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Anmerkung zu:BSG 1. Senat, Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 36/22 R
Autor:Dr. Matthias Schömann, RA
Erscheinungsdatum:19.09.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 27 SGB 5, § 21 AMG 1976, § 7 ApoBetrO 1987, § 34 SGB 5, § 135 SGB 5, § 2 SGB 5
Fundstelle:jurisPR-SozR 19/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Schömann, jurisPR-SozR 19/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Qualitätsgebot gilt auch für Rezepturarzneimitteln



Orientierungssatz zur Anmerkung

Der Anspruch der Versicherten auf Krankenbehandlung umfasst auch die Versorgung mit sog. Rezepturarzneimitteln. Voraussetzung ist, dass die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachgewiesen sind. Die Nachweispflicht trifft den Hersteller.



A.
Problemstellung
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Versorgung mit einem Rezepturarzneimittel und die Erstattung der für die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin leidet an einer Herzinsuffizienz mit Vorhofflimmern. Als Therapie beantragte sie bei der Beklagten die Versorgung mit dem Wirkstoff g-Strophanthin als Rezepturarzneimittel. Art und Menge des verordneten Wirkstoffs sind mit dem bis 2011 fiktiv zugelassenen Fertigarzneimittel Strodival®mr vergleichbar. Der Antrag auf Versorgung wurde von der Beklagten abgelehnt, Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg.
Der 1. Senat des BSG hat auf die Revision hin das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der 1. Senat begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die seitens des Landessozialgerichts (LSG München, Urt. v. 16.02.2022 - L 12 KR 685/19) getroffenen Feststellungen nicht für eine abschließende Bewertung ausreichen. Ob die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Rezepturarzneimittel habe, hänge davon ab, ob dessen Anwendung dem allgemeinen Qualitätsgebot entspreche. Grundsätzlich haben Versicherte in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einen Anspruch auf Krankenbehandlung gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V und damit auch auf apothekenpflichtige Arzneimittel, und zwar sowohl Fertig- als auch Rezepturarzneimittel. Damit seien auch Strophanthine und der Wirkstoff g-Strophanthin umfasst.
Eine Versorgung mit diesem Wirkstoff sei auch nicht durch den G-BA gemäß § 34 Abs. oder Abs. 3 SGB V ausgeschlossen. Der Anspruch der Versicherten unterliege aber grundsätzlich auch den sich aus dem Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot ergebenden Einschränkungen. Bei Pharmakotherapien bedeute das, dass sich diese als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben müssen. Anders als in anderen Leistungen der Krankenbehandlung verzichte das SGB V aber mit Blick auf die arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahren bei der Arzneimittelversorgung auf eigene Vorschriften zur Qualitätssicherung. Das heißt: Mit Zulassung eines Arzneimittels verfügen die Krankenkassen über ein eindeutiges und zugängliches Kriterium bei der Entscheidung über die Verordnungsfähigkeit von pharmazeutischen Produkten. Bei Vorliegen einer Zulassung könne davon ausgegangen werden, dass die Mindeststandards einer wirtschaftlichen und zweckmäßigen Arzneimittelversorgung erfüllt seien. Allerdings begründe eine allein die Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels betreffende Entscheidung (hier die fiktive Zulassung) nicht zwingend auch eine Leistungspflicht in der GKV, denn eine rechtsgebietsübergreifende Bindung sei gesetzlich nicht angeordnet. Es sei nicht ausgeschlossen, dass das SGB V zusätzliche, über das Arzneimittelrecht hinausgehende Anspruchsvoraussetzungen normiere. Die arzneimittelrechtliche Zulassung stelle immer nur ein „Mindestsicherheits- und Qualitätserfordernis“ dar und sei nur „negativ vorgreiflich“, weil eine erforderliche, aber nicht vorhandene Zulassung auch die Verordnungsfähigkeit stets ausschließe.
