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Nr: NJRE001583662


FG Münster 4. Senat, Urteil vom 14.Juni 2024 , Az: 4 K 2351/23

(Verfahrensrecht - Zur Ermessensausübung bei der Festsetzung eines Verspätungszuschlags nach § 152 Abs. 1 AO n.F., wenn eine ca. sieben Monate verspätet abgegebene Einkommensteuererklärung zu einer Steuererstattung führt)


Langtext

Tenor

Der Bescheid über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2020 vom 24.05.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.10.2023 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.


Tatbestand

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2020.

Der Kläger war im Jahr 2019 bei zwei Arbeitgebern nichtselbständig beschäftigt. Für die Beschäftigung bei der X GmbH & Co. KG erfolgte der Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse I und für die andere Beschäftigung nach der Steuerklasse VI. Die Beschäftigung bei der X GmbH & Co. KG begann am 01.05.2018 und endete zum 31.12.2019 (Bl. 31 GA). Das andere Beschäftigungsverhältnis bestand im Jahr 2020 fort.

Im Rahmen der Entgeltabrechnung für Januar 2020 berücksichtigte die X GmbH & Co. KG für das bereits beendete Beschäftigungsverhältnis einen geldwerten Vorteil für die PKW-Nutzung sowie eine Korrektur für Dezember 2019 (Bl. 33 GA). In der Lohnsteuerbescheinigung für 2020 waren ein Bruttoarbeitslohn in Höhe von 528,42 EUR sowie einbehaltene Lohnsteuer in Höhe von 30 EUR ausgewiesen (Bl. 29 GA).

Die Einkommensteuererklärung für 2019 und 2020 reichte die hiesige Prozessbevollmächtigte für den Kläger am 29.03.2023 elektronisch bei dem Beklagten ein. Danach ergaben sich Bruttoarbeitslöhne für 2019 in Höhe von 53.897 EUR (Steuerklasse I) und 11.792 EUR (Steuerklasse VI) und für 2020 in Höhe von 528 EUR (Lohnsteuerklasse I) und 86.359 EUR (Lohnsteuerklasse VI). Auf sämtliche Löhne war Lohnsteuer einbehalten worden.

Mit Bescheid vom 27.04.2023 setzte der Beklagte die Einkommensteuer für 2019 in Höhe von 14.926 EUR fest. Unter Berücksichtigung der gezahlten Lohnsteuer ergab sich eine nachzuzahlende Einkommensteuer in Höhe von 887 EUR. Der Beklagte setzte einen Verspätungszuschlag in Höhe von 475 EUR fest (Bl. 4 ff ESt-Akte). Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Bl. 45 ff ESt-Akte). Eine Klage wurde nicht erhoben.

Mit Bescheid vom 24.05.2023 setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2020 in Höhe von 23.243 EUR fest und berücksichtigte dabei erklärungsgemäß Bruttoarbeitslöhne in Höhe von insgesamt 86.887 EUR. Unter Anrechnung der gezahlten Lohnsteuer in Höhe von 32.052 EUR ergab sich zugunsten des Klägers eine zu erstattende Einkommen-steuer in Höhe von 8.809 EUR und ein zu erstattender Solidaritätszuschlag in Höhe von 484,41 EUR. Die Erstattungszinsen nach § 233a der Abgabenordnung – AO – betrugen 93 EUR. Der Beklagte setzte einen Verspätungszuschlag in Höhe von 175 EUR fest und führte zur Begründung an, dass die Steuererklärung erst am 29.03.2023 und damit nach Ablauf der Abgabefrist (31.08.2022) abgegeben worden sei (Bl. 18 ff ESt-Akte).

Mit dem Einspruch machte die Prozessbevollmächtigte für den Kläger geltend, dass es wegen Arbeitsüberlastung nicht möglich gewesen sei, die Steuererklärung 2020 bis zum 31.08.2022 zu erstellen. Die Arbeitsüberlastung resultiere aus der Bearbeitung von Corona-Hilfsanträgen, den zahlreichen Zusatzaufgaben, welche von den steuerberatenden Berufsgruppen zu erfüllen seien, zahlreichen Gesetzesänderungen sowie ihrer unzureichenden Umsetzung durch die Finanzverwaltung und aus der Bearbeitung der Grundsteuererklärungen (Bl. 20 ESt-Akte).

Die Prozessbevollmächtigte beantragte zugleich rückwirkend Fristverlängerung für die Einkommensteuererklärung 2020 (Bl. 20 ESt-Akte). Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 21.07.2023 ab und führte an, dass eine Fristverlängerung über den 31.08.2022 hinaus nach § 109 Abs. 2 AO i.V.m. Artikel 97 § 36 Abs. 3 Nr. 1 und 2 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung – EGAO – nur möglich sei, wenn der Steuerpflichtige oder sein Bevollmächtigter ohne Verschulden verhindert sei, die Frist einzuhalten. Die Arbeitsüberlastung von Angehörigen der steuerberatenden Berufe rechtfertige nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine Fristverlängerung. Mit der bis zum 31.08.2022 verlängerten Frist seien die Mehrbelastungen durch die Corona-Pandemie bereits berücksichtigt worden. Ein besonderer Ausnahmefall sei nicht gegeben (Bl. 23 ESt-Akte). Den hiergegen gerichteten Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 07.09.2023 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er an, dass die Entscheidung über einen Fristverlängerungsantrag nach § 109 AO eine Ermessensentscheidung sei. Fristverlängerungen dürften nicht dem Zweck der jeweiligen Frist zuwiderlaufen. Abzuwägen seien die persönlichen Interessen des Steuerpflichtigen mit dem öffentlichen Interesse an einer ordnungsgemäßen und gleichmäßigen Besteuerung. Durch das Vierte Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie sei die Abgabefrist bereits um weitere sechs Monate bis zum 31.08.2022 verlängert worden. Eine darüber hinausgehende Fristverlängerung sei nur dann zu gewähren, wenn ein besonders gelagerter Ausnahmefall substantiiert dargelegt werde. Die vom Kläger angeführten Gründe rechtfertigten keine Fristverlängerung (Bl. 37 ESt-Akte). Eine Klage wurde hiergegen nicht erhoben.

