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Anmerkung zu:OLG Koblenz Vergabesenat, Beschluss vom 12.12.2022 - Verg 3/22
Autor:Dr. Simon Manzke, RA
Erscheinungsdatum:14.03.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 57 VgV 2016, § 97 GWB, § 132 GWB, § 21 VgV 2016, § 133 BGB, § 157 BGB, § 160 GWB, EURL 24/2014
Fundstelle:jurisPR-VergR 3/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Lutz Horn, RA
Zitiervorschlag:Manzke, jurisPR-VergR 3/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Zur Anwendung der vom EuGH mit Urteil vom 17.06.2021 (C-23/20) aufgestellten Maßgaben zur verpflichtenden Angabe von Höchstwerten und/oder Höchstmengen in Rahmenvereinbarungen



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Gleichbehandlungsgrundsatz und Transparenzgebot gebieten nach den Maßgaben des EuGH, Urt. v. 17.06.2021 - C-23/20, dass im Falle der Ausschreibung einer Rahmenvereinbarung in der Bekanntmachung und/oder in den Vergabeunterlagen sowohl die Schätzmenge und/oder der Schätzwert als auch eine Höchstmenge und/oder ein Höchstwert der gemäß der Rahmenvereinbarung zu erbringenden Dienstleistungen oder zu liefernden Waren anzugeben sind.
2. Darüber hinaus verliert die Rahmenvereinbarung ihre Wirkung, wenn diese Menge oder dieser Wert erreicht ist. Wäre die Angabe des Höchstwerts oder der Höchstmenge nicht rechtlich verbindlich, könnten sich öffentliche Auftraggeber zudem über diese Höchstmenge hinwegsetzen. Demnach liegt ein Verstoß gegen die Maßgaben des EuGH vor, soweit der bei den Vergabeunterlagen befindliche Entwurf der abzuschließenden Rahmenvereinbarung das einseitige Kündigungsrecht des Auftraggebers für den Fall vorsieht, dass der angegebene Höchstwert erreicht wird. Denn ein solches Kündigungsrecht wäre sinnlos, falls eine Überschreitung des Höchstwerts der zu erbringenden Dienstleistungen ohne weiteres zum Erlöschen der Leistungspflicht des Auftragnehmers führte.
3. Die Antragstellerin ist mit dem Einwand der fehlerhaften Höchstwertangabe auch nicht nach Maßgabe des § 160 Abs. 3 GWB präkludiert, da der behauptete Vergaberechtsverstoß weder aus der Bekanntmachung noch aus den Vergabeunterlagen erkennbar wird. Die Erkennbarkeit i.S.v. § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 GWB bezieht sich neben den betreffenden Tatsachen auch auf die rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstoß. Nach dem insofern maßgeblichen Verständnishorizont eines durchschnittlich fachkundigen Bieters war der Verstoß im hiesigen Fall nicht erkennbar, da dieser allein in der auf der EuGH-Rechtsprechung beruhenden Auslegung europarechtlicher Vorschriften beruht, die den einschlägigen Rechtsvorschriften bei bloßer Lektüre nicht zu entnehmen ist.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung des OLG Koblenz verhält sich zu den vom EuGH mit Urteil vom 17.06.2021 (C-23/20) aufgestellten Maßgaben bzgl. der Verpflichtung zur Angabe von Höchstwerten bzw. Höchstmengen in Rahmenvereinbarungen. Neben Fragen der inhaltlichen Anforderungen an die Ausschreibungsunterlagen werden auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines vergaberechtlichen Vorgehens gegen diesbezügliche Verstöße erörtert.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Antragsgegnerin schrieb eine Rahmenvereinbarung für Dienstleistungen im offenen Verfahren europaweit aus. In den Vergabeunterlagen war insbesondere das maximale Auftragsvolumen der ausgeschriebenen Rahmenvereinbarung mit einem bestimmten Nettowert angegeben. Im Vertragswerk fand sich darüber hinaus unter Ziff. 2.4 folgende Klausel: „Die Rahmenvereinbarung kann vom Auftraggeber jederzeit vor Ablauf der Vertragslaufzeit mit einer Frist von fünf (5) Tagen in Schriftform gekündigt werden, wenn das genehmigte Budget des Auftraggebers i.H.v. […] EUR (netto) aufgrund bereits erteilter Aufträge ausgeschöpft ist.“
