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Nr: NJRE001591245


VG Karlsruhe 3. Kammer, Urteil vom 11.September 2024 , Az: A 3 K 4398/23

VwGO § 55d S 1 , VwGO § 60 , ZPO § 371b , VwGO § 55d S 3 ,

(Schriftsatzübermittlungspflicht bei technische Störung)

Leitsatz

1. Ist bei fristgebundenen Schriftsätzen die nach § 55d S 1 VwGO vorgeschriebene Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, gebietet es die anwaltliche Sorgfalt, rechtzeitig von der durch § 55d S 3 VwGO eröffneten Möglichkeit Gebrauch zu machen.

2. Von einem Rechtsanwalt ist zu erwarten, dass er bzw. sie die Möglichkeit des § 55d S 3 VwGO kennt und zur Fristwahrung nutzt.



Langtext

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.


Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und jesidischer Religionszugehörigkeit.

Er reiste am xxx in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am xxx einen Asylantrag.

Die persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am xxx. Darin machte der Kläger im Wesentlichen geltend, er habe sein Heimatland aus Sicherheitsgründen, wegen der schlechten finanziellen Lage und wegen des schlechten Bildungssystems verlassen. Er habe nicht weiter zur Schule gehen können, weil sie ständig angegriffen worden seien. Er sei hierhergekommen, um sich eine Zukunft aufzubauen und eine Ausbildung zu machen. Er wolle ein neues Leben beginnen und seine Familie unterstützen. Sie seien durch Muslime unterdrückt worden. Bei Rückkehr habe er Angst vor dem IS.

Mit Bescheid vom 12.10.2023 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der Nichteinhaltung dieser Ausreisefrist wurde dem Kläger die Abschiebung – in erster Linie in den Irak angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).

Aus einem in der elektronischen Akte des Bundesamts befindlichen Scan einer Postzustellungsurkunde ergibt sich, dass der Bescheid am 19.10.2023 in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten eingelegt worden ist.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 31.10.2023 hat der Kläger vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben. Die Klage ist beim Verwaltungsgericht am 03.11.2023 eingegangen.

Am 03.11.2023 hat der Kläger einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Zur Begründung trägt er vor, der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe die Klage am 31.10.2023 um 18:14 Uhr elektronisch an das Verwaltungsgericht Karlsruhe versandt. Das Protokoll habe die ordnungsgemäße Versendung, jedoch keinen Empfang beim Empfänger angezeigt. Ein Empfang sei nicht möglich gewesen, da in der Zeit vom 27.10.2023 bis 02.11.2023 Wartungsarbeiten am Intermediär Baden-Württemberg stattgefunden hätten. Er sei daher unverschuldet daran gehindert gewesen, die Klagefrist einzuhalten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.10.2023 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise ihm subsidiären Schutz zu gewähren,

höchst hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen,

sowie hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt sie an, die Klage sei verfristet. Ergänzend bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 03.05.2024 dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.

Der Kläger wurde zu den Gründen für seinen Asylantrag in der mündlichen Verhandlung am 11.09.2024 informatorisch angehört. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Anlage zum Protokoll Bezug genommen.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Streitakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht auf Grundlage des Übertragungsbeschlusses vom 03.05.2024 durch den Einzelrichter (vgl. § 76 Abs. 1 AsylG).

Es konnte über die Klage verhandelt und entschieden werden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, da auf diese Möglichkeit in der ordnungsgemäß erfolgten Ladung zum Termin hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO).

1. Die Klage ist unzulässig. Sie ist verfristet erhoben worden (dazu unter 1.1.) und dem Kläger ist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (dazu unter 1.2.).

1.1. Nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG ist die Klage innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung zu erheben. Diese Frist hat der Kläger nicht eingehalten.

Die Zustellung des mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheids gilt als am 19.10.2023 bewirkt. Für die Form der Zustellung bestehen keine besonderen Regelungen, sodass auf die allgemeinen Vorschriften zurückzugreifen ist. Demnach gelten grundsätzlich die Regelungen des VwZG für die Zustellung (vgl. Seeger in: BeckOK Ausländerrecht, 42. Edition, Stand: 01.07.2024, § 74 AsylG, Rn. 7). Bei einer Zustellung durch die Post mit Postzustellungsurkunde (PZU) gelten für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend, § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG. Insbesondere die Vorschriften über die Ersatzzustellung bleiben nach § 10 Abs. 5 AsylG unberührt.

