Problemstellung
Die evangelische und katholische Kirche beschäftigen zusammen mit ihren Sozialwerken Diakonie und Caritas rund 1,9 Mio. Menschen, davon fast 1,8 Mio. als Arbeitnehmer*innen. Deren Arbeitsbedingungen werden überwiegend nicht durch Tarifverträge, sondern in einem von den Kirchen vorgegebenen Verfahren („Dritter Weg“) durch paritätisch besetzte „Arbeitsrechtliche Kommissionen“ festgesetzt. Die Kirchen sehen diesen Weg als Ausdruck des von ihnen verfolgten Leitbildes der Dienstgemeinschaft. Daher und weil der Dienst am Nächsten nicht durch arbeitskampfbedingte Arbeitsniederlegungen suspendiert werden könne, verlangen sie unter Hinweis auf Art. 4 GG i.V.m. Art. 140 GG Streikfreiheit.
Die Gewerkschaften wiederum sehen sich hierdurch in ihren Gewährleistungen aus Art. 9 Abs. 3 GG beeinträchtigt.
Im Jahre 2012 hatte das BAG eine gegen die Gewerkschaft ver.di gerichtete Unterlassungsklage abgewiesen: Die Gewährleistungen der Kirche und diejenigen der Gewerkschaften stehen sich gleichgewichtig gegenüber. Zwischen beiden ist im Wege der praktischen Konkordanz ein schonender Ausgleich herzustellen.
Seither ist es immer wieder zu einzelnen Streiks in kirchlichen Einrichtungen gekommen, ohne dass sich daraus Rechtsstreitigkeiten ergeben hätten. Nun versuchen die Evangelische Kirche in Mitteildeutschland, deren Diakonisches Werk und ein von Streikaufrufen betroffenes Krankenhaus in Weimar die Gewerkschaft auf Unterlassung in Anspruch zu nehmen.
Kontext der Entscheidung
Der kirchliche Anspruch auf Streikfreiheit stand wiederholt zur richterlichen Entscheidung. Bislang haben die Gerichte das kirchliche Begehren zurückgewiesen (ArbG Hamburg, Urt. v. 01.09.2010 - 28 Ca 105/10; vor allem BAG, Urt. v. 20.11.2012 - 1 AZR 179/11). Das BAG hatte die gegen die Gewerkschaft ver.di gerichtete Unterlassungsklage abgewiesen, weil die dem Verfahren zugrunde liegende gliedkirchliche Regelung den Arbeitgebern ein Wahlrecht hinsichtlich der anzuwendenden kirchlichen Arbeitsrechtsregelung einräumt. Damit war die Verbindlichkeit der auf dem „Dritten Wege“ aufgestellten Regelungen nicht gegeben. Das BAG sieht in der Verbindlichkeit eine unverzichtbare Voraussetzung, will eine kirchliche Einrichtung Streikfreiheit beanspruchen. Im Übrigen hat das BAG in einem obiter dictum (vgl. Richardi, RdA 2014, 42, 44) weitere Anforderungen zur Begründung der kirchlicherseits begehrten Streikfreiheit skizziert: Die Gewerkschaft müsse in das Verfahren eingebunden sein, und durch ein Schlichtungsverfahren müsse eine mögliche Blockadehaltung (der Arbeitgeber) aufgelöst werden können. Das BAG hat hingegen nicht festgelegt, wie diese Anforderungen im Einzelnen umzusetzen sind. In der Literatur wird deshalb überwiegend davon ausgegangen, dass noch zu klären ist, wie die ausreichende Verbindlichkeit und die ausreichende Einbindung der Gewerkschaften herzustellen seien und wann das Schlichtungsverfahren dem Ziel angemessen sei (statt vieler: Joussen in: Das Arbeits- und Tarifrecht der Evangelischen Kirche, S. 36, Rn. 5).
Hinsichtlich ihres Regelungsmodells hat das BAG der Kirche einen Gestaltungsspielraum zuerkannt. Die Grenzen dieses Spielraums ergeben sich daraus, dass das Regelungsmodell die Koalitionsfreiheit und das Konzept der Tarifautonomie nur insoweit verdrängen darf, wie dies zur Wahrung des kirchlichen Auftrags erforderlich ist. Gefordert ist daher ein minimalinvasiver Eingriff. Damit betont das BAG den funktionalen Zusammenhang zwischen der institutionellen Gewährleistung aus Art. 140 GG und der individuellen wie gemeinschaftlichen Religionsausübung. Diesen inneren Zusammenhang erkennen wir auch in den „Egenberger“-Entscheidungen des EuGH und ihm folgend des BAG (Urt. v. 25.10.2018 - 8 AZR 501/14): Die Kirche kann die Kirchenzugehörigkeit nicht schon wegen ihres Selbstverständnisses von ihren Arbeitnehmern verlangen (§ 9 Abs. 1 AGG), sondern nur im Hinblick auf die konkrete Tätigkeit. Das Erfordernis der Zugehörigkeit muss sich aus dem religiösen Ethos richterlich nachprüfbar ableiten lassen.