Die Antragstellerin reichte fristgerecht ein Angebot ein, das nach Auffassung der Antragsgegnerin fehlerhafte Preisangaben enthielt. Daraufhin teilte ihr die Antragsgegnerin mit, dass sie das Angebot nach § 57 Abs. 1 Nr. 5 VgV ausschließen werde und die Absicht habe, der Beigeladenen den Zuschlag zu erteilen. Die Antragstellerin rügte daraufhin unter anderem, dass weder in der Bekanntmachung noch in den Vergabeunterlagen eine Höchstabnahmemenge angegeben sei, ab deren Erreichung die ausgeschriebene Rahmenvereinbarung ihre Wirkung verliere. Dies stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung dar. Die Antragstellerin habe mangels verbindlicher Angabe eines Maximalvolumens ihre Angebotskalkulation kaum sachgerecht bewerkstelligen können, da sie sich ihrer eigenen Leistungsfähigkeit nicht vollständig gewahr gewesen sei. Die einschlägige Rechtsprechung des EuGH zur Angabe von Schätz- und Höchstmengen bei Rahmenvereinbarungen habe sie bei Angebotsabgabe nicht gekannt. Den nach Zurückweisung der Rüge gestellten Nachprüfungsantrag hat die 1. Vergabekammer Rheinland-Pfalz vom 12.08.2022 (VK 1 - 6/22) als unzulässig verworfen. Die Antragstellerin sei bereits nicht antragsbefugt, weil es an der Darlegung eines (zumindest drohenden) Schadens infolge der gerügten Vergaberechtsverstöße fehle. Der Ausschluss sei aufgrund fehlerhafter Preisangaben erfolgt. Insoweit sei von einem vergaberechtskonformen Ausschluss auszugehen, da hiergegen keine Rüge erhoben worden sei. Damit habe die Antragstellerin – ungeachtet etwaiger der Antragsgegnerin unterlaufener Vergaberechtsverstöße – keine Chance mehr, den ausgeschriebenen Auftrag zu erhalten. Im Übrigen sei ohnehin kein entsprechender Vergaberechtsverstoß erkennbar, da die Antragsgegnerin in den Vergabeunterlagen das maximale Auftragsvolumen der Rahmenvereinbarung angegeben habe.
Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde hat vollumfänglichen Erfolg: Das OLG Koblenz hat den Beschluss der Vergabekammer aufgehoben und das Vergabeverfahren in den Stand vor der Auftragsbekanntmachung zurückversetzt.
Mit Blick auf die Zulässigkeit fehle es der Antragstellerin insbesondere nicht an der erforderlichen Antragsbefugnis gemäß § 160 Abs. 2 GWB: Die Antragstellerin habe hinreichend dargelegt, dass ihr durch den behaupteten Verstoß gegen die Verpflichtungen zur Angabe verbindlicher Höchstmengen bzw. -werte ein Schaden zu entstehen drohe. Nach § 160 Abs. 2 GWB genüge die Darlegung, dass dem Unternehmen „durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften“ ein Schaden zumindest drohe. Demnach sei nicht zwingend verlangt, dass die Antragstellerin dartue, den ausgeschriebenen Auftrag gerade in dem schon eingeleiteten und zur Nachprüfung gestellten Vergabeverfahren zu erhalten. Sei ein bestimmtes Vergabeverfahren mit nicht heilbaren Fehlern behaftet, müsse eine Neuausschreibung erfolgen, die allen Unternehmen die zweite Chance eröffne, an dem neuen Verfahren unter chancengleichen Bedingungen teilzunehmen. Grundsätzlich genüge die – hier dargelegte – Möglichkeit einer Verschlechterung der Bieteraussichten infolge der Nichtbeachtung von Vergabevorschriften (vgl. BGH, Beschl. v. 10.11.2009 - X ZB 8/09 Rn. 32).
