juris PraxisReporte

Anmerkung zu:LArbG Berlin-Brandenburg 26. Kammer, Urteil vom 25.07.2024 - 26 Sa 1241/22
Autor:Dr. Alexander Bissels, RA und FA für Arbeitsrecht
Erscheinungsdatum:29.01.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 4 TVG, § 3 TVG, § 1 TVG, § 50 BetrVG, § 242 BGB, § 19 AÜG, § 9 AÜG, § 10 AÜG, § 1 AÜG, EGRL 104/2008
Fundstelle:jurisPR-ArbR 4/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Bissels, jurisPR-ArbR 4/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Zulässigkeit der Verlängerung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer gemäß § 1 Abs. 1b AÜG



Leitsätze

1. Einem Mitgliedstaat ist es verwehrt, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren (EuGH v. 17.03.2022 - C-232/20 „Daimler“ Rn. 67; EuGH v. 14.10.2020 - C-681/18 „KG“ Rn. 63). Durch die in § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG enthaltene Festlegung auf eine arbeitnehmerbezogene Berechnung der Überlassungshöchstdauer ist nicht gegen diese Verpflichtung verstoßen worden. Zur Gewährleistung des vorübergehenden Charakters der Leiharbeit ist es nicht erforderlich, die Bestimmung der Überlassungsdauer arbeitsplatzbezogen auszugestalten.
2. § 19 Abs. 2 AÜG (Übergangsvorschrift) steht nicht im Einklang mit Unionsrecht, weil er dem beabsichtigten Schutz der Richtlinie 2008/104/EG vor einer nicht mehr nur „vorübergehenden“ Überlassung von Zeitarbeitnehmern die praktische Wirkung nimmt (vgl. EuGH v. 17.03.2022 - C-232/20 „Daimler“ Rn. 73).
3. Die nationale Rechtsordnung genügt damit bis heute nicht der Pflicht, die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten (vgl. näher EuGH v. 17.03.2022 - C-232/20 „Daimler“ Rn. 22 ff.). Die Mitgliedstaaten waren nach Art. 11 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG verpflichtet, diese bis zum 05.12.2011 in nationales Recht umzusetzen.
4. Ein Zeitarbeitnehmer kann aber wegen dieses Verstoßes kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher aus dem Unionsrecht ableiten (EuGH v. 17.03.2022 - C-232/20 „Daimler“ Rn. 93 ff.; BAG v. 05.07.2022 - 9 AZR 476/21 Rn. 37; BAG v. 08.11.2022 - 9 AZR 486/21 Rn. 35).
5. Die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche haben von der ihnen vom Gesetzgeber eingeräumten Regelungsermächtigung Gebrauch gemacht, die sich von den in § 1 Abs. 1 TVG genannten Arten von Tarifnormen und deren unmittelbarer und zwingender Geltung (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2, § 4 Abs. 1 TVG) unterscheidet (ausf. BAG v. 14.09.2022 - 4 AZR 83/21 Rn. 28 ff.). Der Gesetzgeber hat den Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche in § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG eine von den im Tarifvertragsgesetz vorgesehenen Arten von Tarifnormen (§ 1 Abs. 1 TVG) und deren Bindungswirkung (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2, § 4 Abs. 1 TVG) abweichende Regelungsbefugnis eingeräumt (ausf. BAG v. 14.09.2022 - 4 AZR 83/21 Rn. 33 ff.; BAG v. 05.04.2023 - 7 AZR 224/22 Rn. 22).
6. Der TV LeiZ BB gestattet in Nr. 3.1 die Festlegung einer von Nr. 2.3 TV LeiZ BB abweichenden Überlassungshöchstdauer durch freiwillige Betriebsvereinbarungen und ist wirksam zustande gekommen. Die IG Metall und der VME sind tarifzuständig. Es handelt sich um Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche i.S.d. § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG.