Nach § 180 ZPO kann das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt werden, wenn die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 nicht ausführbar ist. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt.

Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Bescheid ist insbesondere in den Briefkasten, der zu der Wohnung des Klägers gehört, eingelegt worden. Zwar ergibt sich dies lediglich aus einem Scan der Postzustellungsurkunde in der Akte des Bundesamts (AS. 173 der Akte des Bundesamts). Von einem solchen geht nicht die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde nach § 98 VwGO in Verbindung mit § 371b Satz 1 ZPO aus. Denn es ist der Akte des Bundesamts nicht zu entnehmen und auch sonst nicht erkennbar, dass die Postzustellungsurkunde, die eine öffentliche Urkunde i.S.d. §§ 371b Satz 1, 415 ZPO ist, nach dem Stand der Technik gescannt worden wäre. Mit dem Stand der Technik bezieht sich die Vorschrift in erster Linie auf die Beachtung der Technischen Richtlinie Rechtssicheres Scannens (TR-RESISCAN). Abweichende Scanverfahren können ebenfalls dem Stand der Technik entsprechen (vgl. Bach in: BeckOK ZPO, 53. Edition, Stand 01.07.2024, § 371b, Rn. 6 mit Verweis auf BT-Drs. 17/12634, S. 34); doch auch zu einem etwaigen abweichenden Verfahren lässt sich den vorgelegten Akten nichts entnehmen. Ebenso wenig ist den Akten eine Bestätigung zu entnehmen, dass das elektronische Dokument mit der Urschrift bildlich und inhaltlich übereinstimmt, wie dies in § 371b ZPO gefordert wird (vgl. zum Ganzen: VG Karlsruhe, Beschluss vom 21.02.2023 – A 19 K 304/23 – juris Rn. 15). Jedoch ergibt sich hieraus ein der freien Beweiswürdigung durch das Gericht nach § 98 VwGO in Verbindung mit § 371 Abs. 1 ZPO unterliegender Anhaltspunkt dafür, dass eine Postzustellungsurkunde mit dem dort wahrnehmbaren Inhalt existiert. Hieraus folgt mangels gegenteiliger Anhaltspunkte, dass die Zustellung wie dort angegeben am 19.10.2023 erfolgt ist. Denn der Kläger hat dies nicht durch eigenen Vortrag angegriffen.

Es handelt sich bei der Adresse, an die der Bescheid zugestellt worden ist, auch nicht um eine Gemeinschaftsunterkunft. Der Kläger selbst sowie sein Prozessbevollmächtigter haben in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits in der Wohnung seines Bruders, unter der zur Zustellung genutzten Anschrift, gewohnt hat.

Nach § 181 Abs. 1 Satz 4 ZPO ergibt sich daraus, dass die Zustellung als am 19.10.2023 bewirkt gilt. Die Klagefrist hat mithin nach § 57 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1 BGB am 20.10.2023 zu laufen begonnen und hat gemäß § 57 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 02.11.2023 geendet. Die Klageschrift ist erst am 03.11.2023 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe eingegangen.

1.2. Dem Kläger ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt nach § 60 Abs. 1 VwGO voraus, dass der Betroffene ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Die Wiedereinsetzungsgründe, also sämtliche Umstände, die für die Frage von Bedeutung sind, auf welche Weise und durch wessen Verschulden es zu der Fristversäumnis gekommen ist, müssen bei einem Wiedereinsetzungsgesuch grundsätzlich innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO dargelegt werden. Erforderlich ist eine rechtzeitige substantiierte und schlüssige Darstellung der für die unverschuldete Fristsäumnis wesentlichen Tatsachen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.06.2017 – 1 B 113.17 –, juris Rn. 5). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO ist anzunehmen, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten war (ständige Rechtsprechung, vgl. BVerwG Beschluss vom 19.12.2023 – 8 B 26.23 –, juris Rn. 6 m. w. N.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.05.2024 – 18 A 100/24 –, NVwZ-RR 2024, 707 Rn. 3 m. w. N.). Dabei ist in den Blick zu nehmen, ob der Beteiligte mit den nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen Möglichkeiten und zumutbaren Anstrengungen die Wahrung seines rechtlichen Gehörs zu erlangen vermocht hätte (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 18.04.2024 – 14 ME 48/24 –, juris Rn. 9 m. w. N.).