Nach Auffassung des OLG Koblenz ist die Antragstellerin auch nicht nach Maßgabe des § 160 Abs. 3 GWB präkludiert. Zunächst sei der behauptete Vergaberechtsverstoß nicht aus der Bekanntmachung bzw. den Vergabeunterlagen erkennbar gewesen. Die Erkennbarkeit i.S.v. § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 GWB beziehe sich nicht ausschließlich auf die den Vergabeverstoß begründenden Tatsachen, sondern auch auf deren rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstöße. Maßgeblich sei insofern der Verständnishorizont eines durchschnittlich fachkundigen Bieters, der die übliche Sorgfalt anwendet. Ein solcher Durchschnittsbieter müsse weder umfassend die vergaberechtliche Literatur noch im Einzelnen die Rechtsprechung zur Auslegung der maßgeblichen Vergabevorschriften kennen. Im hiesigen Fall gründe der behauptete Verstoß allein in der auf der EuGH-Rechtsprechung beruhenden Auslegung europarechtlicher Vorschriften, die den einschlägigen Rechtsvorschriften bei bloßer Lektüre nicht ohne weiteres zu entnehmen sei. Die betreffenden Verstöße in den verlinkten Vergabeunterlagen habe ein durchschnittlich fachkundiger Bieter nach diesem Maßstab nicht ohne vorherige anwaltliche Beratung erkennen können. Ebenso wenig liege eine positive Kenntnis des Vergaberechtsverstoßes durch die Antragstellerin vor (vgl. § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB). Nicht ausreichend sei insofern, dass die Antragstellerin schon vor Ablauf der Angebotsfrist gewisse Kalkulationsrisiken erkannt habe. Denn allein die Existenz derartiger Unsicherheiten begründe insbesondere im Falle der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen noch keinen Vergaberechtsverstoß.
Der Nachprüfungsantrag sei auch vollumfänglich begründet, da die Gestaltung der Ausschreibung gegen die Maßgaben der Entscheidung des EuGH vom 17.06.2021 (C-23/20 „Simonsen & Weel“) verstoße. Zwar sei die Antragsgegnerin der Verpflichtung zur Angabe eines Höchstwerts im Ausgangspunkt nachgekommen. Während die eindeutige Angabe eines Höchstwerts an sich im Regelfall hinreichend sei, führe die Ausgestaltung des Vertragswerks hier aber nicht ohne weiteres dazu, dass die Rahmenvereinbarung ihre Wirkung verliert. Dem Auftraggeber werde durch das einseitige Kündigungsrecht in unzulässiger Weise die Möglichkeit eingeräumt, sich über die Höchstwertangabe hinwegzusetzen. Die verbindliche Angabe solle jedoch allen interessierten Bietern eine verlässliche Grundlage für die Schätzung ihrer Leistungsfähigkeit zur Erfüllung der Verpflichtungen aus der Rahmenvereinbarung bieten. Die Antragsgegnerin könne sich ansonsten hierüber hinwegsetzen und Auftragnehmer könnten wegen Nichterfüllung der Rahmenvereinbarung selbst für Mengenabrufe haftbar gemacht werden, die nicht in der Bekanntmachung und/oder den Vergabeunterlagen angegeben waren.