7. Die in Nr. 2.1 und 2.2 TV LeiZ BB genannten arbeitsplatzbezogenen Merkmale stehen dem nicht entgegen. Dadurch wird der Anwendungsbereich der Tarifnorm nicht eingeschränkt. Diesen haben die Tarifvertragsparteien ausdrücklich unter Nr. 1 TV LeiZ BB geregelt. Sie wollten mit der Regelung keine zusätzlichen Kriterien für die sich aus Nr. 2.3 TV LeiZ BB oder Nr. 3.1 TV LeiZ BB in Verbindung mit einer Betriebsvereinbarung ergebende Verlängerung der Überlassungshöchstdauer einführen. Eine derartige Bedeutung kommt der Norm nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG nicht zu (vgl. dazu BAG v. 08.11.2022 - 9 AZR 486/21 Rn. 38).
8. Nach § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG kann in einer Betriebsvereinbarung, die aufgrund eines Tarifvertrags nach § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG getroffen wird, eine abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. Eine auf dieser Grundlage geschlossene Betriebsvereinbarung muss eine konkrete zeitliche Grenze festlegen, durch die der „vorübergehende“ Charakter der Arbeitnehmerüberlassung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG gewahrt wird.
9. Der Gesamtbetriebsrat war für den Abschluss der GBV Dmove zuständig. Das nach § 50 Abs. 1 BetrVG die originäre Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats begründende zwingende Erfordernis für eine betriebsübergreifende Regelung besteht, wenn der Arbeitgeber - wie vorliegend - im Bereich der freiwilligen Mitbestimmung zu einer Maßnahme, Regelung oder Leistung nur betriebsübergreifend bereit ist.
10. Sowohl die nach dem TV LeiZ BB als auch die in der Gesamtbetriebsvereinbarung Dmove im Umfang von 48 bzw. 36 Monaten vorgesehen Überlassungsdauern sind unter Berücksichtigung der Branchenbesonderheiten „vorübergehend“ im Sinne des Unionsrechts und des deutschen Arbeitnehmerüberlassungsrechts.



A.
Problemstellung
Mit Wirkung zum 01.04.2017 hat der Gesetzgeber eine gesetzliche Überlassungshöchstdauer (nachfolgend: ÜHD) von 18 Monaten geschaffen. Von dieser kann in einem komplex ausgestalteten System durch einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung abgewichen werden (vgl. § 1 Abs. 1b AÜG). Ob und wann die den Tarif- bzw. den Betriebsparteien gesetzlich gesetzten Grenzen bei der Gestaltung einer Höchstgrenze für die Überlassung eines Zeitarbeitnehmers überschritten sind, ist umstritten. Das BAG hat in diesem Zusammenhang zwar inzwischen die wesentlichen Fragen geklärt (vgl. BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21; dazu: Bissels/Singraven, jurisPR-ArbR 30/2023 Anm. 3), jedoch besteht weiterhin Streitpotenzial zur Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Regelungen in § 1 Abs. 1b AÜG, wie die nachfolgend besprochene Entscheidung des LArbG Berlin-Brandenburg zeigt, in der der klagende Zeitarbeitnehmer u.a. wegen der (vorgeblichen) Überschreitung der nach § 1 Abs. 1b Sätze 3, 5 AÜG verlängerten ÜHD die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Entleiher für sich reklamiert. Das Gericht hat einen solchen Anspruch richtigerweise abgelehnt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger schloss mit der A GmbH, einem Zeitarbeitsunternehmen, mit Wirkung zum 01.09.2014 einen Arbeitsvertrag. In diesem wird – wie auch in späteren Arbeitsverträgen – auf für die Zeitarbeitsbranche geltenden Tarifverträge Bezug genommen. In einer Zusatzabrede wurde vereinbart, dass der Kläger die Arbeitsleistung bei der Beklagten, einem Unternehmen der Automobilindustrie, als Metallarbeiter zu erbringen hat. Die A GmbH überließ den Kläger in der Zeit vom 01.09.2014 bis zum 31.05.2019 (mit einer Elternzeit-bedingten Unterbrechung vom 21.04.2016 bis zum 20.06.2016) ausschließlich an die Beklagte.