Mit Schreiben vom 11.09.2023 wandte der Kläger gegen den Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 2020 ergänzend ein, dass er seine Steuererklärung erstmalig und lediglich geringfügig verspätet abgegeben habe. Auch habe die Veranlagung zu einer Erstattung geführt, so dass ein Verspätungszuschlag nach § 152 Abs. 3 Nr. 3 AO nur unter strengen Voraussetzungen habe festgesetzt werden dürfen (Bl. 41 ESt-Akte).

Den Einspruch gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2020 wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 26.10.2023 als unbegründet zurück. Er führte aus, dass der Kläger zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung verpflichtet gewesen sei, da aus seinen Beschäftigungsverhältnissen Lohnsteuer nach den Steuerklassen I und VI einbehalten worden sei. Die Erklärung sei erst am 29.03.2023 und damit nach Ablauf der Frist (31.08.2022) abgegeben und der Antrag auf Fristverlängerung sei bestandskräftig abgelehnt worden. Es sei der Mindestverspätungszuschlag von 25 EUR für sieben angefangene Monate der Verspätung festgesetzt worden. Nach § 152 Abs. 1 AO könne ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden. Von der Festsetzung sei abzusehen, wenn der Erklärungspflichtige glaubhaft mache, dass die Verspätung entschuldbar sei. Hier sei die verspätete Abgabe – wie in der Einspruchsentscheidung über die Ablehnung der Fristverlängerung dargelegt – nicht entschuldbar. Soweit bei der Berechnung des Verspätungszuschlags für jeden Monat der Verspätung ein Betrag von 25 EUR angesetzt worden sei (25 EUR x 7 = 175 EUR), so entspreche dies den Vorgaben des § 152 Abs. 5 AO (Bl. 49 ff ESt-Akte).

Mit Schreiben vom 07.11.2023 legte der Kläger Dienst- und Sachaufsichtsbeschwerde ein und führte unter anderem an, dass mit der Festsetzung eines Verspätungszuschlags in einem Erstattungsfall bewusst gegen die Abgabenordnung verstoßen worden sei (Bl. 51 ESt-Akte).

Mit Schreiben vom 13.11.2023 teilte die Dienststellenleitung des Beklagten dem Kläger mit, dass keine Maßnahmen der Dienst- oder Sachaufsicht zu ergreifen seien. Mit der Einspruchsentscheidung vom 26.10.2023 sei nicht gegen die Abgabenordnung verstoßen worden. Bei der Festsetzung eines Verspätungszuschlags sei zwischen der Ermessensentscheidung nach § 152 Abs. 1 AO und der gebundenen Festsetzung nach § 152 Abs. 2 AO zu entscheiden. Die vom Kläger geltend gemachte Ausnahme für Erstattungsfälle (§ 152 Abs. 3 Nr. 3 AO) gelte nur für die zwingende Festsetzung nach § 152 Abs. 2 AO. Ein solcher Fall liege hier nicht vor, da die Erklärung sieben Monate – und damit weniger als 14 Monate – nach Fristablauf eingereicht worden sei. Es sei daher eine Ermessensentscheidung nach § 152 Abs. 1 AO zu treffen gewesen. Danach sei von der Festsetzung eines Verspätungszuschlags abzusehen, wenn der Erklärungspflichtige glaubhaft mache, dass die Verspätung entschuldbar sei. Bereits im Rahmen der Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag sei mit Schreiben vom 21.07.2023 dargelegt worden, dass hier keine Entschuldigungsgründe vorlägen. Dass auch in Erstattungsfällen ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden könne, ergebe sich im Umkehrschluss aus § 152 Abs. 3 Nr. 3 AO, welcher nur eine gebundene Festsetzung ausschließe (Bl. 53 ESt-Akte).

Mit Schreiben vom 22.11.2023 führte der Beklagte zu einem – hier nicht streitbefangenen – Antrag des Klägers auf schlichte Änderung aus, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 152 AO die Ermessenskriterien habe einschränken wollen. Die Neuregelung kenne nur noch ein Ermessenskriterium, nämlich die Entschuldbarkeit der Fristversäumnis (Bl. 81 ESt-Akte).

Mit der gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags gerichteten Klage macht der Kläger geltend, dass er bis zum 09.03.2023 steuerlich nicht beraten gewesen sei. Da sein zweites Arbeitsverhältnis nur bis Ende 2019 bestanden habe, habe er davon ausgehen können, dass er für 2020 nicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung verpflichtet gewesen sei. Auch habe sich aus der Steuerfestsetzung eine Erstattung von insgesamt über 9.000 EUR ergeben. Die verspätete Abgabe sei damit bereits nach § 152 Abs. 1 Satz 2 AO entschuldbar. Jedenfalls treffe den Beklagten – unter Berücksichtigung des Urteils des Finanzgerichts Düsseldorf vom 03.11.2021 4 K 135/20 AO, EFG 2022, 13 – ein Mitverschulden, da er nicht auf die Verpflichtung zur Abgabe einer Erklärung hingewiesen habe.

