätzen nicht erfolgversprechend. Hier kommt man ohne Angaben des Angeklagten also nicht zu näheren Erkenntnissen bzgl. seines Vorlebens. Dass in einem solchen Fall nicht zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen wird, es habe trotz bereits bestehender Grunderkrankung längere Lebensphasen ohne Straftaten gegeben, verstößt nicht gegen den Zweifelssatz. Dieser gebietet nicht, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (BGH, Urt. v. 01.07.2020 - 2 StR 326/19 m.w.N.).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Sind keine hinreichenden Feststellungen zur früheren Krankheits- und Delinquenzgeschichte des Täters möglich, so muss der Tatrichter seine Gefährlichkeitsprognose ohne diese Umstände, allein aufgrund der sonstigen feststellbaren Erkenntnisse, treffen. Er ist ohne zureichende Anhaltspunkte nicht gehalten, im Rahmen seiner Gesamtwürdigung diesbezüglich einen dem Täter besonders günstigen Verlauf (also längerfristige Phasen ohne erhebliche Straftaten trotz bereits bestehender Grunderkrankung) zu unterstellen.



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