Die Beklagte ist Mitglied des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg (VME), der mit der IG Metall am 01.07.20217 mit Wirkung zum 01.04.2017 den TV LeiZ abgeschlossen hat, in dem u.a. eine ÜHD von bis zu 48 Monaten und eine Öffnungsklausel zugunsten freiwilliger Betriebsvereinbarungen vorgesehen ist, um den Einsatz von Zeitarbeitnehmern zu regeln, insbesondere mit Blick auf eine Höchstdauer des Einsatzes.
Die Beklagte hat mit dem Gesamtbetriebsrat am 16.09.2015 eine „Gesamtbetriebsvereinbarung zur Erhöhung der Personalflexibilität“ (GBV) für die Werke und die Zentrale geschlossen. Am 20.09.2017 vereinbarten die Betriebsparteien eine „freiwillige Gesamtbetriebsvereinbarung“, mit der u.a. die GBV wie folgt ergänzt wurde:
„Der Einsatz von Zeitarbeitnehmern im direkten Bereich (Produktion) darf eine Höchstdauer von 36 Monaten nicht überschreiten. Für Zeitarbeitnehmer, die am 01.04.2017 bereits beschäftigt waren, zählen für die ÜHD von 36 Monaten Einsatzzeiten ab dem 01.04.2017. Für Zeitarbeitnehmer, die nach dem 01.04.2017 beschäftigt werden, gelten die 36 Monate vom Zeitpunkt des Einsatzbeginns.“
Das ArbG Berlin wies die Klage ab. Der LArbG Berlin-Brandenburg setzte den Rechtsstreit aus und rief den EuGH an, der die vorgelegten Fragen mit Urteil vom 17.03.2022 (C-232/20) beantwortete. Unter Beachtung dieser Vorgaben hatte die Berufung des Klägers vor dem LArbG Berlin-Brandenburg keinen Erfolg.
Zwischen den Parteien sei – so das Gericht – kein Arbeitsverhältnis nach den §§ 9 Abs. 1 Nr. 1b, 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG begründet worden. Die ÜHD sei durch den Einsatz des Klägers bei der Beklagten in der Zeit vom 01.09.2014 bis zum 31.05.2019 nicht überschritten worden. Die gesetzliche ÜHD von 18 Monaten sei wirksam auf 36 Monate – unter Berücksichtigung der Überlassungszeiten ab dem 01.04.2017 – verlängert worden.
Die ÜHD sei arbeitnehmer-, nicht arbeitsplatzbezogen zu bestimmen. Der Kläger sei der Beklagten im Zeitraum vom 01.09.2014 bis zum 31.05.2019 – nach Abzug der Elternzeit – insgesamt 55 Monate überlassen worden. Bezugspunkt der Einsatzzeit sei die Dauer der Eingliederung des überlassenen Arbeitnehmers in die Arbeitsorganisation eines Entleihers. Dies habe der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des AÜG und anderer Gesetze klargestellt. Die arbeitnehmerbezogene Berechnung der Überlassungsdauer sei mit dem Unionsrecht vereinbar.
Damit sei zwar die (gesetzliche) ÜHD von 18 Monaten nach § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG überschritten worden. Für die Parteien und die A GmbH sei aber die nach der GBV i.V.m. TV LeiZ, § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG festgelegte Höchstdauer von 36 Monaten ab dem 01.04.2017 maßgebend.
Nach § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG könne in einer Betriebsvereinbarung, die aufgrund eines Tarifvertrags nach § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG getroffen werde, eine abweichende ÜHD festgelegt werden. Diese müsse eine konkrete zeitliche Grenze bestimmen, durch die der „vorübergehende“ Charakter der Arbeitnehmerüberlassung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG gewahrt werde, selbst wenn in § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG keine Obergrenze festgelegt werde (vgl. BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21).