Zudem habe der Beklagte sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Die bisherigen Ermessenskriterien nach § 152 Abs. 2 Satz 2 AO a.F. seien auch im Rahmen des § 152 Abs. 1 AO n.F. zu berücksichtigen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung seien alle für den Sinn und Zweck der Vorschrift maßgeblichen Kriterien wie Dauer der Verspätung, Verschulden und Höhe des Steuerausfalls gegeneinander abzuwägen. Auch sei die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – BFH –, wonach sich das Finanzamt nicht nur auf ein Kriterium stützen dürfe, weiterhin anzuwenden. In Erstattungsfällen könne ein Verspätungszuschlag – auch wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – nur bei Vorliegen besonderer Gründe festgesetzt werden. Insbesondere sei ein außergewöhnlich grobes Verschulden erforderlich, was z.B. bei jahrelangen erheblichen Fristüberschreitungen angenommen werden könne. Dies habe der Beklagte verkannt. Insbesondere habe er keine Erwägungen dazu angestellt, dass er, der Kläger, keine Vorteile aus der verspäteten Steuerfestsetzung erzielt habe. Auch sei unberücksichtigt geblieben, dass er seine Einkommensteuererklärungen bis 2022 zeitgleich abgegeben habe und damit der Präventionszweck des Verspätungszuschlags in den Hintergrund trete.

Da § 152 Abs. 5 Satz 2 AO feste Vorgaben zur Höhe des Verspätungszuschlags vorsehe, komme der Ausübung des Entschließungsermessens gerade in Erstattungsfällen eine besondere Bedeutung zu.

Zu berücksichtigen sei auch, dass die auf der Homepage des Bundesministeriums der Finanzen veröffentlichten FAQ "Corona" (Steuern; Stand vom 14.12.2021) unter II.7 den Hinweis enthalten, dass das zuständige Finanzamt unter Berücksichtigung der derzeitigen Situation aufgrund der Corona-Krise im Einzelfall prüfen werde, ob von der Festsetzung eines Verspätungszuschlags bei einer nicht fristgerecht eingereichten Steuererklärung abgesehen werden könne. Hierzu sei ein Verfahren beim BFH anhängig (X R 7/23).

Soweit der Beklagte anführe, dass er, der Kläger, einen wirtschaftlichen Vorteil durch die Festsetzung von Erstattungszinsen erzielt habe, so bleibe dabei unberücksichtigt, dass die Inflationsrate im Oktober 2022 10,4 % betragen habe und im Zinszeitraum aus Festgeldanlagen Renditen zwischen 1,86 und 3,59 % zu erzielen gewesen seien. Mit Blick auf die Höhe der Erstattungszinsen in Höhe von 1,8 % sei damit eher ein Zinsnachteil eingetreten.

Gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2019 sei nicht geklagt worden, weil die Festsetzung dort zu einer Nachzahlung geführt habe und daher ein Verspätungszuschlag nach § 152 Abs. 2 AO zwingend festzusetzen gewesen sei.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2020 vom 24.05.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.10.2023 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte trägt vor, dass es nach der hier einschlägigen Regelung in § 152 Abs. 1 AO nur auf die verspätete Abgabe und das Verschulden für die Verspätung ankomme. Indem er hierauf in der Einspruchsentscheidung abgestellt habe, habe er sein Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Andere Ermessenskriterien seien – wie das Hessische Finanzgericht in seinem Urteil vom 19.02.2021 9 K 939/20, juris bestätigt habe – in das Gesetz nicht aufgenommen worden. Soweit der Kläger vertrete, dass der Katalog der Ermessenskriterien nach § 152 Abs. 2 AO a.F. anzuwenden sei, so widerspreche dies dem Vereinfachungszweck der Neuregelung.

Sollten die Kriterien über die allgemeine Regelung in § 5 AO eine Rolle spielen, so sei im Rahmen der Gewichtung zu berücksichtigen, dass die Dauer der Fristüberschreitung sieben Monate betrage und dass für Steuerberater bereits die gesetzliche Fristverlängerung bis zum 31.08.2022 gelte. Der Höhe des Zahlungsanspruchs werde keine große Bedeutung beigemessen, da der Gesetzgeber die Festsetzung eines Verspätungszuschlags auch in Erstattungsfällen zulasse. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ergebe sich aus der Höhe der festgesetzten Steuer und der Höhe der Einkünfte. Wegen der noch nicht geklärten Verschuldensfrage sei der Kläger persönlich anzuhören. Die verspätete Abgabe habe zu einem wirtschaftlichen Vorteil in Form von Erstattungszinsen nach § 233a AO geführt. Wegen des repressiven Zwecks sei eine Festsetzung auch bei einer fristgerechten Abgabe der Folgeerklärung möglich.

Soweit der Kläger geltend mache, dass die verspätete Abgabe entschuldbar sei, so sei zu berücksichtigen, dass er seinen Sachvortrag geändert habe. Zunächst sei geltend gemacht worden, dass seine Berater die Erklärung wegen Arbeitsüberlastung nicht rechtzeitig hätten fertigstellen können. Im Klageverfahren werde dagegen vorgetragen, dass die Mandatierung erst am 09.03.2023 erfolgt sei. In diesem Fall sei ein Verschulden darin zu sehen, dass sich der Kläger über seine steuerlichen Pflichten nicht (rechtzeitig) informiert habe. Wenn der Kläger von einem entschuldbaren Rechtsirrtum ausgehe, so erschließe sich nicht, warum er nicht auch gegen den Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 2019 geklagt habe.

Aus den auf der Homepage des Bundesministeriums der Finanzen veröffentlichten FAQ ergebe sich jedenfalls nicht, dass jede Fristversäumnis entschuldbar sei.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.


Entscheidungsgründe

A. Das Gericht kann im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).

B. Die Klage ist begründet. Der Bescheid über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2020 vom 24.05.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.10.2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Beklagte hat das ihm nach § 152 Abs. 1 AO in der Fassung vom 18.07.2016 zustehende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt (§ 102 FGO).

Gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht
oder nicht fristgemäß nachkommt, kann nach § 152 Abs. 1 Satz 1 AO ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden. Von der Festsetzung eines Verspätungszuschlags ist abzusehen, wenn der Erklärungspflichtige glaubhaft macht, dass die Verspätung entschuldbar ist; das Verschulden eines Vertreters oder eines Erfüllungsgehilfen ist dem Erklärungspflichtigen zuzurechnen (§ 152 Abs. 1 Satz 2 AO).

Nach § 152 Abs. 2 Nr. 1 AO (i.V.m. Art. 97 § 36 Abs. 3 Nr. 5 Buchst. a EGAO) ist ein Verspätungszuschlag festzusetzen, wenn eine Steuererklärung, die sich auf ein Kalenderjahr bezieht, nicht binnen 20 Monaten nach Ablauf des Kalenderjahrs abgegeben wurde. Nach der Gesetzesbegründung besteht bei einer gebundenen Festsetzung nach § 152 Abs. 2 AO keine Möglichkeit der Entschuldigung nach § 152 Abs. 1 Satz 2 AO, da § 152 Abs. 2 AO gegenüber § 152 Abs. 1 AO eine selbständige Sonderregelung trifft (BT-Drucks. 18/7457, Seite 80).

Die gebundene Festsetzung nach § 152 Abs. 2 AO gilt wiederum in den Fällen des § 152 Abs. 3 AO nicht – unter anderem dann, wenn die festgesetzte Steuer die Summe der festgesetzten Vorauszahlungen und der anzurechnenden Steuerabzugsbeträge nicht übersteigt (§ 152 Abs. 3 Nr. 3 AO).

I. Vorliegend richtet sich die Festsetzung des Verspätungszuschlags nach der Ermessensvorschrift in § 152 Abs. 1 AO. Ein Fall der gebundenen Festsetzung nach § 152 Abs. 2 AO liegt nicht vor, da die festgesetzte Einkommensteuer 2020 die Summe der festgesetzten Vorauszahlungen und der anzurechnenden Steuerabzugsbeträge nicht übersteigt (§ 152 Abs. 3 Nr. 3 AO). Die Einkommensteuerfestsetzung für 2020 durch Bescheid vom 24.05.2023 hat zu einer Erstattung geführt (Einkommensteuer in Höhe von 8.634 EUR und Solidaritätszuschlag in Höhe von 484,41 EUR).

II. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 152 Abs. 1 Satz 1 AO liegen vor. Der Kläger ist seiner Verpflichtung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung für 2020 nicht fristgemäß nachgekommen.

1. Die Verpflichtung zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung für 2020 folgt aus § 56 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung –EStDV–.

a) Danach haben unbeschränkt Steuerpflichtige eine jährliche Einkommensteuererklärung für das abgelaufene Kalenderjahr (Veranlagungszeitraum) abzugeben, wenn in dem Gesamtbetrag der Einkünfte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, enthalten sind und eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 und 7 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes – EStG – in Betracht kommt.

Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, so wird nach § 46 Abs. 2 Nr. 2 EStG eine Veranlagung durchgeführt, wenn der Steuerpflichtige nebeneinander von mehreren Arbeitgebern Arbeitslohn bezogen hat. Der Arbeitslohn muss nicht aus gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen bezogen werden. Ausreichend ist auch, wenn die Einnahmen auf einer früheren Tätigkeit beruhen, die nun zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit führen (Tillmann in Herrmann/Heuer/Raupach, § 46 EStG Rn. 32).

b) Nach dieser Maßgabe war der Kläger zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung für 2020 verpflichtet, da er im Januar 2020 Arbeitslohn von zwei Arbeitgebern erhalten hat und hierfür jeweils Lohnsteuer einbehalten worden ist. Unerheblich ist, dass das Beschäftigungsverhältnis mit der X GmbH & Co. KG nur bis zum 31.12.2019 bestand, da nach den dargestellten Grundsätzen auch Lohnzahlungen für bereits beendete Beschäftigungen erfasst sind.

2. Der Kläger hat seine Einkommensteuererklärung für 2020 nicht fristgemäß eingereicht.

Soweit die Steuergesetze nichts anderes bestimmen, sind Steuererklärungen, die sich auf den Besteuerungszeitraum 2020 beziehen, spätestens zehn Monate nach Ablauf des Kalenderjahres abzugeben (§ 149 Abs. 2 Satz 1 AO i.V.m. Art. 97 § 36 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. a EGAO). Sofern Personen, Gesellschaften, Verbände, Vereinigungen, Behörden oder Körperschaften im Sinne der §§ 3 und 4 des Steuerberatungsgesetzes mit der Erstellung von Einkommensteuererklärungen beauftragt sind, so sind diese Erklärungen spätestens bis zum 31.08.2022 abzugeben (§ 149 Abs. 3 Nr. 1 AO i.V.m. Art. 97 § 36 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a EGAO).

Vorliegend hat der steuerlich beratene Kläger seine Einkommensteuererklärung für 2020 am 29.03.2023 und damit nach dem 31.08.2022 abgegeben.

III. Die Festsetzung des Verspätungszuschlags ist nicht nach § 152 Abs. 1 Satz 2 AO ausgeschlossen.

1. Nach dieser Vorschrift ist von der Festsetzung eines Verspätungszuschlags abzusehen, wenn der Erklärungspflichtige glaubhaft macht, dass die Verspätung entschuldbar ist; das Verschulden eines Vertreters oder eines Erfüllungsgehilfen ist dem Erklärungspflichtigen zuzurechnen.