Ist bei fristgebundenen Schriftsätzen die nach § 55d Satz 1 VwGO vorgeschriebene Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, gebietet es die anwaltliche Sorgfalt, rechtzeitig von der durch § 55d Satz 3 VwGO eröffneten Möglichkeit Gebrauch zu machen, das Dokument nach den allgemeinen Vorschriften zu übermitteln. Von einem Rechtsanwalt ist zu erwarten, dass er bzw. sie diese Möglichkeit kennt und zur Fristwahrung nutzt (vgl. BVerwG Beschluss vom 19.12.2023 – 8 B 26.23 –, juris Rn. 6; Bayerischer VGH, Beschluss vom 22.08.2024 – 22 ZB 23.1411 –, juris Rn. 12).

Für die Anwendbarkeit des § 55d Satz 3 VwGO ist es dabei unerheblich, ob die Gründe für die technische Unmöglichkeit – solange es sich um eine technische Unmöglichkeit, also nicht eine persönliche Unmöglichkeit wie etwa fehlende Kenntnisse bei der Bedienung der Software handelt – in der Sphäre des Gerichts oder des Einreichenden liegen (Bayerischer VGH, Beschluss vom 22.08.2024 – 22 ZB 23.1411 –, juris Rn. 12 mit Verweis auf BT-Drs. 17/12634, S. 27).

Nach dieser Maßgabe hat der Bevollmächtigte des Klägers nicht diejenige Sorgfalt angewandt, die für einen gewissenhaften Prozessbevollmächtigten geboten ist. Aus der von ihm vorgelegten Übersicht zu Meldungen bezüglich des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) ergibt sich, dass der Empfang elektronischer Nachrichten über das Elektronische Gerichtspostfach des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 27.10.2023 bis zum 02.11.2023 11:25 Uhr gestört gewesen ist. Dies war für den Prozessbevollmächtigten des Klägers bei elektronischer Einreichung der Klageschrift über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) auch erkennbar. Nach dessen eigenen Angaben hat das Protokoll keinen Empfang beim Verwaltungsgericht Karlsruhe angezeigt. Dennoch hat er den Klageschriftsatz nicht per Telefax übersendet oder in Papierform direkt beim Verwaltungsgericht in den Briefkasten eingeworfen.

Dass hier für den Prozessbevollmächtigten des Klägers eine Ersatzeinreichung gemäß § 55d Satz 3 VwGO mittels Telefaxnutzung nicht zumutbar möglich gewesen wäre, ist weder vorgetragen, noch glaubhaft gemacht. Im Gegenteil gibt der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf der Homepage seiner Kanzlei unter „Kontakt & Anfahrt“ eine Telefaxverbindung an. Auf seinen Schriftsätzen ist ebenfalls eine Telefaxnummer angegeben. Auch hat er nicht dargetan, dass eine Nutzung dieses Telefaxanschlusses vorliegend nicht bzw. nicht rechtzeitig möglich oder mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden gewesen wäre.

Entsprechendes gilt für den Einwurf in den Briefkasten des Verwaltungsgerichts. Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten in der xxx befinden sich in unmittelbarer, fußläufiger Nähe zum Verwaltungsgericht Karlsruhe.

Im Übrigen wäre es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers auch möglich gewesen, ab dem 02.11.2023 um 11:25 Uhr den elektronischen Übermittlungsweg wieder zu nutzen und damit die Klagefrist zu wahren. Diesbezüglich hat der Prozessbevollmächtigte nicht angegeben, weshalb er diesen Weg nicht habe wählen können.

Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten ist dem Kläger nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.



Sachgebiete

elektronischer Rechtsverkehr

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