Bei Rezepturarzneimitteln fehle es aber an einer Zulassungsplicht nach § 21 Abs. 1 AMG. Für die Verkehrsfähigkeit genüge eine Herstellungserlaubnis, daraus könne aber gerade kein Rückschluss auf die Einhaltung des „Mindestsicherheits- und Qualitätserfordernisses“ gezogen werden, da eben keine fundierte Überprüfung des Wirkstoffes stattgefunden habe.
Das Rezepturarzneimittel g-Strophanthin unterliege auch nicht dem Erlaubnisvorbehalt nach § 135 Abs. 1 SGB V, da es sich nicht um eine „neue“ Therapie handle. Neu seien Behandlungsmethoden, wenn sie bisher nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistungen im EBM enthalten waren oder wenn sie enthalten waren, ihre Indikation aber wesentliche Änderungen oder Erweiterungen erfahren haben. Die Behandlung mit Strophanthin sei bis in die 70er Jahre Standard bei der Therapie von Herzerkrankungen gewesen, das Fertigarzneimittel Strodival®mr habe bis 2011 über eine sog. fiktive Zulassung verfügt. Die Behandlungsmethode sei damit nicht neu i.S.d. § 135 Abs. 1 SGB V, folglich müsse für das Rezepturarzneimittel die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von den Krankenkassen oder im Streitfall von den Sozialgerichten festgestellt werden. Dabei genüge nicht, dass nach Ansicht der behandelnden Ärzte oder Ärztinnen die Therapie im Einzelfall positiv gewirkt haben soll, vielmehr seien wissenschaftlich überprüfbare Aussagen erforderlich, dass der Erfolg der Behandlung in einer ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt sei.
Hierzu fehlen die Feststellungen des Landessozialgerichts. Zu Unrecht sei es davon ausgegangen, dass das Erlöschen der fiktiven Altzulassung auch die Verordnungsfähigkeit von Rezepturarzneimitteln mit dem entsprechenden Wirkstoff ausschließe.
Da es sich beim Krankheitsbild der Klägerin nicht um einen sog. Seltenheitsfall handle, also das Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität nicht erforschbar wäre, komme auch eine Ausnahme von den genannten Anforderungen nicht in Betracht. Es liege auch kein Fall des Systemversagens vor, da der Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei den Herstellern liege.
Mangels Feststellungen der Vorinstanz könne der Senat auch nicht feststellen, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V gegeben seien. Die gebotenen Feststellungen werde das LSG München nachzuholen haben.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Herstellung von Rezepturarzneimitteln gehört zu den Pflichtangeboten in der Apotheke. Dabei stellt der Apotheker oder die Apothekerin auf vertragsärztliche Verordnung das Arzneimittel in der Regel selbst her. Die Herstellung unterliegt den insbesondere in § 7 ApBetrO genannten Voraussetzungen. Von diesen arzneimittel- und apothekenrechtlichen Vorgaben zu unterscheiden ist aber die Frage, wann ein Rezepturarzneimittel auch zulasten der GKV verordnet werden darf. Das SGB V sieht für Fertigarzneimittel kaum Leistungseinschränkungen vor, es enthält auch keine eigenen Qualitäts- oder Wirtschaftlichkeitsvorgaben, was mit Blick auf die hohen Zulassungsanforderungen nach deutschem bzw. europäischem Recht auch gerechtfertigt erscheint. Lediglich bestimmte Lifestylearzneimittel (https://www.g-ba.de/downloads/83-691-898/AM-RL-II-Lifestyle-2024-06-15.pdf, zuletzt abgerufen am 16.09.2024), nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel (https://www.g-ba.de/richtlinien/anlage/17/, zuletzt abgerufen am 16.09.2024) oder weitere in § 34 Abs. 1 und 3 SGB V genannte Arzneimittel sind von der Leistungspflicht ausgenommen. Rezepturarzneimittel sind damit nicht per se von der Leistungspflicht ausgeschlossen. Sofern sie nicht dem Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 SGB V unterfallen – dann dürften sie nur nach einer positiven Empfehlung des G-BA im Rahmen der ambulanten Versorgung als Neue Untersuchungs- oder Behandlungsmethode erbracht werden –, muss für ein Rezepturarzneimittel nachgewiesen werden, dass es den allgemeinen Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsanforderungen des SGB V entspricht.