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Nr: NJRE001600897


LG Duisburg 6. Zivilkammer, Urteil vom 11.Februar 2025 , Az: 6 O 227/24

AHB Ziff 1.1

Leitsatz

Im Falle einer pflichtwidrig unterlassenen Sterilisation ist erst die Empfängnis der geschädigten Patientin bzw. der zur Empfängnis führende Geschlechtsverkehr das versicherte Schadensereignis im Sinne von Ziff. 1.1 AHB 2008.


Langtext

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.


Tatbestand

Die Parteien waren durch einen Haftpflichtversicherungsvertrag mit der

Versicherungsschein-Nr. 01 verbunden, welcher den Allgemeinen

Versicherungsbedingungen für die Haftpflichtversicherung (AHB 2008) sowie den

"Besonderen Bedingungen und Erläuterungen zum Rahmenabkommen für die

Haftpflichtversicherung von Krankenhäusern, die Vorsorge- und

Rehabilitationseinrichtungen mit der L. GmbH in Q." unterlag. Das Versicherungsverhältnis endete am 01.01.2019 um 12:00 Uhr.

Ziffer 1.1 AHB 2008 lautet wie folgt:

"1.1 Versicherungsschutz besteht im Rahmen des versicherten Risikos für den

Fall, dass der Versicherungsnehmer wegen eines während der Wirksamkeit der

Versicherung eingetretenen Schadenereignisses (Versicherungsfall), das einen Personen-, Sach- oder sich daraus ergebenden Vermögensschaden zur Folge hatte, aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts von einem Dritten auf Schadenersatz in Anspruch genommen wird.

Schadenereignis ist das Ereignis, als dessen Folge die Schädigung des Dritten unmittelbar entstanden ist. Auf den Zeitpunkt der Schadenverursachung, die zum Schadenereignis geführt hat, kommt es nicht an."

Die Klägerin verlangt Deckung für Schäden, die aus einer von den behandelnden Ärzten im Krankenhaus der Klägerin im Rahmen einer im Dezember 2018 durchgeführten Kaiserschnittgeburt geplanten, aber nicht durchgeführten Sterilisation der Patientin S. I., resultieren. Die Patientin wurde auch im Nachgang nicht darüber informiert, dass die Sterilisation nicht durchgeführt worden war. Im Jahr 2019 wurde die Patientin dann ungeplant schwanger und gebar am 09.04.2020 ihre Tochter Y. F.. Das Kind leidet an Trisomie 21, einer Leukämieerkrankung sowie unter mehreren Herzfehlern mit entsprechender Herzinsuffizienz. Es wurde der Pflegegrad 3 festgestellt.

Die Beklagte zahlte an die Geschädigte bislang insgesamt 82.038,24 EUR. Die Zahlungen erfolgten zum Teil ausdrücklich "ohne Anerkennung einer Rechts- bzw. Eintrittspflicht" (Anlagen K6, K9, K10, K11 und K12) und im Übrigen mit dem Hinweis "frei verrechenbar". Die Beklagte lehnte gegenüber der Klägerin mit E-Mail vom 12.03.2024 die Deckung ab.

Die Klägerin ist der Ansicht, der Versicherungsfall sei in der unterlassenen

Sterilisation zu sehen. Auf die erst nach Versicherungsende eingetretene Empfängnis bzw. Geburt des Kindes komme es nicht an. Unabhängig davon habe die Beklagte den Deckungsanspruch anerkannt.

Die Klägerin beantragt,

1. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr bedingungsgemäß Versicherungsleistungen zum Az.: AZ01 des bei der Beklagten angelegten Schadenfalles der S. I. vom 18.12.2018 nach Maßgabe des zwischen der Klägerin und der Beklagten bestehenden

Haftpflichtversicherungsvertrages Nr. 01 zu gewähren,

2. die Beklagte zu verurteilen, sie von außergerichtlichen

Rechtsanwaltsgebühren der Rechtsanwälte Z. K. mbB in Höhe von 3.865,00 EUR freizustellen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, maßgeblich sei nicht die Schadensverursachung durch die unterlassene Sterilisation, sondern das Ereignis, als dessen Folge die Schädigung entstanden sei. Dies sei vorliegend die Empfängnis im Jahr 2019 oder die Geburt im Jahr 2020. Die Zahlungen an die Geschädigte seien frei verrechenbar erfolgt und könnten jederzeit zurückgefordert werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

I.

Die Klage hat keinen Erfolg.

1.

