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Anmerkung zu:BFH 1. Senat, Urteil vom 07.06.2023 - I R 47/20
Autor:Dr. Markus Märtens, RiBFH
Erscheinungsdatum:02.10.2023
Quelle:juris Logo
Norm:§ 12 AO 1977
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 40/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:Märtens, jurisPR-SteuerR 40/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Betriebsstätte/feste Einrichtung im Dienstleistungsbereich



Leitsätze

1. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Annahme einer Betriebsstätte gemäß § 12 Satz 1 der Abgabenordnung eine Geschäftseinrichtung oder Anlage mit einer festen Beziehung zur Erdoberfläche voraus, die von einer gewissen Dauer ist, der Tätigkeit des Unternehmens dient und über die der Steuerpflichtige eine nicht nur vorübergehende Verfügungsmacht hat. Es geht darum, dass die eigene unternehmerische Tätigkeit mit fester örtlicher Bindung ausgeübt wird („Verwurzelung“ des Unternehmens mit dem Ort der Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit).
2. Diesen Anforderungen, die auch für den abkommensrechtlichen Begriff der Betriebsstätte/festen Einrichtung (hier: DBA-Großbritannien 1964/1970 und 2010) prägend sind, wird entsprochen, wenn dem Dienstleistenden (hier: Flugzeugmechaniker/-ingenieur) im Zusammenhang mit der Erbringung der Dienstleistung (hier: Wartungsarbeiten an Flugzeugen) personenbeschränkte Nutzungsstrukturen an ortsbezogenen Geschäftseinrichtungen (hier: Spind und Schließfach in Gemeinschaftsräumen auf dem Flughafengelände) zur Verfügung gestellt werden.