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Nach der Entscheidung des 1. Senats des BSG ist nun klar, dass bei Arzneimitteln, die nur aufgrund einer fiktiven Zulassung verkehrsfähig sind, keineswegs damit auch über die Qualität dieses Arzneimittels entschieden worden ist. Gleichzeitig bedeutet das Ende der fiktiven Zulassung aber auch nicht zwingend, dass das Arzneimittel bzw. der Wirkstoff von der Verordnungsfähigkeit ausgeschlossen ist. Die fiktive Zulassung bewirkt aber zumindest, dass auch nach ihrem Ende die Therapie mit dem Wirkstoff nicht als neue Untersuchungs- oder Behandlungsmethode i.S.d. § 135 SGB V eingestuft werden kann. Das hat wiederum zur Folge, dass die Qualität und Wirtschaftlichkeit festzustellen sind. Diese Aufgabe hat das Gericht eindeutig den Krankenkassen bzw. im Streitfall den Sozialgerichten zugewiesen. Sie haben zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen, die eine Leistungspflicht der GKV begründen, vorliegen. Dabei sind die Anforderungen an die herstellerseitig zu erbringenden Nachweise hoch anzusetzen. Eine anekdotische Evidenz der verordnenden Vertragsärzte/-ärztinnen genügt nicht, vielmehr müssen zuverlässige, wissenschaftlich überprüfbare Aussagen in dem Sinne vorliegen, dass der Behandlungserfolg in einer ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Neben der Frage, welche Anforderungen an die Leistungspflicht der GKV in Bezug auf Rezepturarzneimittel zu stellen sind, nahm der 1. Senat des BSG auch die Gelegenheit wahr, rechtliche Vorgaben zu den Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 Abs. 1a SGB V festzulegen, die vom Landessozialgericht zu beachten sind. Unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des Senats führt er aus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche verlaufende Krankheit im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, wenn sie in überschaubarer Zeit das Leben beenden kann oder dies eine notstandsähnliche Situation herbeiführt, in der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen. Nach Auffassung des Senats genügt es demnach nicht für eine individuelle Notlage, dass die bestehende Erkrankung unbehandelt zum Tode führt, da dies auf nahezu alle schweren Erkrankungen zuträfe. Die notstandsähnliche Situation habe sich aus dem Einzelfall zu ergeben. Je näher der erwartete Todeszeitpunkt ist, desto weniger bedarf es sonstiger Umstände zur Begründung der notstandsähnlichen Lage, umgekehrt gelte: Je länger die Handlungsfrist und je ferner der zu erwartende Eintritt des Todes ist, desto mehr kommt es auf die besonderen Umstände an, die das Vorliegen einer notstandsähnlichen Situation rechtfertigen. Die Vorgabe einer kalendarischen Frist verbiete sich aber, vielmehr seien die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. So sei der durch die Unumkehrbarkeit des tödlichen Krankheitsverlaufs verursachte spezifische Zeitdruck besonders zu berücksichtigen (vgl. beispielhaft: BSG, Urt. v. 19.03.2020 - B 1 KR 20/19 R).
Die bereits durch das Landessozialgericht getroffenen Feststellung reichen nicht aus, um im vorliegenden Fall eine notstandsähnliche Situation verneinen zu können. Es fehlen konkrete Feststellungen zum aktuellen Zustand der Erkrankung, der Verlaufsprognose und zum Behandlungszeitfenster für die angestrebte Lebenserhaltung.



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