juris PraxisReporte

Anmerkung zu:OLG Hamm 7. Zivilsenat, Beschluss vom 27.02.2024 - 7 U 120/22
Autor:Herbert Lang, RA
Erscheinungsdatum:25.09.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 522 ZPO, § 1 StVO, § 25 StVO, § 20 StVO, § 828 BGB, § 3 StVO, § 533 ZPO, § 86 VVG, § 121 VVG
Fundstelle:jurisPR-VerkR 19/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Lang, jurisPR-VerkR 19/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Erhöhte Sorgfaltspflichten des Kraftfahrzeugführers gegenüber Kindern (§ 3 Abs. 2a StVO)



Leitsätze

1. Zwar darf ein Kraftfahrzeugführer nach § 20 Abs. 1 StVO im Gegenverkehr an sich vorsichtig an einem noch haltenden Bus vorbeifahren, muss sich dabei aber im Einzelfall - wie hier im Hinblick auf eine erkennbare Vielzahl von aussteigenden Kindern - nach § 3 Abs. 2a StVO so verhalten, dass eine Gefährdung eines plötzlich hinter dem Bus auf die Fahrbahn tretenden Kindes ausgeschlossen ist; dazu muss der Kraftfahrzeugführer die Geschwindigkeit im Zweifel so weit drosseln, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann (in Übertragung von BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23 Rn. 23 m.w.N. auf § 3 Abs. 2a StVO).
2. Zur Schmerzensgeldbemessung bei offenem Unterschenkelbruch des rechten Beines an zwei Stellen mit Kompartmentsyndrom, unfallbedingter Einblutung im Gehirn sowie eingeschränkter Belastbarkeit des Beines beim Springen ohne Dauerschäden und sowie ausgiebiger Behandlung (19-tägiger Krankenhausaufenthalt, mehrere Operationen, Tragen eines Vacoped-Schuhs über sechs Wochen, Folgeoperation mit erneutem mehrtägigem Krankenhausaufenthalt) bei einem Zwölfjährigen.



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Kraftfahrzeugführer dürfen an Bussen, aus denen an einer Haltestelle Kinder aussteigen, auch im Gegenverkehr nur sehr vorsichtig in Schrittgeschwindigkeit vorbeifahren.
2. Verstößt ein Fahrzeugführer gegen § 3 Abs. 2a StVO, trifft ihn in der Regel eine weit überwiegende bzw. volle Haftung.
3. Eine (Mit-)Haftung von Kindern ist unter Abwägung ihres Reifegrades und der Schwere ihres Verkehrsverstoßes zu ermitteln.
4. Bei zwölfjährigen Kindern ist im Regelfall von der Kenntnis der wesentlichsten Regeln im Straßenverkehr auszugehen.



A.
Problemstellung
Unfälle von Kindern im Straßenverkehr sind oft tragisch und eines der traurigsten Kapitel im Rahmen der Schadensregulierung. So kamen auch im Jahre 2022 wieder alle 20 Minuten insgesamt 25.800 Kinder unter 15 Jahren zu Schaden. Am häufigsten ereigneten sich die Unfälle auf dem Schulweg, in 36% waren die Kinder als Radfahrer, 34% als Fahrzeuginsassen und in 22% als Fußgänger betroffen. Insgesamt ist bei der Anzahl der getöteten Kinder trotz eines leichten coronabedingten Anstiegs im letzten Erfassungsjahr mit 51 eine erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen, so kamen z.B. im Jahre 1978 noch 701 Kinder im Straßenverkehr zu Tode. Auch gegenüber dem letzten nicht pandemiegeprägten Jahr 2019 ergibt sich ein deutlicher Rückgang der geschädigten Kinder um 8%. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich des Jahres 2020 mit zwei getöteten Kindern pro 1 Mio. Einwohner in der Spitzengruppe (Zahlen jeweils nach www.destatis.de, zuletzt abgerufen am 17.09.2024). Den größten Handlungsbedarf gibt es dazu in Rumänien mit 16 und Lettland mit 20 Kindern.