Das BAG hat in der Entscheidung vom 20.11.2012 betont, dass die koalitionsmäßige Betätigung nur insoweit zurückgedrängt werden dürfe, als es zur Sicherung des Leitbildes der Dienstgemeinschaft erforderlich sei. Zu Recht betont das LArbG Erfurt in der Besprechungsentscheidung daher, dass auch im sog. Dritten Weg der Kirche die größtmögliche Entfaltung der Koalitionsfreiheit geboten sei. Das BVerfG sieht in der praktischen Konkordanz das Ziel der Optimierung der beiderseitigen Grundrechtsverwirklichung (BVerfG, Beschl. v. 07.03.1990 - 1 BvR 266/86).
Nach dem vom BAG aufgestellten und vom Landesarbeitsgericht anerkannten Maßstab ist jede Einschränkung der gewerkschaftlichen Betätigung im Rahmen des kirchlichen Regelungsmodells darauf zu prüfen, ob sie aus Sicht der Kirche erforderlich ist. Geboten ist eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung: Ist eine Einschränkung der Betätigungsmöglichkeit geeignet und erforderlich?
Überraschenderweise weicht das Landesarbeitsgericht von der vorgegebenen Prüfungsfolge (Eignung - Erforderlichkeit - Angemessenheit) ab und stellt lediglich fest, die nach dem Regelungsmodell der Landeskirche der Gewerkschaft verbleibenden wenigen Handlungsmöglichkeiten seien angemessen. Weder wird aus der Entscheidung deutlich, warum das Landesarbeitsgericht insbesondere die Erforderlichkeit der sich aus der landeskirchlichen Regelung ergebenden Beschränkungen der Gewerkschaft nicht prüft, noch wird deutlich, was Maßstab für die Feststellung der Angemessenheit ist.
Richtigerweise hätte das Landesarbeitsgericht feststellen müssen, dass die EKD mit dem 2013 als Reaktion auf die BAG-Entscheidung erlassenen Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz (ARGG.EKD) der Gewerkschaft sehr viel weiter gehende Betätigungsmöglichkeiten eingeräumt hat. Und es hätte berücksichtigen müssen, dass die Landeskirche dieser EKD-Regelung durch Gesetz zugestimmt hat.
Das ARGG.EKD sieht u.a. die Besetzung der Arbeitnehmerseite vorrangig durch Gewerkschaften und Mitarbeitervereinigungen vor. Zusammenschlüsse von Mitarbeitervertretungen kommen nur nachrangig zum Zuge, wenn Gewerkschaften und Verbände von ihrem Entsendungsrecht keinen Gebrauch machen. Die Mitglieder der Arbeitsrechtlichen Kommission genießen erhöhten Kündigungsschutz, weil deren Kündigung der ausdrücklichen Zustimmung der jeweiligen Mitarbeitervertretung bedarf. Eine Verschwiegenheitsverpflichtung ist nicht vorgesehen.
Zwar ist auch das ARGG.EKD nicht geeignet, einen schonenden Ausgleich herzustellen. Dennoch stellt es im Verhältnis zum streitgegenständlichen Regelungsmodell ein offensichtlich milderes Mittel dar: Weniger Eingriff ist selbst aus kirchlicher Sicht ausreichend.
Wäre das Gericht seinem Postulat gefolgt, die größtmögliche Entfaltung der koalitionsmäßigen Betätigung zu sichern, hätte es unschwer festgestellt, dass die Evangelische Kirche Mitteldeutschland weit über das Ziel hinausschießt. Anstelle eines minimalinvasiven Eingriffs betreibt sie maximale Marginalisierung der gewerkschaftlichen Mitwirkung im Dritten Weg. Die vom Landesarbeitsgericht festgestellte Angemessenheit entspricht nicht dem Gebot der Optimierung der Grundrechtsverwirklichung.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des LArbG Erfurt steht der Durchführung der geplanten Warnstreiks entgegen. Sie nimmt damit die Hauptsache vorweg. Der geplante Arbeitskampf kann nicht ohne Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Durch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts wird die Attraktivität der beklagten Gewerkschaft massiv beschädigt. Das Bemühen um Steigerung der Attraktivität ist – so das BAG in der Entscheidung vom 20.11.2012 – wesentliches Element der koalitionsmäßigen Betätigung.
Gegenstand der vorliegenden Entscheidung war das kirchliche Regelungsmodell für die Diakonie in Mitteldeutschland. Die von anderen Landeskirchen entwickelten Modelle weichen erheblich ab. So ist für den Bereich der Diakonie in Niedersachsen ein Tarifvertrag abgeschlossen worden, ohne dass die Tarifpartner einen Streikausschluss vereinbart haben.
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts wird materiell im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren zur Überprüfung gestellt. Ebenso wird auch die Rechtsprechung des BAG zur Überprüfung gestellt. Die oben angesprochene Rechtsprechung des EuGH verlangt eine Klärung der Frage, ob eine Differenzierung nach der Nähe zum Verkündungsauftrag geboten ist. Insgesamt wird zu klären sein, ob die von den Kirchen in Anspruch genommene Überformung des Arbeitsrechts Bestand haben kann.