Durch eine Betriebsvereinbarung nach § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG werde die zulässige ÜHD nicht nur für den Entleiher als Betriebspartei, sondern zugleich für die überlassenen Zeitarbeitnehmer und den Verleiher geändert. Die Zuordnung der Regelungsmacht an die Betriebsparteien des Einsatzbetriebs folge aus der Zuweisung der tariflichen Regelungsmacht an die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche nach § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG. Eine auf dieser Grundlage geschlossene Betriebsvereinbarung solle die gleichen Auswirkungen wie der ihr zugrunde liegende Tarifvertrag haben. Nach dem gesetzgeberischen Konzept solle ein derartiger Tarifvertrag oder eine darauf aufsetzende Betriebsvereinbarung einheitlich die ÜHD für alle an der Überlassung Beteiligten (nämlich Entleiher, Verleiher und Zeitarbeitnehmer) ändern. Weder in § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG noch in § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG werde zwischen Entleih- und Verleihdauer unterschieden. Auch der Gesetzgeber gehe von einer (einheitlichen) ÜHD aus.
Die Geltung eines Tarifvertrags nach § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG, durch den die nach § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG gesetzlich festgelegte ÜHD abweichend geregelt werde, erfordere allein die Tarifgebundenheit des Entleihers. Für den Verleiher und den überlassenen Arbeitnehmer gelte die tarifliche Regelung unabhängig von deren Tarifgebundenheit. Es handle sich bei einer solchen weder um eine Inhalts- noch um eine Betriebsnorm i.S.d. §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 2 TVG. Vielmehr machten die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche von der ihnen vom Gesetzgeber eingeräumten Regelungsermächtigung Gebrauch, die sich von den in § 1 Abs. 1 TVG genannten Arten von Tarifnormen und deren unmittelbarer und zwingender Geltung unterscheide. Diese gesetzliche Strukturierung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch das Unionsrecht stehe dieser nicht entgegen (BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21; BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 83/21; BAG, Urt. v. 05.04.2023 - 7 AZR 224/22).
Die für die Parteien und die Verleiherin maßgebende ÜHD habe durch die GBV in Verbindung mit dem TV LeiZ auf 36 Monate ab dem 01.04.2017 ohne Berücksichtigung vorheriger Überlassungszeiten verlängert werden können.
Der Gesamtbetriebsrat sei für deren Abschluss nach § 50 Abs. 1 BetrVG zuständig gewesen. Der TV LeiZ sei wirksam zustande gekommen. Die IG Metall und der VME seien als Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche nach § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG tarifzuständig.
Der TV LeiZ gestatte die Festlegung einer von 48 Monaten, die tariflich zulässig wären, abweichenden ÜHD durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung. Die in Nr. 2 TV LeiZ genannten arbeitsplatzbezogenen Merkmale stünden dem nicht entgegen. Die Tarifvertragsparteien wollten mit der Regelung keine zusätzlichen Kriterien für die mögliche Verlängerung der ÜHD durch eine Betriebsvereinbarung einführen. Eine derartige Bedeutung komme der Norm auch nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG (vgl. Urt. v. 08.11.2022 - 9 AZR 486/21) nicht zu. So habe das BAG zu § 2 Nr. 2 TV LeiZ ausgeführt, dass die Nichteinhaltung qualitativer oder quantitativer Anforderungen an die durch Zeitarbeitnehmer zu besetzenden Arbeitsplätze den Betriebsrat dazu berechtigen möge, seine Zustimmung zur beabsichtigten Einstellung zu verweigern (vgl. BAG, Beschl. v. 30.09.2014 - 1 ABR 79/12). Eine weiter gehende Bedeutung der Tarifregelung habe es – jedenfalls bisher – abgelehnt.