Der Erklärungswert der einschlägigen Regelungen in den Vergabeunterlagen bestimme sich nach den Maßgaben für die Auslegung von Willenserklärungen nach den §§ 133, 157 BGB. Maßgeblich seien demgemäß die Verständnismöglichkeiten eines fachkundigen und mit der Ausschreibung vertrauten Unternehmens. Ziffer 2.4 des Entwurfs der Rahmenvereinbarung sehe ein Kündigungsrecht des Auftraggebers für den Fall vor, dass das genehmigte Budget – das hier der Höhe nach dem angegebenen Höchstwert der Rahmenvereinbarung entspricht – aufgrund bereits erteilter Aufträge ausgeschöpft wurde. Ohne das in Ziffer 2.4 geregelte Kündigungsrecht würde die Rahmenvereinbarung ohne weiteres mit Erreichen der angegebenen Höchstmengen der zu erbringenden Dienstleistungen „automatisch“ ihre Wirkung verlieren. Das Kündigungsrecht stehe dieser Wirkung hier aber gerade entgegen, da dessen Vereinbarung sinnlos wäre, falls eine Überschreitung des Höchstwerts der zu erbringenden Dienstleistungen ohne weiteres zum Erlöschen der Leistungspflicht des Auftragnehmers führte. Die hier ausgeschriebene Rahmenvereinbarung sei demnach auf eine Abweichung von der gemäß EuGH-Entscheidung angeordneten Rechtsfolge gerichtet. Die Antragsgegnerin könne das Kündigungsrecht auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Vorbeugung der Gefahr einer Doppelausschreibung rechtfertigen, da die Rahmenvereinbarung ohne das Kündigungsrecht mit Erreichen der angegebenen Höchstmengen automatisch ihre Wirkung verliere. Die Vereinbarung eines Gestaltungsrechts des Auftraggebers bei Erreichen der angegebenen Höchstmengen sei auch deshalb nicht erforderlich, weil bei Erreichen der angegebenen Höchstmenge nach Maßgabe des EuGH (Urt. v. 14.07.2022 - C-274/21 und C-275/21 Rn. 67) die Möglichkeit von Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit nach § 132 GWB eröffnet sei. Der Auslegungsgrundsatz, dass der Auftraggeber „im Zweifel“ vergaberechtskonform ausschreiben wolle, greife hier wegen des eindeutigen Auslegungsergebnisses („keine verbindlichen Höchstwerte“) nicht. Einer vergaberechtskonformen Auslegung könne vielmehr nur bei verbleibenden Auslegungszweifeln der Vorrang eingeräumt werden.


C.
Kontext der Entscheidung
Das OLG Koblenz verdeutlicht in überzeugender Weise das Verständnis des EuGH bezüglich der Anforderungen aus der RL 2014/24/EU: Der öffentliche Auftraggeber hat aus Gründen der Transparenz in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen insbesondere einen Höchstwert der gemäß Rahmenvereinbarung zu erbringenden Dienstleistungen anzugeben, ab dessen Erreichen die Rahmenvereinbarung als Grundlage für einen weiteren Leistungsabruf grundsätzlich „ihre Wirkung verliert“.
Die Entscheidung überzeugt in vergaberechtlicher Hinsicht: Die Vergabeunterlagen müssen aus Gründen der Transparenz und Chancengleichheit (vgl. § 97 GWB) verbindliche Höchstwerte und/oder Höchstmengen angeben, ab deren Erreichen die Rahmenvereinbarung erschöpft ist. Nur in diesem Fall ist die Rahmenvereinbarung so transparent ausgeschrieben, dass ein fachkundiger Bieter das für den Leistungsabruf vorgesehene Volumen hinreichend belastbar abschätzen kann. In aller Regel dürfte die Angabe verbindlicher Höchstmengen bzw. -werte bereits für sich genommen ausreichen. Denn diese Angabe wird typischerweise so zu verstehen sein, dass die Rahmenvereinbarung ab Erreichen des genannten Maximalvolumens erschöpft ist und nicht mehr für weitere Leistungsabrufe genutzt werden kann. Anderes gilt, wenn die Auslegung der Vergabeunterlagen nach den Maßgaben der §§ 133, 157 BGB ergibt, dass kein automatisches Erlöschen ab Erreichen der angegebenen Höchstmengen eintritt. Das kann insbesondere auf entgegenstehende Regelungen im Vertragswerk zurückzuführen sein, wie etwa das hier nach Ziff. 2.4 beschriebene Kündigungsrecht des Auftraggebers. Verdrängen solche Regelungen die an sich vom EuGH angeordnete Wirkung der Angabe des Maximalvolumens (automatisches Erlöschen der Rahmenvereinbarung), dann ist von einem Vergabeverstoß auszugehen.
Da diese Maßgaben aus dem Transparenzgrundsatz abgeleitet werden, dürfte bereits dann ein Verstoß gegen die Höchstmengen- bzw. Höchstwertangabe infrage kommen, wenn der öffentliche Auftraggeber neben der etwaigen Höchstwertangabe eine zumindest vordergründig widerstreitende Regelung im Vertragswerk aufnimmt, die den Mechanismus (automatisches Erlöschen der Rahmenvereinbarung) ernsthaft infrage stellt. Denn angesichts solcher Regelungen können sich Bieter nicht darauf verlassen, dass der angegebene Höchstwert auch tatsächlich das Maximalvolumen für den Abruf aus der Rahmenvereinbarung darstellt.