Der Klageantrag zu 1. ist zulässig, aber unbegründet.

a)

Der Klageantrag zu 1. ist zulässig. Die Klägerin hat im Rahmen der Deckungsklage ein Feststellungsinteresse im Sinne von § 256 Abs. 1 ZPO. Im Rahmen des vorweggenommenen Deckungsprozesses kann der Versicherungsnehmer grundsätzlich nur auf Feststellung der Gewährung bedingungsgemäßen Versicherungsschutzes klagen. Denn dem Versicherer steht es grundsätzlich frei, den gegen seinen Versicherungsnehmer geltend gemachten Haftpflichtanspruch zu erfüllen oder abzuwehren, § 100 VVG (vgl. BGH, Urteil vom 26.03.2014, IV ZR 422/12, Rn. 20 m. w. N.).

b)

Der Klageantrag zu 1. ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Versicherungsschutz für den streitgegenständlichen Schaden aus den vereinbarten Versicherungsbedingungen.

aa)

Gemäß Ziffer 1.1. AHB 2008 besteht Versicherungsschutz im Rahmen des versicherten Risikos für den Fall, dass der Versicherungsnehmer wegen eines während der Wirksamkeit der Versicherung eingetretenen Schadensereignisses (Versicherungsfall), das einen Personen- Sach- oder sich darauf ergebenden Vermögensschaden zur Folge hatte, aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts von einem Dritten auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird.

(1)

Die Klägerin wird von einem Dritten aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird. Die Beklagte hat durch Unterlassen der vereinbarten Sterilisation der Patientin Pflichten aus dem Behandlungsvertrag verletzt, woraus die Patientin unstreitig Ansprüche geltend macht.

(2)

Das Schadensereignis in Gestalt der ungewollten Empfängnis bzw. des damit im unmittelbaren Zusammenhang stattgefundenen Geschlechtsverkehrs ist allerdings erst nach dem 01.01.2019, 12:00 Uhr und damit nicht während der Wirksamkeit der Versicherung eingetreten.

(a)

Der Begriff des Schadensereignisses wird durch die Allgemeine

Versicherungsbedingungen bestimmt. § 100 VVG enthält gerade keine Definition des

Versicherungsfalles (Littbarski, in: Langheid/Wandt, Münchener Kommentar zum

VVG, 32. Aufl. 2024, § 100 Rn. 107 unter Bezugnahme auf die

Gesetzesbegründung).

(b)

Die Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die

Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit - auch - auf seine Interessen an (ständige Rspr., u. a. BGH, Urteil vom 23.06.1993, IV ZR 135/92, BeckRS 1993, 4127). Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sind aus sich heraus zu interpretieren. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom. 25.07.2012, IV ZR 201/10, Rn. 21 m. w. N.).

(c)

Nach diesen Maßstäben ist das Schadensereignis, der Geschlechtsverkehr bzw. die ungewollten Empfängnis der Patientin, welche aufgrund der Geburt der Tochter am 09.04.2020 erst nach Ablauf des Versicherungsvertrags am 01.01.2019 stattgefunden haben können.

(aa)

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann bei verständiger Würdigung und aufmerksamer Durchsicht erkennen, dass der Wortlaut von Ziffer 1.1 Satz 3 AHB 2008 deutlich zwischen der (kausalen) Pflichtverletzung und dem Schadensereignis differenziert und dass die Schadensverursachung dem Schadensereignis vorgelagert ist, aber diesem nicht entspricht, so dass es auf den Zeitpunkt der Schadensverursachung nicht ankommt. Auch entspricht das Schadensereignis nicht dem Schadenseintritt, da nach Ziffer 1.1. Satz 1 und 2 das Schadensereignis erst zu einem Personen- oder Sachschaden führt (vgl. BGH, Urteil vom 26.03.2014, IV ZR 422/12, Rn. 39).

(bb)

Die unterlassene Sterilisation und die fehlende Aufklärung der Patientin darüber haben in diesem Sinne nicht unmittelbar zu einem Personen- oder Sachschaden geführt.

Bis zur Fassung 2002 haben die AHB-Musterbedingungen den Personenschaden definiert als Schadensereignis, "das den Tod, die Verletzung oder Gesundheitsbeschädigung von Menschen" zur Folge hatte (vgl. § 1 Ziff. 1 Satz 1 AHB 2002). Seither verzichtet der Musterbedingungsgeber auf eine Definition. Gleichwohl ist die früher verwandte Definition weiterhin als Ausgangspunkt für die Auslegung maßgebend, weil sie im Einklang mit dem Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers steht (Koch, in: Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., Ziff. 1 Gegenstand der Versicherung, Versicherungsfall). Körperverletzung ist jeder äußerliche Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, Gesundheitsschädigung die Störung der inneren Lebensvorgänge.

Nach diesem Maßstab lag unmittelbar nach der unterlassenen Sterilisation keine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung der Patientin und damit auch kein unmittelbarer Personenschaden vor. Der nicht durchgeführte Eingriff hat die körperliche Unversehrtheit der Patientin in keiner Weise beeinträchtigt oder innere Lebensvorgänge gestört. Diese sind gerade durch die vor und nach der Sectio fortbestehende Fertilität der Patientin unverändert geblieben.