Die Nichterfüllung der Voraussetzungen nach Nr. 2.1 TV LeiZ, auf die sich der Kläger berufe und in diesem Zusammenhang eine befristete Überlassung bestreite, hätte nur zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses führen können, wenn wegen der Nichtanwendbarkeit der Bestimmungen des TV LeiZ die gesetzliche ÜHD maßgeblich gewesen wäre. Soweit die Tarifvertragsparteien in Nr. 2 TV LeiZ nämlich einen vorübergehenden Einsatz nicht nur an die Einhaltung der tarifvertraglichen ÜHD, sondern auch an arbeitsplatzbezogene Merkmale knüpften, führe eine Verletzung dieser Vorgaben nicht zur Anwendung des Rechtsfolgensystems in den §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG. § 9 Abs. 1 Nr. 1b AÜG ordne die zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG führende Unwirksamkeit des Arbeitsverhältnisses nur für den Fall der Überschreitung der „zulässigen ÜHD nach § 1 Abs. 1b“ AÜG an. Das Rechtsfolgensystem sei insoweit abschließend. Für die Verletzung anderweitiger, den Begriff des vorübergehenden Einsatzes weiter gehend einschränkender Bestimmungen sehe das Gesetz diese Rechtsfolge nicht vor. Der (Fort-)Bestand des Zeitarbeitsverhältnisses zum Verleiher bleibe bei einer gegen die einschränkenden Regelungen verstoßenden Beschäftigung mangels gesetzlicher Anordnung unberührt (vgl. BAG, Urt. v. 08.11.2022 - 9 AZR 486/21).
Die in der GBV vorgesehene ÜHD von 36 Monaten unterschreite die im TV LeiZ vorgegebene maximale Überlassungszeit von 48 Monaten und halte sich im Rahmen dessen, was als „vorübergehend“ i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG anzusehen sei. „Vorübergehend“ bedeute nach dem allgemeinen Sprachgebrauch „zeitlich begrenzt“. Nicht „vorübergehend“ sei eine Überlassung, wenn sie unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählten, vernünftigerweise nicht mehr als „vorübergehend“ betrachtet werden könne. Dies sei jedenfalls der Fall, wenn die Überlassung ohne jegliche zeitliche Begrenzung erfolge und der Zeitarbeitnehmer dauerhaft anstelle eines Stammarbeitnehmers eingesetzt werden solle. Aus den Regelungen nach § 1 Abs. 1b Sätze 1, 6 AÜG, die die ÜHD außerhalb der Geltung eines Tarifvertrags auf 18 und 24 Monate festlegten, ergebe sich zudem, dass eine „vorübergehende“ Überlassung diesen Zeitraum übersteigen könne (vgl. BAG, Urt. v. 05.04.2023 - 7 AZR 224/22).
Danach sei die vereinbarte ÜHD als „vorübergehend“ anzusehen. Sie stelle eine hinreichend konkrete Obergrenze dar, die deutlich unterhalb derjenigen liege, die die Tarifvertragsparteien im TV LeiZ als ÜHD festgelegt hätten. Da hinsichtlich des TV LeiZ aufgrund des den Tarifvertragsparteien zustehenden Gestaltungsspielraums und deren Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen davon auszugehen sei, dass die Branchenbesonderheiten hinreichend Berücksichtigung gefunden hätten, sei dies auch hinsichtlich der sich in diesem Rahmen haltenden GBV anzunehmen. Ein Zeitraum von drei Jahren könne darüber hinaus nicht als dauerhaft angesehen werden, zumal damit die in § 1 Abs. 1b Sätze 1, 6 AÜG vorgesehenen Grenzen nicht um ein Vielfaches überschritten würden (vgl. BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21).