Nach der Begründung des Gesetzentwurfs entspricht diese Regelung weitgehend dem bisherigen Recht (BT-Drucks. 18/7457, Seite 79). Danach entspricht der Verschuldensbegriff demjenigen des § 110 Abs. 1 AO. Der Steuerpflichtige handelt unentschuldbar, der diejenige Sorgfalt nicht anwendet, die ihm auf Grund der individuellen Umstände des Einzelfalles und seiner persönlichen Verhältnisse zuzumuten ist (sog. „individueller Verschuldensmaßstab“, vgl. BFH-Urteil vom 11.12.1991 I R 73/90, BFH/NV 1992, 577).

Arbeitsüberlastung und Personalengpässe eines Steuerberaters können eine Fristversäumnis nur in Ausnahmefällen entschuldigen (BFH-Urteil vom 29.09.1989 III R 159/86, BFH/NV 1990, 615). Denkbar ist dies bei einer unvorhersehbaren und unabwendbaren Arbeitsüberlastung (BFH-Urteil vom 29.03.2007 IX R 9/05, BFH/NV 2007, 1617). Hätten die Arbeitsengpässe durch organisatorische Maßnahmen im Büro der Bevollmächtigten ausgeglichen werden können, so spricht dies für ein Verschulden (BFH-Urteil vom 20.09.1990 V R 85/85, BFHE 161, 492, BStBl II 1991, 2). Entschuldbar kann auch eine Fristüberschreitung sein, die auf organisatorisch-wirtschaftliche Umstände der Corona-Pandemie zurückzuführen ist (Matzen/Westermann, Ubg 2020, 269, 270; Seer in Tipke/Kruse, § 152 AO Rn. 18; Schober in Gosch, § 152 AO Rn. 25).

Auch ein unvermeidbarer Rechtsirrtum über die Abgabepflicht kann einen Entschuldigungsgrund darstellen (Schober in Gosch, § 152 AO Rn. 25). Die Festsetzung eines Verspätungszuschlags soll zudem nach dem Rechtsgedanken des § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuches ausgeschlossen sein, wenn es das Finanzamt über Jahre schuldhaft unterlassen hat, den Steuerpflichtigen zur Erfüllung seiner Erklärungspflichten zu veranlassen (Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 03.11.2021 4 K 135/20 AO, EFG 2022, 13).

Nach der Neuregelung in § 152 Abs. 1 Satz 2 AO hat der Erklärungspflichtige glaubhaft zu machen, dass die Verspätung entschuldbar ist. Für die Finanzbehörden besteht insoweit keine Amtsermittlungspflicht (BT-Drucks. 18/7457, Seite 79). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache dann, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für sie spricht (BFH-Urteil vom 25.02.1988 IV R 198/85, BFH/NV 1988, 549). Wer eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, kann sich aller Beweismittel bedienen, auch zur Versicherung an Eides statt zugelassen werden. Eine Beweisaufnahme, die nicht sofort erfolgen kann, ist unstatthaft (§ 294 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung – ZPO –). Macht der Steuerpflichtige keine Entschuldigungsgründe glaubhaft, so wird das Verschulden gesetzlich vermutet (Haselmann in Koenig, § 152 AO Rn. 43; Schober in Gosch, § 152 AO Rn. 25; Seer in Tipke/Kruse, § 152 AO Rn. 16).

2. Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, dass die Verspätung entschuldbar ist.

a) Soweit der Kläger im vorgerichtlichen Verfahren geltend gemacht hat, dass eine rechtzeitige Abgabe wegen der Arbeitsüberlastung seiner steuerlichen Berater nicht möglich gewesen sei, so ist dieser Vortrag – worauf der Beklagte zutreffend hinweist – bereits deshalb nicht glaubhaft, weil er im Widerspruch zum Vortrag im Klageverfahren steht, er sei bis zum 09.03.2023 steuerlich nicht beraten gewesen. Denn dieser Vortrag kann nur so verstanden werden, dass die Prozessbevollmächtigte erst im März 2023 mit der Erstellung der Einkommensteuererklärung für 2020 beauftragt worden ist. Die bereits vorher eingetretene Verzögerung kann sich damit nicht aus der Arbeitsüberlastung der Prozessbevollmächtigten ergeben. Gegen eine Arbeitsüberlastung spricht auch, dass die Prozessbevollmächtigte die Erklärung bereits am 29.03.2023 und damit knapp drei Wochen nach der mutmaßlichen Mandatierung am 09.03.2023 eingereicht hat.

b) Ein Entschuldigungsgrund ergibt sich auch nicht aus einem vermeidbaren Rechtsirrtum über die Erklärungspflicht. Der Kläger hat weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, aus welchen Gründen er zunächst davon ausgegangen sein mag, nicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung verpflichtet gewesen zu sein. Insbesondere ist nicht ersichtlich, ob und ggf. auf welche Weise sich der Kläger über seine steuerlichen Pflichten informiert hat. Hierzu hätte vor allem deshalb Anlass bestanden, weil der Kläger nicht nur im Januar 2020, sondern auch in 2019 Einkünfte aus zwei Arbeitsverhältnissen bezogen hat. Auch ist nicht ersichtlich, warum der Kläger trotz seines Rechtsirrtums im März 2023 einen Steuerberater mandatiert hat.