(cc)

Die Körperverletzung und damit der Personenschaden ist erst durch die ungewollte Schwangerschaft eingetreten. Auch wenn es sich bei einer Schwangerschaft um einen normalen physiologischen Vorgang handelt, stellt doch jeglicher unbefugte Eingriff in das körperliche Befinden eine Körperverletzung dar, da bei anderer Sichtweise das Recht am eigenen Körper als gesetzlich ausgeformter Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht hinreichend geschützt wäre (vgl. (BGH, Urteil vom 27.06.1995, VI ZR 32/94, NJW 1995, 2407, 2408; v. Rintelen, in:

Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AHB Ziffer 1 Rn. 133).

Unmittelbar zu dieser Schwangerschaft geführt hat die Empfängnis, also der physiologische Vorgang der Verschmelzung der Eizelle mit einem Spermium. Lehnt man die Empfängnis als Schadensereignis ab, da es ein nur verborgener, innerer Vorgang ist, der nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht zwingend ein Ereignis darstellt im Sinne eines sinnfälligen objektiven Vorgang, der sich vom gewöhnlichen Tagesgeschehen deutlich abhebt und dessen schwerwiegende Bedeutung sofort ins Auge springt (BGH, Urteil vom 27.06.1957, II ZR 299/55, NJW 1957, 1477), dann wäre jedenfalls der vorgelagerte Geschlechtsverkehr ein solcher objektiver Vorgang, der den Personenschaden in Gestalt der ungewollten Schwangerschaft ausgelöst hat. Das Schadensereignis ist damit in jedem Fall außerhalb der versicherten Zeit eingetreten.

(dd)

Die Kammer verkennt nicht, dass diese Auslegung von Ziffer 1.1 AHB 2008 gerade im Bereich der Heilbehandlungen in besonderen Einzelfällen wie dem vorliegenden zu Deckungslücken führen kann, mit denen ein durchschnittlicher Heilbehandler möglicherweise nicht rechnet. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass die AHB 2008 allgemeine Haftpflichtversicherungsbedingungen sind, welche für alle möglichen Arten von Haftpflichtkonstellationen Anwendung finden. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer ist nicht zwingend ein Heilbehandler, so dass es auf dessen Verständnis der Versicherungsbedingungen nicht ankommen kann. Es hat sich im vorliegendem Fall für die Klägerin ein Risiko realisiert, das sich vor allem daraus ergibt, dass sie keinen Haftpflichtversicherungsvertrag mit speziellen Bedingungen abgeschlossen hat, welche die Besonderheiten im Heilbehandlungsbereich auch für Fälle der ungewollten Schwangerschaft berücksichtigen, obwohl solche Versicherungen inzwischen verfügbar sind (vgl. Ziffer A 1-6.13 der Musterbedingungen für die O.).

bb)

Die Beklagte hat einen Deckungsanspruch der Klägerin auch nicht im Wege eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses gemäß § 781 BGB anerkannt.

Die bloße Zahlung stellt kein Anerkenntnis dar. Die Zahlungen erfolgten zudem nicht an die Klägerin, sondern an die Patientin direkt, so dass sich hieraus ohnehin kein Verhalten mit Erklärungsgehalt gegenüber der Klägerin ergibt.

Soweit die Klägerin meint, dass aus dem Schriftwechsel klar hervorgehe, dass die Beklagte die Schadenersatzpflicht der Klägerin nicht in Zweifel gezogen habe, ist dies unzutreffend. Der Korrespondenz lässt sich nur entnehmen, dass an die Patientin mehrere Zahlungen erfolgten. Eine Willenserklärung der Beklagten lässt sich nicht erkennen, zumal sich aus den vorgelegten Unterlagen auch nicht ergibt, dass die Beklagte die Sachprüfung bereits abgeschlossen hatte.

Auch hat die Beklagte jedenfalls in fünf von sieben Schreiben an die Patientin angegeben, "ohne Anerkennung einer Rechts- bzw. Eintrittspflicht" zu leisten. In allen Schreiben hat die Beklagte jedenfalls angegeben, zur freien Verrechnung, also nicht zur Erfüllung einer konkreten Schuld, zu leisten. Erklärungen mit Rechtsbindungswillen lassen sich den Schreiben an die Geschädigte damit gerade nicht entnehmen.

2.

Die mit dem Klageantrag zu 2. geltend gemachten Nebenforderungen, teilen das Schicksal der Hauptforderung.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 und 2 ZPO.

III.

Der Streitwert wird auf 80.000,00 EUR festgesetzt. Nach Mitteilung der Parteien macht die Patientin Unterhaltsschäden und damit aus dem Personenschaden folgende Vermögensschäden geltend, für welche gemäß dem Versicherungsschein (Anlage K 1, Bl. 16 d. A.) die Versicherungssumme auf 100.000,00 EUR begrenzt ist. Hiervon ist ein Abschlag in Höhe von 20 % abzuziehen (vgl. BGH, Beschluss vom

12.07.2012, VII ZR 134/11, Rn. 5).