Das OLG Koblenz erwähnt im Rahmen seiner Argumentation auch kurz die Änderungsmöglichkeiten von Rahmenvereinbarungen nach § 132 GWB. Die Formulierungen des OLG Koblenz legen nahe, dass die Maßgaben des § 132 GWB gemäß der EuGH-Rechtsprechung grundsätzlich volle Anwendung auf Rahmenvereinbarungen mit Höchstmengenangaben finden (vgl. Rn. 54). So könnte man die Ausführungen des EuGH in der Entscheidung vom 17.06.2021 (Simonsen & Weel Rn. 70) auch verstehen, da insofern recht pauschal auf Art. 72 der RL 2014/24/EU verwiesen wird, den der nationale Gesetzgeber mit § 132 GWB umgesetzt hat. Zu beachten ist allerdings, dass die vom OLG Koblenz zitierte aktuellere Entscheidung der Achten Kammer des EuGH offenbar die am 17.06.2021 von der Vierten Kammer des EuGH aufgestellten Maßgaben für § 132 GWB etwas restriktiver versteht: Die Rahmenvereinbarung verliere bei Erreichen der Höchstwerte prinzipiell ihre Wirkung, „es sei denn, die Rahmenvereinbarung wird durch die Vergabe nicht wesentlich i.S.v. Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der RL 2014/24 geändert“ (vgl. Urt. v. 14.07.2022, EPIC Financial Consulting Ges.m.b.H., verbundene Rechtssachen C-274/21 und C-275/21 Rn. 67). Der genannte Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der RL 2014/24 wurde (allein) im Rahmen von § 132 Abs. 1 Satz 3 GWB umgesetzt (vgl. Jaeger in: MünchKomm EuWettbR, 4. Aufl. 2022, § 132 GWB Rn. 5). Diese Vorschrift bezieht sich grundsätzlich nur auf die dort benannten Regelbeispiele für das Vorliegen – zur Neuausschreibung verpflichtender – „wesentlicher Änderungen“, nicht jedoch auf die benannten zulässigen wesentlichen Auftragsänderungen nach § 132 Abs. 2 GWB oder De-Minimis-Änderungen nach § 132 Abs. 3 GWB. Gegen die Einbeziehung der Änderungsmöglichkeiten nach § 132 Abs. 2 und 3 GWB könnte sprechen, dass die dort genannten Konstellationen grundsätzlich schon bei einer vorausschauenden Ermittlung der vom Auftraggeber anzugebenden Höchstwerte bzw. -mengen „eingepreist“ werden können.
Auf vertragsrechtlicher Ebene wirft die Entscheidung einige – in der Zukunft noch klärungsbedürftige – Folgefragen auf: Falls kein Bewerber die fehlende bzw. fehlerhafte Höchstmengenangabe rügt, ist der Zuschlag im Vergabeverfahren und damit die Rahmenvereinbarung mit dem obsiegenden Bieter wirksam. Falls also ein Kündigungsrecht bei Erreichen der Höchstmengen wie in Ziff. 2.4 der Rahmenvereinbarung vorliegt, wird dieses grundsätzlich Vertragsbestandteil. Unterlegene Bieter können insofern allenfalls Sekundäransprüche – regelmäßig auf Ersatz der frustrierten Angebotskosten – geltend machen, soweit diese durch den Vergabeverstoß verursacht worden sind.
Fraglich ist der genaue Vertragsinhalt der Rahmenvereinbarung, soweit in der Ausschreibung – von keinem Bieter beanstandete – fehlende oder fehlerhafte Höchstwerte oder Höchstmengenangaben enthalten waren. Fest steht, dass der Zuschlag wirksam und der Bieter grundsätzlich an die Rahmenvereinbarung gebunden ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.06.2021 - C-23/20 „Simonsen & Weel“ Rn. 85). Fehlt eine Höchstwertangabe gänzlich, kann ein Abruf grundsätzlich nur bis zum Erreichen des geschätzten Auftragswerts der Rahmenvereinbarung erfolgen. Darüberhinausgehende Abrufe aus der Rahmenvereinbarung dürften bei fehlender Höchstwertangabe unter Missachtung des § 132 GWB missbräuchlich i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 3 VgV sein (vgl. nur VK Bund, Beschl. v. 29.07.2019 - VK 2 - 48/19 Rn. 48).