A.
Problemstellung
Zu entscheiden war darüber, ob ein in Großbritannien ansässiger, als Subunternehmer tätiger Flugzeugingenieur im Rahmen der Wartung von Flugzeugen auf einem deutschen Flughafen eine feste Einrichtung (Betriebsstätte) unterhalten hat.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger, der in den Streitjahren sowohl einen inländischen Wohnsitz als auch einen Wohnsitz in Großbritannien (und einen dortigen Mittelpunkt der Lebensinteressen) hatte, war im Verlauf der Streitjahre (2008 bis 2014) zunächst Flugzeugmechaniker und sodann Flugzeugingenieur und Inhaber von Lizenzen zur Wartung von Flugzeugen verschiedener Typen. Die in Großbritannien ansässige Y Ltd. hatte mit der A GmbH, einem inländischen Betreiber und Charterer von Flugzeugen, sogenannte Line Maintenance Agreements mit dem Gegenstand abgeschlossen, lizenziertes Flugzeugwartungspersonal (und deren Werkzeug) zu überlassen. Der Kläger war als Subunternehmer für die Y Ltd. auf der Basis eines „Freelancer Contract“ auf dem Gelände eines inländischen Flughafens der A GmbH tätig.
Für die im Auftrag der Y Ltd. tätigen Ingenieure und Mechaniker waren auf diesem Gelände (in durch die Y Ltd. von der A GmbH angemieteten Räumen) Umkleide-, Verwaltungs- und Gemeinschaftsflächen vorhanden. Die Mitarbeiter hatten unter anderem einen verschließbaren Spind, um ihre Kleidung aufzubewahren (auf der Spindtür war ein Schild mit dem jeweiligen Namen des Mitarbeiters und der Y Ltd. angebracht). Die Dokumentation der am Flugzeug durchgeführten Arbeiten (mit Unterschrift und Stempel) erfolgte im sogenannten Log-Buch des Flugzeugs in einem mit Computern ausgestatteten Raum der Y Ltd. neben dem Hangar. In diesem Raum hatte jeder Mitarbeiter ein mit seinem Namen und dem Namen der Y Ltd. beschriftetes Schließfach, in dem er persönliche Gegenstände wie Handy, Schlüssel, Geld etc. aufbewahren konnte. Am Eingang des Gebäudes mussten sich die Mitarbeiter einer Sicherheitskontrolle unterziehen, anschließend konnten sie sich in dem Gebäude frei bewegen. Der Kläger war Inhaber eines Sicherheitsausweises für den Flughafen. Der Zutritt war unabhängig von der schichtplanorganisierten Einteilung zum Dienst technisch möglich. Die für die Y Ltd. tätigen Mitarbeiter buchten sich bei Arbeitsbeginn und -ende im Zeiterfassungssystem der A GmbH ein und aus.
Das Finanzamt war der Auffassung, der Kläger habe Einkünfte aus selbstständiger Arbeit in Deutschland in einer festen Einrichtung erzielt und damit auf der Grundlage der DBA-Großbritannien 1964/1970 bzw. 2010 die Voraussetzungen für das Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaates Deutschland erfüllt. Die dagegen erhobene Klage hatte in erster Instanz Erfolg (FG Leipzig, Urt. v. 08.10.2020 - 3 K 49/17 - EFG 2021, 1962).
Der BFH hat auf die Revision des Finanzamts das FG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Besteuerung in Deutschland sei abkommensrechtlich nicht gehindert, da die vom Kläger erzielten Tätigkeitseinkünfte durch Nutzung einer ihm in Deutschland regelmäßig zur Verfügung stehenden festen Einrichtung beziehungsweise einer Betriebsstätte erzielt worden seien.
Das in Art. XI Abs. 1 Satz 1 DBA-Großbritannien 1964/1970 verwendete Tatbestandsmerkmal der festen Einrichtung korrespondiere mit dem dort definierten Betriebsstättenbegriff (Art. II Abs. 1 Buchst. l DBA-Großbritannien 1964/1970), auf den auch Art. 7 Abs. 1 DBA-Großbritannien 2010 i.V.m. Art 5 DBA-Großbritannien 2010 abstelle. Nach ständiger Rechtsprechung setze die Annahme einer Betriebsstätte eine Geschäftseinrichtung oder Anlage mit einer festen Beziehung zur Erdoberfläche voraus, die von einer gewissen Dauer ist, der Tätigkeit des Unternehmens diene und über die der Steuerpflichtige eine nicht nur vorübergehende Verfügungsmacht habe (z.B. BFH, Urt. v. 03.02.1993 - I R 80-81/91 - BStBl II 1993, 462). Für die nicht nur vorübergehende Verfügungsmacht sei grundsätzlich erforderlich, dass der Unternehmer eine Rechtsposition innehabe, die ihm nicht ohne Weiteres entzogen werden könne („selbstständiger Nutzungsanspruch“). Es reichten weder eine tatsächliche Mitbenutzung noch die bloße Berechtigung der Nutzung im Interesse eines anderen sowie eine rein tatsächliche Nutzungsmöglichkeit aus (BFH, Urt. v. 04.06.2008 - I R 30/07 - BStBl II 2008, 922, m. Anm. Lieber, jurisPR-SteuerR 4/2009 Anm. 1); allerdings müsse die Verfügungsmacht keine alleinige sein. Darüber hinaus müsse die Einrichtung oder Anlage der Tätigkeit unmittelbar dienen (BFH, Urt. v. 23.03.2022 - III R 35/20 - BStBl II 2022, 844, m. Anm. Selder, jurisPR-SteuerR 40/2022 Anm. 3). Dazu müsse dort eine eigene unternehmerische Tätigkeit mit fester örtlicher Bindung ausgeübt werden und sich in der Bindung eine gewisse „Verwurzelung“ (im Sinne einer örtlichen Verfestigung, vgl. Gosch in: Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl., § 49 Rn. 13) des Unternehmens mit dem Ort der Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit ausdrücken (BFH, Urt. v. 04.06.2008 - I R 30/07 - BStBl II 2008, 922, m. Anm. Lieber, jurisPR-SteuerR 4/2009 Anm. 1).
Das FG habe diese Voraussetzungen mit Blick auf die von der Y Ltd. angemieteten Räume oder die zur Verfügung gestellten Flächen der A GmbH als nicht erfüllt angesehen. Die Verfügungsmacht über ein Schließfach und einen Kleiderspind reiche nicht aus, da diese Vorrichtungen allein der Aufbewahrung privater Gegenstände gedient hätten, ohne dass sich betrieblicher Bezug daraus herleiten lasse. Da letztlich entscheidend sei, dass eine bestimmte selbstständige unternehmerische Tätigkeit durch eine Geschäftseinrichtung ausgeübt werde, genüge die Möglichkeit, private Gegenstände während der ausgeübten Tätigkeit diebstahlsicher aufzubewahren, diesem Erfordernis nicht, da die Einrichtung in diesem Fall nicht unmittelbar dem Unternehmen diene.
Dieser Würdigung, die offenkundig davon beeinflusst sei, dass der Senat in BFH, Beschl. v. 09.01.2019 - I B 138/17 - BFH/NV 2019, 681 ausgeführt habe, „ein Schließfach, das einem als Subunternehmer mit der Wartung von Flugzeugen befassten Ingenieur zur Aufbewahrung der von ihm zu stellenden Werkzeuge zur ausschließlichen Nutzung zur Verfügung steht, ist eine feste Einrichtung i.S. von Art. XI Abs. 1 Satz 1 DBA-Großbritannien 1964/1970“, während im Streitfall eine solche Aufbewahrung der Wartungswerkzeuge im Schließfach/Spind nicht vorgelegen habe, sei nicht zu folgen. Eine Verfügungsmacht des Klägers im Sinne einer Nutzungsmöglichkeit über die im Zusammenhang mit der Leistungserbringung unerlässlichen Räumlichkeiten (Hangar, Computerraum, Verwaltungs-/Aufenthalts- und Umkleideraum) habe jedenfalls mittelbar (und abgeleitet aus der Vereinbarung zwischen der A GmbH und der Y Ltd. und darauf aufbauend aus der „Freelancer-Vereinbarung“ vom … 2008) als unabdingbare Voraussetzung seiner Tätigkeit bestanden; dass die Verfügungsmacht keine alleinige gewesen sei und dass sie hätte entzogen werden können, beeinträchtige seine Position für die Dauer der noch nicht aufgekündigten Vereinbarung ebenso wenig wie eine Sicherheitskontrolle beim Betreten des Geländes. Darüber hinaus fehle es im Streitfall auch nicht an der durch die Überlassung personenbeschränkter Nutzungsstrukturen bei Geschäftseinrichtungen (nach den Feststellungen des FG im Streitfall: Spind und Schließfach) vermittelten ortsbezogenen „Verwurzelung“ des Unternehmens des Klägers mit dieser Örtlichkeit, die auch den entscheidungserheblichen Unterschied zur Sachverhaltskonstellation in BFH, Urt. v. 04.06.2008 - I R 30/07 - BStBl II 2008, 922, m. Anm. Lieber, jurisPR-SteuerR 4/2009 Anm. 1 (Gemeinschaftsräume für sämtliches Reinigungspersonal ohne unternehmensbezogene Zuordnung) und zur Anknüpfung an eine „bloße physische Präsenz“ begründe.
Dabei sei zu beachten, dass die zwischen den Beteiligten einvernehmliche Feststellung, dass der Kläger in dem ihm persönlich zugewiesenen Schließfach sein Werkzeug nicht aufbewahrt habe, eine betriebsbezogene Nutzung des personenbezogenen Spinds (Aufbewahren der Arbeitskleidung und dem Arbeitsschutz dienender Gegenstände außerhalb der konkreten Einsatzzeiten des Klägers) denkgesetzlich nicht ausschließe. Vielmehr sei der Spind auf der Grundlage betriebsbezogener Erfordernisse dazu geeignet und bestimmt, die private Kleidung während der Einsatzzeit und die Arbeitskleidung des Klägers außerhalb der Einsatzzeit aufzubewahren. Entsprechendes gelte für private Gegenstände und das Schließfach. Dies entwerte die Schlussfolgerung des FG („Vorrichtungen dienten allein der Aufbewahrung privater Gegenstände“) vollen Umfangs, so dass insoweit keine Bindungswirkung im Revisionsverfahren bestehe. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung sei im Übrigen auch zu berücksichtigen, dass nach Auskunft des Klägers zumindest die Möglichkeit bestanden habe, die persönliche Werkzeugkiste im Hangar zu deponieren.