Entgegen der Auffassung des Klägers steht der Festsetzung des Verspätungszuschlags ein Mitverschulden des Beklagten nicht entgegen. Allein aus dem Umstand, dass dem Beklagten wegen der Lohnsteueranmeldungen bekannt gewesen sein mag, dass der Kläger Einkünfte aus zwei Beschäftigungsverhältnissen erzielt hat, folgt nach Auffassung des Senats kein für die Festsetzung des Verspätungszuschlags relevantes Mitverschulden. Anders als in dem vom Finanzgericht Düsseldorf zu entscheidenden Fall (Urteil vom 03.11.2021 4 K 135/20 AO, EFG 2022, 13) fehlt es hier schon an einem Verhalten, welches sich über mehrere Jahre erstreckt. Zudem knüpft die Erklärungspflicht bei mehreren Beschäftigungsverhältnissen nach § 56 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStDV gerade daran an, dass Lohnsteuer einbehalten worden ist. Das Gesetz regelt für diesen Fall eine Erklärungspflicht des Steuerpflichtigen und keine Hinweispflicht des Finanzamts.

c) Da im Rahmen einer Glaubhaftmachung nur präsente Beweismittel statthaft sind (§ 294 ZPO) und der Amtsermittlungsgrundsatz insofern nicht gilt, war das Gericht nicht gehalten, den Kläger persönlich anzuhören.

IV. Der Beklagte hat das ihm zustehende Entschließungsermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.

1. Nach § 152 Abs. 1 AO steht die Festsetzung eines Verspätungszuschlags im Ermessen der Finanzbehörde (vgl. BT-Drucks. 18/7457, Seite 51; Anwendungserlass zur AO - AEAO – zu § 152 Nr. 2).

Ist die Finanzbehörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Nach § 102 Satz 1 FGO ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob das Finanzamt den für die Ermessensausübung maßgeblichen Sachverhalt vollständig ermittelt hat, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind (sog. Ermessensüberschreitung), ob das Finanzamt von seinem Ermessen in einer dem Zweck der (Ermessens-)Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (sog. Ermessensfehlgebrauch) oder ein ihm zustehendes Ermessen nicht ausgeübt hat (sog. Ermessensunterschreitung), oder ob die Behörde die verfassungsrechtlichen Schranken der Ermessensbetätigung, insbesondere also den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, missachtet hat (BFH-Urteil vom 26.06.2014 IV R 17/14, BFH/NV 2014, 1507).

Für die gerichtliche Kontrolle ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zugrunde zu legen. Maßgeblicher Zeitpunkt ist regelmäßig der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung (BFH-Urteil vom 12.05.2016 II R 17/14, BFHE 253, 505). Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens lediglich ergänzen (§ 102 Satz 2 FGO).

2. § 152 Abs. 1 AO regelt nicht, welche Kriterien bei der Ausübung des Entschließungsermessens zu berücksichtigen sind. Aus der Begründung des Gesetzentwurfs ergibt sich lediglich, dass eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung nach § 5 AO zu treffen ist (BT-Drucks. 18/7457, Seite 51). Bei Nullfestsetzungen oder in Erstattungsfällen (§ 152 Abs. 3 Nr. 2 und 3 AO) soll die Festsetzung eines Verspätungszuschlags insbesondere dann ermessensgerecht sein, wenn der Erklärungspflichtige seine Steuererklärungspflichten in der Vergangenheit wiederholt verletzt hat (BT-Drucks. 18/8434, Seite 113; vgl. auch AEAO zu § 152 Nr. 2 Abs. 1 und Nr. 5.2).

Umstritten ist, ob und ggf. welche weiteren Ermessenskriterien die Finanzbehörde zu berücksichtigen hat.

Nach einer Entscheidung des Finanzgerichts des Landes Sachsen-Anhalt gelten die in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO a.F. genannten Ermessenskriterien (Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile, sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen) weiter. Auch soll die bisherige Rechtsprechung des BFH, wonach das Finanzamt alle maßgeblichen Kriterien gegeneinander abzuwägen habe (BFH-Urteile vom 14.06.2000 X R 56/98, BStBl II 2001, 60 und 18.08.1988 V R 19/83, BStBl II 1988, 929), weiterhin zu beachten sein. In Erstattungsfällen bedürfe es – auch mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – einer besonderen Prüfung und Begründung. So könne etwa bei erheblicher Fristüberschreitung oder schwerwiegendem Verschulden – insbesondere bei vorausgegangenen jahrelangen erheblichen Fristüberschreitungen – ein Verspätungszuschlag aus erzieherischen Gründen gerechtfertigt sein (Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 27.04.2023 4 K 394/21, EFG 2024, 257, Rev. eingelegt, Az. des BFH: V R 13/23).

Das Hessische Finanzgericht vertritt dagegen die Auffassung, dass in die Ermessensentscheidung nach § 152 Abs. 1 AO – jedenfalls bei Festsetzung des Mindestverspätungszuschlags von 25 EUR für jeden angefangenen Monat der Verspätung (§ 152 Abs. 5 Satz 2 AO) – nicht einfließen müsse, ob ein Steuerbescheid ein Guthaben oder einen Nachzahlungsbetrag aufweise (Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 19.02.2021 9 K 939/20, rkr., juris).

Das Finanzgericht Berlin-Brandenburg führt aus, dass nicht sämtliche in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO a.F. genannten Ermessenskriterien zu berücksichtigen seien (Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.04.2024 7 K 7123/23, juris). Zu würdigen seien allerdings die für den konkreten Sachverhalt bedeutsamen Tatsachen und damit ggf. auch die wirtschaftlichen Folgen, welche sich aus der Steuerfestsetzung (Erstattung oder Nachzahlung) und der Festsetzung des Verspätungszuschlags für den Steuerpflichtigen ergeben, sowie die Schwere des Fehlverhaltens (Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13.03.2024 7 K 7067/22, juris).