Unter juristischem Aspekt geht es bei Unfällen mit Kindern oft um die erhöhten Sorgfaltspflichten der Kraftfahrer ihnen gegenüber nach § 3 Abs. 2a StVO und – damit zusammenhängend – deren (Mit-)Haftung nach eigenem Fehlverhalten. Mit der Thematik hat sich vorliegend wieder das OLG Hamm befasst.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der zum Unfallzeitpunkt 12-jährige Kläger macht Schmerzensgeld und einen „Feststeller“ für zukünftige Schäden nach einem Straßenverkehrsunfall aus dem Oktober 2019 um ca. 15.00 Uhr geltend. Nachdem er mit weiteren 20-30 Kindern an einer Bushaltestelle ausgestiegen war, wollte er die Straße überqueren. Als er hinter dem Bus, der die Warnblinkanlage nicht eingeschaltet hatte, hervortrat, wurde er von dem an dem Bus mit einer Geschwindigkeit von 15-20 km aus der Gegenrichtung kommenden PKW des Beklagten erfasst und verletzt.
Der Junge erlitt bei dem Unfall eine Hirneinblutung sowie eine offene Unterschenkelfraktur mit Kompartmentsydrom und musste 19 Tage stationär im Krankenhaus behandelt werden. Danach war das Tragen eines sog. „Elefantenschuhs“ über 6 Wochen erforderlich. Aktuell hat er 2,5 Jahre nach dem Unfall beim Springen immer noch Schmerzen im Bein. Zudem ist aus medizinischer Sicht eine kosmetische Operation zur Narbenbeseitigung geplant.
Das LG Hagen hatte am 25.10.2022 auf Basis einer 70%igen Haftung des Beklagten auf ein Schmerzensgeld von 8.500 Euro entschieden (LG Hagen, Urt. v. 25.10.2022 - 3 O 83/20).
Das OLG Hamm hat die nur vom Beklagten erhobene Berufung am 02.04.2024 nach Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO vom 27.02.2024 zurückgewiesen.
1. Der beklagte PKW-Fahrer haftet mindestens mit einer Quote von 70%, so dass die vom LG Hagen entschiedene Quote ihn jedenfalls nicht benachteiligt.
Der Beklagte hat durch sein Verhalten gegen § 20 Abs. 1 StVO, § 1 Abs. 2 StVO, aber auch § 3 Abs. 2a StVO verstoßen, der Fahrzeugführer zur erhöhten Sorgfaltspflicht gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen verpflichtet. Erkennen sie solche Personen, müssen sie besonders vorsichtig, d.h. deutlich langsamer fahren und ggf. sogar anhalten, so dass deren Gefährdung ausgeschlossen ist (BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23 - VersR 2024, 323; OLG Saarbrücken, Urt. v. 28.07.2023 - 3 U 14/23 - RuS 2024, 130; OLG Hamm, Beschl. v. 08.03.2022 - 9 U 157/21 - NJW-RR 2022, 1041). Der Beklagte hat dieses Erfordernis vorliegend nicht berücksichtigt, indem er trotz der für ihn erkennbaren Gruppe von aussteigenden Kindern mit 15-20 km/h an dem haltenden Bus, aus der Gegenrichtung kommend, vorbeigefahren ist. Angesichts des offensichtlichen Gefährdungspotentials für die Kinder hätte er lediglich mit Schrittgeschwindigkeit fahren dürfen, seine Geschwindigkeit von 15-20 km/h war in der Situation deutlich zu schnell.
Der zwölfjährige Kläger hat mit seinem unvorsichtigen Überqueren der Straße zwar gegen § 25 Abs. 3 StVO verstoßen. Angesichts des schweren Verstoßes des PKW-Fahrers und der nur von diesem eingelegten Berufung kann offenbleiben, ob er die nach § 828 Abs. 3 BGB erforderliche Einsichtsfähigkeit in die Tragweite seines Verhaltens hatte, wofür aber vieles spricht. Der Beklagte haftet mithin zumindest mit der vom Landgericht entschiedenen Quote von 70%.