Der in GBV enthaltene Ausschluss der Berücksichtigung von Überlassungszeiten vor dem 01.04.2017 bei der Berechnung entspreche der ohnehin für alle Überlassungszeiten nach § 1 Abs. 1b AÜG angeordneten gesetzlichen Regelung in § 19 Abs. 2 AÜG. Zwar stehe diese Bestimmung nicht im Einklang mit Unionsrecht. Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privaten anhängig sei, sei allerdings nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen, die für die Anwendung einer Regelung, die eine Höchstdauer der Überlassung eines Zeitarbeitnehmers festlege, die Berücksichtigung der dem Inkrafttreten dieser Regelung vorausgegangenen Überlassungszeiträume ausschließe (vgl. BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21). Die ÜHD von 36 Monaten sei durch den Einsatz des Klägers in der Zeit vom 01.04.2017 bis zum 31.05.2019 (= 26 Monate) nicht überschritten worden.
Aus einem Verstoß gegen das Verbot der vorübergehenden Überlassung nach § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG könne die begehrte Rechtsfolge nicht hergeleitet werden. Dabei handle es sich zwar um eine rechtlich unzulässige Gestaltung. Ein mehr als nur vorübergehender Einsatz eines Zeitarbeitnehmers bei einem Entleiher sei verboten. Für die Prüfung, ob es sich noch um eine „vorübergehende“ Überlassung handle, wären alle Überlassungszeiten des Klägers zu berücksichtigen, da § 19 Abs. 2 AÜG nur die Berechnung der ÜHD nach § 1 Abs. 1b AÜG betreffe. Selbst wenn die gesamte Überlassungsdauer (ab dem 01.09.2014) nicht mehr als „vorübergehend“ angesehen werden könnte, hätte dies nicht die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zwischen der Beklagten und dem Kläger zur Folge. § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG fingiere ein solches nur für die Fälle, in denen der Vertrag zwischen einem Verleiher und einem Zeitarbeitnehmer nach § 9 AÜG unwirksam sei. Dies sei bei einem Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG mangels Erwähnung in § 9 AÜG nicht der Fall. Eine analoge Anwendung von § 9 Abs. 1 Nr. 1b AÜG scheide mangels planwidriger Regelungslücke aus (BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21).
Das Unionsrecht gebiete keine andere Auslegung von § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG. Vorgaben zum Inhalt der Maßnahmen und Sanktionen zur Umsetzung der Zeitarbeitsrichtlinie mache diese nicht, insbesondere sei nicht die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher vorgeschrieben. Ein Zeitarbeitnehmer könne daher wegen eines solchen Verstoßes kein entsprechendes subjektives Recht aus dem Unionsrecht ableiten (vgl. BAG, Urt. v. 05.07.2022 - 9 AZR 476/21). Das gelte auch für den Fall, dass die Richtlinie mangels einer wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktion unzureichend umgesetzt worden sein sollte. Der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigten Partei könnten allenfalls Schadensersatzansprüche zustehen. Gleiches gelte für den Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs. Habe sich der Gesetzgeber – wie vorliegend hinsichtlich § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG – entschieden, einen Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot nicht mit der Sanktion der Begründung eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher zu versehen, dürfe diese Rechtsfolge nicht über § 242 BGB herbeigeführt werden (BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21).


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des LArbG Berlin-Brandenburg hinsichtlich der von dem klagenden Zeitarbeitnehmer geltend gemachten (gesetzlichen) Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zwischen ihm und dem Entleiher wegen der Überschreitung der ÜHD überzeugt sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung.
Sie liegt auf der Linie der Rechtsprechung des EuGH und des BAG, deren Grundsätze sich insbesondere aufgrund eines Urteils des Vierten Senats vom 14.09.2022 (4 AZR 26/21) zu einem vergleichbar gelagerten Sachverhalt zu der hiesig relevanten GBV (allerdings auf Grundlage des TV LeiZ Baden-Württemberg) wie folgt zusammenfassen lassen:
Die maßgebliche Einsatzdauer des Zeitarbeitnehmers zur Berechnung der ÜHD ist – ohne Verstoß gegen europarechtliche Vorgaben – arbeitnehmer- und nicht arbeitsplatzbezogen zu bestimmen. Es kommt folglich darauf an, wie lange der jeweilige Zeitarbeitnehmer an den Entleiher (rechtsträgerbezogene Bestimmung!) überlassen wird; grundsätzlich ist nicht entscheidend, wie lange ein Arbeitsplatz bei dem Entleiher mit – ggf. wechselnden – Zeitarbeitnehmern besetzt wird.