Die Fachliteratur geht zum Teil davon aus, dass auch nach neuem Recht die in § 152 Abs. 2 AO a.F. genannten Kriterien zu berücksichtigen seien (Haselmann in Koenig, § 152 AO Rn. 33). Teilweise wird unter Hinweis auf die Regelung zur Bemessung des Verspätungszuschlags in § 152 Abs. 8 Satz 2 AO einschränkend vertreten, dass nach der Neufassung nur noch die Kriterien „Dauer und Häufigkeit der Fristüberschreitung“ sowie „Höhe der Steuer“ sowie ggf. dazu zu bildende Unterkriterien maßgeblich seien. Insbesondere auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen komme es nicht mehr an (BeckOK AO/Rosenke, 28. Ed. 15.04.2024, AO § 152 Rn. 240 ff.). Dagegen wird eingewandt, dass der Gesetzgeber diese Kriterien lediglich für die Sonderfälle des § 152 Abs. 8 AO geregelt habe (Schober in Gosch, § 152 AO Rn. 23).

3. Nach Auffassung des Senats ergeben sich die zu berücksichtigenden Ermessenskriterien aus dem allgemeinen Grundsatz, wonach die Finanzbehörde das ihr eingeräumte Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise auszuüben hat (BFH-Urteil vom 20.05.2010 V R 42/08, BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955). Die zu berücksichtigenden Ermessenskriterien sind aus dem Zweck der Norm abzuleiten. Dabei hat die Finanzbehörde im Ergebnis insbesondere die in § 152 Abs. 8 Satz 2 AO genannten Kriterien in den Blick zu nehmen.

a) Der Verspätungszuschlag dient dazu, den rechtzeitigen Eingang der Steuererklärungen und damit auch die rechtzeitige Festsetzung und Entrichtung der Steuer sicherzustellen. Er hat repressiven und präventiven Charakter (BFH-Urteile vom 19.06.2001 X R 83/98, BFHE 195, 558, BStBl II 2001, 618 und vom 06.11.2012 VIII R 19/09, BFH/NV 2013, 502). Zudem dient der Verspätungszuschlag dem Ausgleich der aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile (BFH-Urteil vom 22.01.1993 III R 92/89, BFH/NV 1993, 455). Aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sich an dieser Zweckrichtung durch die Neuregelung etwas geändert haben könnte.

b) Aus dieser Zwecksetzung folgt, dass die Behörde bei der Ausübung ihres Entschließungsermessens einerseits in den Blick zu nehmen hat, welche Folgen sich aus der verspäteten Abgabe für das Veranlagungsverfahren und den Steuerpflichtigen ergeben. In diesem Zusammenhang kann insbesondere bedeutsam sein, ob die verspätete Abgabe zu einer Verzögerung des Veranlagungsverfahrens geführt hat und ob sich aus der Veranlagung eine Nullfestsetzung, Nachzahlung oder Erstattung ergibt (vgl. auch BT-Drucks. 18/8434, Seite 113; so auch Sächsisches Finanzgericht, Urteil vom 08.11.2023 8 K 682/23, juris, Rev. beim BFH anhängig unter XI R 1/24). Normativer Anknüpfungspunkt hierfür sind die Regelungen in § 152 Abs. 3 Nr. 2 und 3 AO, welche für Nullfestsetzungen und Erstattungsfälle eine gebundene Festsetzung ausschließen. Wenn der Gesetzgeber in diesen Fällen eine Ermessensentscheidung einfordert, ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Vorliegen einer Nullfestsetzung oder eines Erstattungsfalls um ermessensrelevante Kriterien handelt und dass in diesen Fällen – wie nach altem Recht – ein Verspätungszuschlag grundsätzlich nur bei erheblicher Fristüberschreitung oder schwerwiegendem Verschulden gerechtfertigt ist (BFH-Urteil vom 06.11.2012 VIII R 19/09, BFH/NV 2013, 502; BT-Drucks. 18/8434, Seite 113; vgl. auch AEAO zu § 152 Nr. 2 Abs. 1 und Nr. 5.2). Für die besondere Bedeutung einer Nullfestsetzung oder eines Erstattungsfalls bei der Ausübung des Entschließungsermessens spricht auch, dass § 152 Abs. 5 Satz 2 AO die Festsetzung eines Mindestverspätungszuschlags – von 25 EUR für jeden angefangenen Monat der eingetretenen Verspätung – vorsieht und damit das Vorliegen eines Erstattungsfalls bei der Bemessung des Verspätungszuschlags unberücksichtigt bleibt. Nicht zuletzt aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ist es daher angezeigt, die wirtschaftlichen Folgen jedenfalls im Rahmen des Entschließungsermessens zu berücksichtigen. Schließlich lässt sich auch der Regelung in § 152 Abs. 8 Satz 2 AO entnehmen, dass der „Höhe der Steuer“ Bedeutung zukommt.

Andererseits ist die Schwere des Pflichtverstoßes des Steuerpflichtigen und dabei insbesondere die Dauer und Häufigkeit der Fristüberschreitung in den Blick zu nehmen (so auch Sächsisches Finanzgericht, Urteil vom 08.11.2023 8 K 682/23, juris, Rev. eingelegt, Az. des BFH: XI R 1/24). Normativ ergibt sich dies aus § 152 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AO, wonach die gebundene Festsetzung von der Dauer der Fristüberschreitung abhängt. Auch bei der Bemessung der Höhe des Verspätungszuschlags sind die Dauer (§ 152 Abs. 5 Satz 1 und 2, Abs. 8 Satz 2 AO) und die Häufigkeit der Fristüberschreitung (§ 152 Abs. 8 Satz 2 AO) zu berücksichtigen.