2. Auf Basis dieser Haftungsquote ist ein Schmerzensgeld von 8.500 Euro angemessen. Bei Verkehrsunfällen steht bei der Bemessung die Ausgleichsfunktion im Vordergrund. Für die Höhe sind die zum Schluss der Verhandlung eingetretenen bzw. objektiv vorhersehbaren Lebensbeeinträchtigungen maßgeblich, vergleichbare Entscheidungen anderer Gerichte sind dabei eine wichtige Orientierung (z.B. OLG Hamm, Urt. v. 07.03.2023 - 7 U 130/22 - RuS 2023, 457). Wesentliche Kriterien für die Höhe sind die Schwere der Verletzungen und deren Dauerfolgen, das Ausmaß der Leiden sowie der Verschuldensgrad des Schädigers im Einzelfall, wobei keine streng rechnerische Ermittlung zulässig ist (BGH, Urt. v. 15.02.2022 - VI ZR 937/20 - RuS 2022, 285).
Vorliegend hat der noch sehr junge Kläger erhebliche Verletzungen erlitten, 2,5 Jahre nach dem Unfall leidet er immer noch unter einer eingeschränkten Belastbarkeit des Beines. Zudem steht eine kosmetische Operation zur Narbenbeseitigung an. Der auf eine 100%-Haftung „hochgerechnete“ Betrag von ca. 12.100 Euro fügt sich nahtlos in die dazu vergleichbare weitere Rechtsprechung ein (OLG Hamm, Urt. v. 08.07.2022 - 7 U 106/20 - ZfSch 2022, 674; OLG Frankfurt, Beschl. v. 01.12.2014 - 13 U 122/13).
3. Die vom Haftpflichtversicherer erst im Berufungsverfahren erklärte Aufrechnung mit seinen Aufwendungen für den Kaskoschaden ihres Versicherten ist unzulässig. Ihr hat weder der Kläger zugestimmt noch ist sie sachdienlich i.S.d. § 533 ZPO. Damit würde ein völlig neuer Streitstoff eingeführt werden, da Gegenansprüche des Beklagten zuvor nicht Gegenstand des Prozesses waren (BGH, Urt. v. 30.03.2011 - IV ZR 137/08).
4. Der Feststellungsantrag ist angesichts des noch nicht abgeschlossenen Heilverlaufs, vor allem der konkret anstehenden kosmetischen Operation, zulässig und begründet (z.B. BGH, Urt. v. 10.07.2018 - VI ZR 259/15 - NJW-RR 2018, 1426).


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des OLG Hamm überzeugt im Ergebnis und in ihrer Begründung. Praxisrelevant sind ihre Ausführungen zu der Kardinalnorm des § 3 Abs. 2a StVO hinsichtlich besonderer Pflichten gegenüber Kindern. Dazu enthält sie zwar nichts wesentlich Neues, bestätigt aber als weiterer Mosaikstein die ständige, einheitliche obergerichtliche Rechtsprechung. Mit der oft im Zusammenhang mit Kinderunfällen auftauchenden Frage nach deren (Mit-)Haftung musste sich das OLG Hamm in der konkreten prozessualen Situation nicht weiter beschäftigen, da es nur um die Berufung des Beklagten ging.
1. Auch wenn sich das OLG Hamm vorliegend angesichts der nur vom Beklagten eingelegten Berufung auf die Feststellung beschränken konnte, dass der PKW-Fahrer zumindest i.H.v. 70% haftet, erscheint diese Haftungsquote insgesamt überzeugend.