Welcher Vertragsinhalt greift nun im Fall einer fehlerhaften (intransparenten) Höchstwertangabe, die – anders als hier – mangels Beanstandung im Vergabeverfahren letztlich zu einem Zuschlag geführt hat? In der hier vom OLG Koblenz zu entscheidenden Konstellation läge es nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung gemäß den §§ 133, 157 BGB durchaus nahe, dass der öffentliche Auftraggeber unter Verzicht auf sein Kündigungsrecht auch über die angegebene Höchstmenge hinaus – prinzipiell unbegrenzt – weitere Leistungen aus der Rahmenvereinbarung abrufen kann. Aus Sicht eines verständigen Durchschnittsbieters will sich der Auftraggeber im Falle des Erreichens des Maximalvolumens die freie Wahlmöglichkeit bzgl. der Ausübung eines Kündigungsrechts einräumen. Diese Auslegung dürfte aber als Verstoß gegen die EuGH-Rechtsprechung zu werten sein, weil der EuGH ab Erreichen der Höchstmengen bzw. -werte das zwingende Erlöschen der Rahmenvereinbarung als Grundlage für weitere Leistungsabrufe anordnet (EuGH, Urt. v. 17.06.2021 - C-23/20 „Simonsen & Weel“ Rn. 68 sowie Urt. v. 14.07.2022 - C-274/21 und C-275/21 „EPIC Consulting“ Rn. 68). Demnach verbleiben wohl nur zwei europarechtskonforme Auslegungsmöglichkeiten: Entweder könnte das (fehlerhaft) angegebene Maximalvolumen – wie bei ordnungsgemäßer Höchstwertangabe – die prinzipiell absolute Grenze für Leistungsabrufe aus der Rahmenvereinbarung darstellen. Oder die intransparente Höchstwertangabe wird zum Schutze des jeweiligen Auftragnehmers schon gar nicht Vertragsbestandteil, womit bereits der Schätzwert bzw. die Schätzmenge die Grenze für entsprechende Abrufe aus der Rahmenvereinbarung darstellte.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung führt öffentlichen Auftraggebern die strengen Maßgaben der EuGH-Rechtsprechung vor Augen: Nicht zwangsläufig genügt eine Angabe verbindlicher Höchstmengen bzw. -werte dem Transparenzgrundsatz. Denn auch die Gestaltung des übrigen Vertragswerks muss auf die vom EuGH angeordnete vertragsrechtliche Folge (automatisches Erlöschen der Rahmenvereinbarung) abgestimmt sein. Im Sinne der Grundsätze der Transparenz und Gleichbehandlung sollte möglichst jede Regelung vermieden werden, die auch nur dem Anschein nach die Verbindlichkeit des angegebenen Maximalvolumens der Rahmenvereinbarung infrage stellt.
Für Bieter erlangt die Entscheidung insofern Bedeutung, als Verstöße gegen die Verpflichtung zur Angabe verbindlicher Höchstmengen bzw. -werte regelmäßig in zulässiger Weise noch nach Angebotslegung gerügt werden können, soweit nicht ausnahmsweise positive Kenntnis vom Rechtsverstoß vorliegt. Nach den Maßgaben des OLG Koblenz gilt das selbst dann, wenn Bieter im Ausgangsverfahren aus anderweitigen Gründen ausgeschlossen worden sind (z.B. wegen fehlerhafter Preisangaben oder Änderung der Vergabeunterlagen). Mit Blick auf die Erkennbarkeit nach § 160 Abs. 3 GWB bleibt abzuwarten, ob die Vergabenachprüfungsinstanzen auch mit fortschreitendem Zeitablauf noch davon ausgehen werden, dass ein durchschnittlich fachkundiger, mit der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen vertrauter Bieter die in einer fehlenden bzw. fehlerhaften Höchstwertangabe liegenden Vergabeverstöße ohne anwaltliche Beratung nicht erkennen kann.



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