Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin war geringfügig im Service eines Gasthauses beschäftigt und erhielt monatlich 25 Euro von den Gästen. Das Jobcenter hat (neben dem Erwerbseinkommen und dem Alg I) auch das Trinkgeld als Einkommen berücksichtigt. Im Überprüfungsverfahren blieb die Klägerin vor dem Sozial- und dem Landessozialgericht erfolglos.
Vor dem BSG hat die Revision überwiegend Erfolg gehabt.
Zwar erkennt auch das BSG an, dass es sich bei Trinkgeldern um Einkommen i.S.d. § 11 Abs. 1 SGB II handelt (Rn. 17), erachtet es aber später nicht als Erwerbseinkommen (Rn. 20).
Nach Auffassung des Senats sind die Voraussetzungen des § 11a Abs. 5 SGB II gegeben. Grundlegende Überlegung des BSG ist die Annahme, dass das Trinkgeld eine freiwillige und ohne Rechtspflicht erfolgte Zahlung sei, die nicht aus einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis der Leistung von fremdnütziger Arbeit gegen Entgelt resultiere.
Diese Ausführungen wirken schon recht konstruiert, weil die Hingabe von Trinkgeld doch so eng mit der erbrachten Leistung verknüpft ist, dass man nicht ernsthaft behaupten kann, dass das Erwerbseinkommen und das Trinkgeld auf gänzlich unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln wären. Dass Trinkgelder steuerrechtlich unberücksichtigt bleiben, steht dem nicht entgegen, zumal die vom Senat zitierte steuerrechtliche Rechtsprechung den Zusammenhang zwischen der erbrachten Leistung und dem honorierenden Trinkgeld betont (BFH, Urt. v. 18.06.2015 - VI R 37/14 - BFHE 250, 159).
Der Senat sieht das Trinkgeld folglich nicht als Erwerbseinkommen, sondern als Zuwendung i.S.d. § 11 Abs. 5 SGB II an. Für die Hingabe eines Trinkgeldes bestehe keine rechtliche oder sittliche Pflicht.
Die Berücksichtigung von Trinkgeldern sei nicht grob unbillig (§ 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II). Die grobe Unbilligkeit verlange, dass gegen die Berücksichtigung der Zuwendung als Einnahme bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Typischen abweichende Umstände bzw. Zwecke der Zuwendung sprächen. Maßstab für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „groben Unbilligkeit“ sei das Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen § 11 Abs. 1 SGB II einerseits und § 11a SGB II andererseits. Grundsätzlich sei danach die Einnahme dem Bedarf gegenüberzustellen. Es bestehe die Obliegenheit, im Rahmen der Selbsthilfe nach § 2 SGB II jegliche Einnahmen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu verwenden. Diese Obliegenheit entfalle bei Zweckverfehlung, wenn also die Zuwendung mit einem objektivierbaren Zweck verknüpft sei, dessen Verwirklichung durch die Berücksichtigung bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vereitelt würde.
Allerdings beeinflusse die erhaltene Zuwendung die Lage der Klägerin nicht so günstig, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären (§ 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II). Hierfür sei zu prüfen, ob sich Zuwendung und Alg II (seit 01.01.2023: Bürgergeld) – im Sinne einer Überkompensation der bestehenden Notlage – so verstärken, dass nach der Lebenssituation zumindest ein Teil des Alg II nicht mehr benötigt werde, Leistungen nach dem SGB II also neben der Zuwendung zumindest zum Teil „nicht gerechtfertigt sind“. Hiermit solle gesichert werden, dass gelegentliche oder regelmäßige Zuwendungen anderer, die üblich und auch gesellschaftlich akzeptiert seien, ohne Berücksichtigung bei der Feststellung des bedarfsmindernden Einkommens blieben. Die Berücksichtigung solle danach bereits dann entfallen, wenn die Zuwendung die Lage des Leistungsberechtigten nur unmaßgeblich beeinflusse. Hierfür sei eine wertende Entscheidung, ausgehend von der Höhe der Zuwendung und der für die Sicherung des Lebensunterhalts im Übrigen zur Verfügung stehenden bereiten Mittel, erforderlich. Diese habe sich daran zu orientieren, ob die Nichtberücksichtigung der Zuwendung angesichts ihrer Höhe dem Nachranggrundsatz der SGB II-Leistungen zuwiderlaufen würde.
Freilich gelangt das BSG dann zu dem Ergebnis, dass das der Klägerin gezahlte Trinkgeld von 25 Euro monatlich ihre Lage nicht so günstig beeinflusse und es gerechtfertigt sei, dass sie daneben Leistungen nach dem SGB II beziehe. Dafür sei auf die Anknüpfungspunkte im SGB II bzw. der Alg II-V (jetzt: Bürgergeld-V) abzustellen: Weder der Grundfreibetrag des § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II noch die Bagatellgrenze des § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V könnten als Höhenbegrenzung herangezogen werden. Allerdings sei bei einer Zuwendung, die 10% des jeweils maßgebenden Regelbedarfs nicht übersteige, typisierend davon auszugehen, dass die Subsidiarität existenzsichernder SGB II-Leistungen gewahrt bliebe, eine Überkompensation mithin nicht eintrete. Dies werde dadurch gestützt, dass es dem System pauschalierter Leistungen im SGB II nicht fremd sei, dass abhängig von den Umständen des Einzelfalls Leistungen Dritter nicht bedarfsmindernd berücksichtigt würden, Leistungsberechtigte durch die Nichtberücksichtigung von Einkommen beim Alg II also wirtschaftlich besserstünden als andere Leistungsberechtigte.