- Der Beklagte ist mit 15-20 km/h deutlich zu schnell an dem an der Haltstelle haltenden Bus aus der Gegenrichtung vorbeigefahren, wobei es insoweit keine Rolle spielt, dass dieser die Warnblinkanlage nicht eingeschaltet hatte. Angesichts der sichtbaren größeren Gruppe von aussteigenden Kindern hätte er gemäß § 20 Abs. 1 StVO besonders vorsichtig und mit Schrittgeschwindigkeit fahren müssen, die zwischen 4,5 und bereits hohen 7 km/h definiert wird (z.B. BGH, Urt. v. 16.06.1981 - VI ZR 3/80 - DAR 1982, 98; OLG Schleswig, Beschl. v. 25.03.2019 - 7 U 180/18; OLG Celle, Urt. v. 19.05.2021 - 14 U 129/20 - NJW 2021, 2124; OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.07.2022 - 12 U 203/21 - NZV 2023, 227). Technisch unrichtig ist die Einlassung des Beklagten, ein so langsames Fahren mit einem PKW sei nicht möglich. Mit diesem Verhalten hat er gegen § 20 Abs. 1 StVO, vor allem aber gegen die Kardinalnorm des § 3 Abs. 2a StVO verstoßen. Sie schützt die „Schwachen“ im Straßenverkehr, also Kinder bis zum 14. Lebensjahr (Burmann in: Burmann/Heß/Hünermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl. 2024, § 3 StVO Rn. 51), Hilfsbedürftige und ältere Menschen ab ca. 65 Jahren (zu diesen zuletzt z.B. OLG Hamm, Beschl. v. 08.03.2022 - 9 U 157/21 - NJW-RR 2022, 1041; OLG Saarbrücken, Urt. v. 26.05.2023 - 3 U 4/23 - NJW-RR 2023, 1140; KG, Beschl. v. 07. 09.2023 - 22 U 61/22). Die ihnen gegenüber erforderliche besondere Sorgfaltspflicht setzt allerdings neben ihrer Erkennbarkeit deren Verhalten voraus, aus dem sich aus Sicht des Kraftfahrers konkrete Anhaltspunkte für eine gefahrerhöhende Situation ergeben (Lang, jurisPR-VerkR 19/2021 Anm. 2; Burmann in: Burmann/Heß/Hünermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl. 2024, § 3 StVO Rn. 53 f.). Speziell bei jüngeren Kindern wird das im Straßenverkehr regelmäßig zu bejahen sein, bei ihnen muss immer mit einem unbesonnenen Verhalten gerechnet werden (BGH, Urt. 19.04.1994 - VI ZR 219/93 - VersR 1994, 739).
- Der zwölfjährige Kläger hat mit seinem unvorsichtigen Überqueren der Straße objektiv zwar gegen § 25 Abs. 3 StVO verstoßen. Voraussetzung für eine (Mit-)Haftung von Kindern dieses Alters ist jedoch gemäß § 828 Abs. 3 BGB die Einsichtsfähigkeit in die Tragweite ihres Verhaltens. Das OLG Hamm musste das vorliegend aufgrund der nur vom Beklagten eingelegten Berufung nicht entscheiden, lässt aber eine deutliche Tendenz einer Bejahung bei dem Kläger erkennen. Zwar sind in dem Alter grundsätzlich die noch vorhandenen kindlichen Defizite im motorisierten Straßenverkehr zu berücksichtigen, die sich nicht „auf Knopfdruck“ mit Erreichung der Altersgrenze des § 828 Abs. 2 BGB von zehn Jahren, sondern erst mit zunehmender Reife des Kindes abbauen (zuletzt z.B. OLG Köln, Urt. v. 27.09.2018 - 28 U 16/18 - NJW-RR 2019, 546; OLG Zweibrücken, Urt. v. 13.11.2019 - 1 U 153/14; OLG Celle, Urt. v. 19.05.2021 - 14 U 129/20 - NJW 2021, 2124). Realisieren sich diese in der konkreten Unfallsituation, ist der Pflichtenverstoß des Kindes im Regelfall haftungsrechtlich niedriger zu bewerten als das gleiche Verhalten eines Erwachsenen (z.B. BGH, Beschl. v. 30.05.2006 - VI ZR 184/05; OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023 - 14 U 157/22 - RuS 2024, 132; OLG Celle, Urt. v. 19.05.2021 - 14 U 129/20 - NJW 2021, 2124). Eine solche typisch kindliche Überforderung war vorliegend allerdings nicht gegeben, da bei Zwölfjährigen davon auszugehen ist, dass sie die wichtigsten Grundregeln des Straßenverkehrs, u.a. aufgrund des schulischen Verkehrsunterrichtes, verstehen und befolgen (vgl. BGH, Urt. v. 01.07.1997 - VI ZR 205/96 - NJW 1997, 2756; OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.07.2022 - 12 U 203/21 - NZV 2023, 227; OLG München, Urt. v. 25.11.2020 - 10 U 2847/20; OLG Celle, Urt. 05.06.2018 - 14 U 5/18 - RuS 2019, 165). Zu diesen Essentialia gehört auch, die Straße nur unter Beachtung des weiteren Verkehrs zu überqueren. Vor dem Hintergrund ist die vom Landgericht und tendenziell vom Oberlandesgericht bejahte Mithaftung des Jungen nicht wegen fehlender Einsichtsfähigkeit ausgeschlossen.
Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge wiegt der Pflichtenverstoß des PKW-Fahrers speziell gegen § 3 Abs. 2a StVO deutlich schwerer. Auf der anderen Seite ist die unvorsichtige Straßenüberquerung des Kindes trotz des zu berücksichtigenden noch jungen Alters doch so gewichtig, dass es nicht ganz hinter dem Verschulden des Autofahrers zurücktritt. Insgesamt ist somit eine überwiegende Haftung des PKW-Fahrers von 70% vorliegend sachgerecht.
2. Die Entscheidung fügt sich nahtlos in die auf einer Linie liegende weitere obergerichtliche Rechtsprechung zu der Thematik ein. Deren teilweise nicht identische Haftungsquoten ergeben sich dabei aus den Gegebenheiten im jeweiligen Einzelfall.
Nachfolgend hierzu ein beispielhafter kurzer Überblick:
- OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.07.2022 - 12 U 203/21 - NZV 2023, 227: 80%-Haftung eines LKW-Fahrers in einem ähnlichen Fall nach einem Unfall mit der zwölfjährigen Klägerin. Diese war aus dem mit Warnblinkanlage an der Haltestelle stehenden Bus ausgestiegen und betrat, hinter dem Bus hervortretend, die Straße. Sie trug einen Kopfhörer und hielt ihr Handy in der Hand. Sie wurde von dem aus der Gegenrichtung kommenden beklagten LKW erfasst, der bei erlaubten 60 km/h mit einer Geschwindigkeit von 62 km/h fuhr. Ohne auf § 3 Abs. 2a StVO einzugehen, begründete der Senat das Ergebnis überzeugend mit einem massiven Verstoß des LKW-Fahrers gegen § 20 Abs. 4 StVO. Er hätte den Bus nur besonders vorsichtig in Schrittgeschwindigkeit passieren dürfen, die gefahrenen 62 km/h waren in der Situation deutlich zu schnell. Die Klägerin trifft eine Mithaftung von 20%, da in dem Alter die Einsichtsfähigkeit i.S.d. § 828 Abs. 3 BGB besteht, die Straße nicht unvorsichtig zu überqueren.
- OLG Celle, Urt. v. 19.05.2021 - 14 U 129/20 - NJW 2021, 2124 m. Anm. Lang, jurisPR-VerkR 19/2021 Anm. 2: 100%-Haftung eines PKW-Fahrers nach Kollision mit einer Elfjährigen um 8.00 Uhr in Schulnähe. Sie befand sich zusammen mit vier anderen Kindern auf dem Weg zur Schule. Nach dem Aussteigen aus dem Bus überquerte sie die Straße als letzte der Gruppe. Der ortskundige Beklagte fuhr trotz der gut erkennbaren Kinder bei grundsätzlich erlaubten 50 km/h mit 55 km/h. Das Oberlandesgericht hat insbesondere aufgrund der in der Situation deutlich überhöhten Geschwindigkeit richtigerweise einen Verstoß des Beklagten gegen § 3 Abs. 2a StVO gesehen. Eine Mithaftung des Mädchens hat es verneint, da sich in seinem Bemühen, an den anderen Kinder „dranbleiben“ zu wollen, ein typisch kindliches Gruppenverhalten realisiert hat.
- OLG Schleswig, Beschl. v. 25.03.2019 - 7 U 180/18 m. Anm. Lang, jurisPR-VerkR 2/2020 Anm. 3: 75%ige Haftung eines Taxifahrers, der den elfjährigen Kläger erfasste, der mit weiteren Kindern wild auf einem kombinierten Rad-/Fußweg herumtollte. Beim Versuch, sich gegenseitig Laub ins Sweatshirt zu stecken, geriet der Junge auf die Fahrbahn. Obwohl die Kinder für den Autofahrer schon aus größerer Entfernung zu sehen waren, reduzierte er nicht die Geschwindigkeit seines PKWs, was richtigerweise einen Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO bedeutete. Das Kind traf dabei eine Mithaftung, da es sich in dem Alter bewusst sein musste, dass kombinierte Rad-/Fußgängerwege kein Spielplatz sind und es zudem zuvor mehrfache Ermahnungen seiner Mutter nicht beachtet hatte.
- OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023 - 14 U 157/22 - RuS 2024, 132 m. Anm. Kemperdiek, jurisPR-VerkR 10/2024 Anm. 1: 2/3-Haftung eines unvorsichtig vom Radweg auf die Straße einfahrenden Mountainbikefahrers, der mit einem ordnungsgemäß fahrenden Autofahrer kollidierte. Das Oberlandesgericht hat in der Situation einen Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO des Beklagten zutreffend verneint, da es keine Anhaltspunkte für ein anstehendes kindliches Fehlverhalten gab, auf das er hätte reagieren müssen. Die Einsichtsfähigkeit des Kindes in derart elementare Verkehrsregeln nach § 828 Abs. 3 BGB war gegeben. Da ein Verstoß von Kindern des Alters aber regelmäßig niedriger zu bewerten ist als von Erwachsenen, tritt die Betriebsgefahr des Autofahrers nicht völlig hinter dem Verschulden des Kindes zurück.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Diese Entscheidung ist ein weiterer Mosaikstein in der dezidierten Rechtsprechung zu den erhöhten Sorgfaltspflichten von Fahrzeugführern gegenüber Kindern, zugleich aber auch zu deren (Mit-)Haftung für eigenes Fehlverhalten. Die dabei geltenden Grundsätze lauten:
- Der Fahrzeugführer kann sich bei Kindern nicht grundsätzlich auf Einhaltung wesentlicher Verkehrsregeln verlassen. Deswegen muss er sich ihnen gegenüber besonders vorsichtig verhalten.
- Ein Verstoß des Fahrers gegen § 3 Abs. 2a StVO setzt jedoch die Erkennbarkeit des Kindes und konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Gefahrensituation voraus.
- Bei einem Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO haftet der Fahrzeugführer in der Regel (weit) überwiegend bzw. in vollem Umfang.
- Die (Mit-)Haftung von Kindern ist abhängig von der Abwägung zwischen deren Alter bzw. Reifegrad und der Schwere des begangenen Pflichtenverstoßes, insbesondere ob sich dabei noch vorhandene kindliche Defizite realisiert haben.
- Eine volle Haftung von knapp über zehnjährigen Kindern setzt ihren sehr schweren Verstoß gegen Verkehrsregeln voraus, wobei von der Kenntnis und der Beherzigung der wichtigsten Grundregeln auszugehen ist.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
1. Die Aufrechnung des Haftpflichtversicherers mit Aufwendungen für den Kaskoschaden des dort Versicherten erst im Berufungsverfahren war nach § 533 ZPO unzulässig, da der Gegner nicht zugestimmt hatte und es sich um einen gegenüber der 1. Instanz neuen Streitstoff handelte. Nicht eingehen musste das OLG Hamm deswegen darauf, ob eine solche Aufrechnung in der Situation grundsätzlich möglich ist. Die Frage ist zu bejahen, auch wenn es sich um zwei unterschiedliche Versicherungen handelt. Der Kaskoversicherer kann seinen Regressanspruch aus § 86 Abs. 1 VVG aus dem gleichen Unfallereignis auf den Haftpflichtversicherer übertragen, weswegen dessen Aufrechnung insbesondere § 121 VVG nicht entgegensteht (Jahnke in: Stiefel/Maier, Kraftfahrtversicherung, 19. Aufl. 2017, § 121 VVG Rn. 4; Jacobsen in: Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrtversicherung, 3. Aufl. 2009, § 115 VVG Rn. 15).
2. Zutreffend hat das OLG Hamm dem „Feststeller“ auf Erstattung zukünftiger Schäden stattgegeben. Hieran sind nach der Rechtsprechung nur geringe Anforderungen zu stellen, schon die Möglichkeit von späteren Schäden reicht aus (std. Rspr., z.B. BGH, Urt. v. 10.07.2018 - VI ZR 259/15 - VersR 2018, 1462; BGH, Urt. v. 17.10.2017 - VI ZR 423/16 - BGHZ 216, 149). Das ist vorliegend angesichts des noch nicht abgeschlossenen Heilverlaufes und der sich konkret abzeichnenden kosmetischen Operation problemlos der Fall.



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