Da demnach verschiedene Kriterien bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind, setzt die ermessensfehlerfreie Festsetzung eines Verspätungszuschlags auch nach der Neuregelung in § 152 Abs. 1 AO grundsätzlich voraus, dass die Finanzbehörde alle maßgeblichen Kriterien beachtet und gegeneinander abwägt (dazu BFH-Urteil vom 06.11.2012 VIII R 19/09, BFH/NV 2013, 502).

c) Der Auffassung des Beklagten, dass im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 152 Abs. 1 AO nur auf das Verschulden des Steuerpflichtigen abzustellen sei, kann nicht gefolgt werden. Es trifft zwar zu, dass die Entschuldigungsmöglichkeit nach § 152 Abs. 1 Satz 2 AO nur für Ermessensentscheidungen nach § 152 Abs. 1 AO und nicht für die obligatorische Festsetzung nach § 152 Abs. 2 AO gilt. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass es im Rahmen des Ermessens allein auf das Verschulden ankommt. Bereits aus der Begründung des Gesetzentwurfs ergibt sich, dass die Regelungen in § 152 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO weitgehend dem bisher geltenden Recht entsprechen (BT-Drucks. 18/7457, Seite 79). Da nach § 152 AO a.F. eine umfassende Ermessensabwägung durchzuführen war, kann demnach nichts anderes für die Neuregelung in § 152 Abs. 1 AO gelten. Für ein solches Verständnis spricht auch der Wortlaut und die Systematik der Neuregelung, welche die Festsetzung des Verspätungszuschlags in § 152 Abs. 1 Satz 1 AO zunächst uneingeschränkt in das Ermessen der Behörde stellt und sodann in § 152 Abs. 1 Satz 2 AO nur einen Fall regelt, in welchem die Festsetzung zwingend ausgeschlossen ist.

Auch die Literatur geht davon aus, dass die Finanzbehörde auch nach neuem Recht bei einer verschuldeten Verspätung zu dem Ergebnis kommen kann, dass der Gesetzeszweck keinen Zuschlag verlangt, etwa wenn wegen Wegfalls der Steuerpflicht auf künftiges Verhalten nicht mehr eingewirkt werden kann, wie bei einem vereinzelten, offenkundigen Versehen oder bei kurzer Fristüberschreitung (BeckOK AO/Rosenke, 28. Ed. 15.04.2024, AO § 152 Rn. 152; Seer in Tipke/Kruse, § 152 AO Rn. 22).

d) Der vom Senat vertretenen Auslegung des § 152 Abs. 1 AO steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung die Festsetzung von Verspätungszuschlägen vereinfachen wollte. Denn erstens wird dieser Vereinfachungszweck durch die – hier unstreitig nicht anwendbare – Regelung zur gebundenen Festsetzung in § 152 Abs. 2 AO sowie durch die ermessensunabhängige Berechnung der Höhe des Verspätungszuschlags nach § 152 Abs. 5 AO erreicht. Zweitens geht der Gesetzgeber selbst davon aus, dass § 152 Abs. 1 AO weitestgehend dem bisherigen Recht entspricht und daher eine umfassende Ermessensprüfung durchzuführen ist.

4. Nach diesen Grundsätzen hat der Beklagte sein Entschließungsermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.

a) Dabei kann der Senat offenlassen, ob sich aus dem angefochtenen Bescheid und der Einspruchsentscheidung, welche nur den Wortlaut des § 152 Abs. 1 AO wiedergibt und wegen des Verschuldens auf die Einspruchsentscheidung zur Ablehnung der Fristverlängerung verweist, hinreichend klar ergibt, dass der Beklagte eine Ermessensentscheidung treffen wollte.

Denn ein Ermessensfehler ergibt sich jedenfalls daraus, dass der Beklagte inhaltlich allein auf die verspätete Abgabe und das Verschulden des Klägers abgestellt hat. Ermessensfehlerhaft hat er in seine Abwägung nicht einbezogen, dass die Steuerfestsetzung für 2020 zu einer – nicht unwesentlichen – Erstattung geführt hat. Auch hat er keine Erwägungen dazu angestellt, aus welchen Gründen trotz der Erstattung ein Verspätungszuschlag gerechtfertigt ist. Insbesondere fehlt es an Ausführungen zur Bedeutung der Dauer und Häufigkeit der Fristüberschreitung.

b) Dieser Ermessensfehler konnte durch die Ausführungen im Klageverfahren nicht geheilt werden.

Zwar kann die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen (§ 102 Satz 2 FGO). Damit ist es der Finanzbehörde aber nur gestattet, bereits an- oder dargestellte Ermessenserwägungen zu vertiefen, zu verbreitern oder zu verdeutlichen. Nicht dagegen ist die Behörde befugt, Ermessenserwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren erstmals anzustellen, die Ermessensgründe auszuwechseln oder vollständig nachzuholen. Eine Heilung der behördlichen Entscheidung bei fehlerhaftem Entschließungs- oder Auswahlermessen, Über- oder Unterschreitung des Ermessens sowie bei erheblichen Mängeln in der Sachverhaltsermittlung ist im Wege einer Ergänzung nach § 102 Satz 2 FGO nicht möglich (BFH-Urteil vom 27.11.2019 XI R 56/17, BFH/NV 2020, 775).

Nach diesen Grundsätzen scheidet eine Heilung aus, da der Beklagte erstmals im Klageverfahren Ausführungen zu den anderen Ermessenskriterien gemacht hat und bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung davon ausgegangen ist, dass es alleine auf verspätete Abgabe und das Verschulden des Klägers ankommt. Hierin ist ein vollständiges Nachholen und nicht lediglich eine Ergänzung von Ermessenserwägungen zu sehen (so bereits Finanzgericht Münster, Urteil vom 19.04.2024 4 K 1758/23 zu § 152 AO a.F., rkr., juris).

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 AO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, da höchstrichterlich noch nicht geklärt ist, welche Ermessenskriterien nach der Neuregelung in § 152 Abs. 1 AO zu berücksichtigen sind.