Die tarifliche Öffnungsklausel gemäß § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG ist verfassungsgemäß. Die Regelungen in § 1 Abs. 1b Sätze 3, 5 AÜG verstoßen auch nicht gegen Unionsrecht.
Nach dem gesetzgeberischen Konzept des § 1 Abs. 1b AÜG besteht eine einheitliche ÜHD. Für die Geltung eines Tarifvertrags, der die gesetzliche ÜHD verlängert, ist einzig die Tarifgebundenheit des Entleihers, nicht hingegen des Verleihers und/oder des Zeitarbeitnehmers erforderlich.
Durch eine Betriebsvereinbarung nach § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG wird die zulässige ÜHD nicht nur für den Entleiher als Betriebspartei, sondern zugleich für den überlassenen Zeitarbeitnehmer und den Verleiher geändert. Die Zuordnung der Regelungsmacht an die Betriebsparteien des Einsatzbetriebs folgt aus der Zuweisung der tariflichen Regelungsmacht an die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche in § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG. Eine auf dieser Grundlage nach § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG geschlossene Betriebsvereinbarung soll die gleichen Auswirkungen wie der ihr zugrunde liegende Tarifvertrag nach § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG haben.
§ 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG nennt zwar keine Obergrenze für die in einer Betriebsvereinbarung vorgesehene ÜHD. Nach dem Wortlaut der Vorschrift muss eine solche aber in der maßgebenden Betriebsvereinbarung festgelegt werden. Dies erfordert die konkrete Benennung einer ÜHD.
Die in einer Betriebsvereinbarung – wie vorliegend – vorgesehene maximale ÜHD von 36 Monaten ist nicht zu beanstanden. Dies gilt nach Auffassung des BAG auch für eine ÜHD von 48 Monaten, die in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung festgelegt werden (vgl. BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 83/21; BAG, Urt. v. 08.11.2022 - 9 AZR 486/21).
Die im TV LeiZ genannten arbeitsplatzbezogenen Merkmale stehen einer Verlängerung der ÜHD durch eine Betriebsvereinbarung nicht entgegen. Die Betriebspartner sind nicht verpflichtet, diese uneingeschränkt oder modifiziert zu übernehmen. Soweit die Tarifvertragsparteien im TV LeiZ einen vorübergehenden Einsatz nicht nur an die Einhaltung der tarifvertraglichen ÜHD, sondern ergänzend an arbeitsplatzbezogene Merkmale knüpfen, führt eine Verletzung dieser Vorgaben nicht zur Anwendung des Rechtsfolgensystems der §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG und damit nicht zu einer Fiktion eines Arbeitsverhältnisses.
Die Übergangsregelung gemäß § 19 Abs. 2 AÜG ist europarechtswidrig, muss aber von den Gerichten in einem Rechtsstreit zwischen Privaten gleichwohl angewendet werden (vgl. BAG, Urt. v. 24.05.2022 - 9 AZR 337/21; BAG, Urt. v. 08.11.2022 - 9 AZR 486/21; LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 18.06.2024 - 8 Sa 20/24 m.w.N.). Dies gilt auch für eine in einer Betriebsvereinbarung vorgesehene Übergangsvorschrift, die dem Regelungsgehalt von § 19 Abs. 2 AÜG entspricht. Dies bedeutet, dass Überlassungszeiten des Zeitarbeitnehmers vor dem 01.04.2017 bei der Bestimmung der ÜHD nach § 1 Abs. 1b Satz 1 bis 8 AÜG nicht zu berücksichtigen sind (vgl. BAG, Urt. v. 08.11.2022 - 9 AZR 486/21).