C.
Kontext der Entscheidung
Der Kläger hatte Wohnsitze sowohl im Inland als auch in Großbritannien. Abkommensrechtlich galt er als in Großbritannien ansässig, weil er dort den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen hatte. Das Besteuerungsrechts Deutschland an der Vergütung für die im Inland erbrachten Tätigkeiten hängt somit davon ab, ob der Kläger im Inland eine „feste Einrichtung“ (so das für die Streitjahre 2008 bis 2010 geltende DBA-Großbritannien 1964/1970) bzw. eine „Betriebsstätte“ (so das DBA-Großbritannien 2010) unterhalten hat. Beide Begriffe unterscheiden sich in sachlicher Hinsicht nicht.
Dass die für den Betriebsstättenbegriff erforderliche „Geschäftseinrichtung oder Anlage“ eines selbstständig Tätigen auch in einem zur Aufbewahrung von Arbeitswerkzeug vorgesehenen Schrank oder Spind zu sehen sein kann, hatte der BFH schon zuvor entschieden (BFH, Beschl. v. 09.01.2019 - I B 138/17 - BFH/NV 2019, 681). Dieser Fall betraf ebenfalls einen Flugzeugmechaniker, der auf dem gleichen Flughafen tätig war wie der Kläger des Besprechungsfalls. Da der Kläger im vorliegenden Fall jedoch seinen Spind nach eigener Aussage nicht zur Aufbewahrung seines Werkzeugs genutzt hatte, hat das FG Spind und Schließfach der privaten Sphäre zugeordnet und das Vorliegen einer Betriebsstätte verneint. Der BFH ist dem entgegengetreten und hält einen betrieblichen Zusammenhang auch dann für möglich, wenn der dem Kläger zur Verfügung stehende Spind und das Schließfach dazu genutzt worden ist, private Kleidung während der Einsatzzeit und die Arbeitskleidung des Klägers außerhalb der Einsatzzeit aufzubewahren.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Da die Kriterien der Betriebsstätte in starkem Maße von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig sind, wäre es falsch, das Besprechungsurteil als Hinweis auf eine vom BFH intendierte Ausweitung des Betriebsstättenbegriffs zu deuten. Insbesondere hält der BFH daran fest, dass das Tätigwerden eines Dienstleisters in den Räumlichkeiten des Auftraggebers allein noch keine Betriebsstätte begründet.



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