Bei der Bewertung, ob der Einsatz eines Zeitarbeitnehmers noch als „vorübergehend“ gemäß § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG zu qualifizieren ist, sind Überlassungszeiten vor dem 01.04.2017 hingegen zu berücksichtigen; § 19 Abs. 2 AÜG ist bereits nach seinem Wortlaut nicht einschlägig (vgl. Hamann, jurisPR-ArbR 17/2022 Anm. 8). Der Verstoß gegen das Gebot der „vorübergehenden“ Überlassung führt nicht zu einer Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zwischen dem Entleiher und dem Zeitarbeitnehmer. Die §§ 9 Abs. 1 Nr. 1b, 10 Abs. 1 AÜG sind weder direkt noch analog anwendbar. Diese Rechtsfolge lässt sich auch nicht aus den Grundsätzen des Rechtsmissbrauchs ableiten. Wegen einer nicht hinreichenden Umsetzung der Zeitarbeitsrichtlinie durch den Gesetzgeber ist der Zeitarbeitnehmer auf Schadensersatzansprüche zu verweisen, die dieser gegen die Bundesrepublik Deutschland zu richten hat.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die besprochene Entscheidung des LArbG Berlin-Brandenburg überrascht nicht, waren deren Ergebnis durch die Vorgaben des EuGH und deren Umsetzung durch das BAG (Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21) in einem vergleichbar gelagerten Sachverhalt, bei der es um die Auslegung und Anwendung des TV LeiZ (Baden-Württemberg) in Zusammenschau mit der GBV ging, vorgezeichnet. Interessant ist, dass das BAG das vorlegende LArbG Berlin-Brandenburg „überholt“ hat, indem es bereits sechs Monate nach dem Urteil des EuGH vom 17.03.2022 (C-232/20) über eine dort anhängige Sache zur ÜHD entschieden hat (BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 26/21); das LArbG Berlin-Brandenburg hat sich dafür immerhin über zwei Jahre Zeit gelassen.
Die maßgeblichen Fragen zur ÜHD nach § 1 Abs. 1 Satz 4, Abs. 1b AÜG sind inzwischen geklärt. Offen ist weiterhin, welche Höchstgrenze die Rechtsprechung bei der Verlängerung der ÜHD bereit ist, noch als „vorübergehend“ zu akzeptieren. 36 bzw. 48 Monate sind vom BAG bereits „abgenickt“ worden, jedoch ist noch Luft nach oben. Wann die Verlängerung tatsächlich kippt und die ÜHD nicht mehr als „vorübergehend“ zu qualifizieren ist, wird lediglich im jeweiligen Einzelfall entschieden werden können. Hier bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten. Je weiter sich ein Tarifvertrag bzw. eine auf dessen Grundlage abgeschlossene Betriebsvereinbarung von den 48 Monaten entfernt, desto höher wird das Risiko sein, das die Tarif- bzw. Betriebsparteien eingehen, die gesetzlichen und europarechtlichen Grenzen zu reißen. Offen ist weiterhin, ob die Regelungen in § 1 Abs. 1 Sätze 4, 6 AÜG europa- bzw. verfassungskonform sind; auf diese Frage kam es in der hiesig besprochenen Entscheidung jedoch nicht an.
Die LArbG Berlin-Brandenburg hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen zugelassen. Dies ist tatsächlich etwas überraschend, liegt doch ein höchstrichterliches Urteil des BAG vom 14.09.2022 (4 AZR 26/21) zu der GBV und den hiesig relevanten Fragen vor. Die Revision ist nach Auskunft des LArbG Berlin-Brandenburg nicht eingelegt worden; die Entscheidung ist folglich rechtskräftig geworden.



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