juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BAG 1. Senat, Beschluss vom 15.11.2022 - 1 ABR 5/22
Autoren:Matthias Baring, LL.M., RA und FA für Arbeitsrecht,
Raphaela Warnecke, Rechtsreferendarin
Erscheinungsdatum:26.03.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 87 BetrVG, § 5 EntgFG, § 3 BetrVG
Fundstelle:jurisPR-ArbR 12/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Baring/Warnecke, jurisPR-ArbR 12/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Keine Mitbestimmung bei „Attestauflage“



Orientierungssatz zur Anmerkung

Der Umstand, dass potenziell allen Arbeitnehmern im Unternehmen eine „Attestauflage“ erteilt werden könnte, begründet keinen kollektiven Bezug der einzelnen Maßnahmen.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit der Betriebsrat bei der Aufforderung zur vorzeitigen Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG mitzubestimmen hat.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Arbeitgeberin beschäftigte circa 1.175 Arbeitnehmer. Innerhalb von drei Jahren erteilte die Arbeitgeberin insgesamt 17 Arbeitnehmern folgende Anordnung:
„In Abstimmung zwischen Ihrem Fachvorgesetzten und dem Personalleiter sind Sie ab Erhalt dieses Schreibens bis auf Widerruf dazu verpflichtet, jede Krankmeldung durch ein ärztliches Attest – vom ersten Fehltag an – im Service Center Personal vorzulegen.“
Der Betriebsrat war der Auffassung, er hätte vorher beteiligt werden müssen.
Das BAG verneinte jedoch ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats.
Zwar sei bei der Verpflichtung des Arbeitnehmers, bereits mit dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, das Ordnungsverhalten i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG berührt. Es fehle in dem zu entscheidenden Fall jedoch an einem kollektiven Bezug. Ein solcher kollektiver Bezug bestünde nur dann, wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmer nach festen Vorgaben zur Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung bereits am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit verpflichte. Das BAG sah im konkreten Fall nicht genügend Anhaltspunkte für solche Vorgaben. Der Umstand allein, dass allen Arbeitnehmern eine „Attestauflage“ erteilt werden könnte, genüge nicht für die Annahme eines kollektiven Bezugs.
Die „Attestauflage“ sollte vorliegend erst nach einer Abstimmung zwischen dem jeweiligen Fachvorgesetzten und dem Personalleiter erfolgen. Für das BAG sprach dieses Abstimmungserfordernis gegen das Vorliegen fester Vorgaben, da die Abstimmung im Einzelfall erfolge.
Ein kollektiver Bezug ergäbe sich auch nicht daraus, dass die „Attestauflage“ inhaltlich und gleichförmig ausgestaltet worden sei. Denn die Ausgestaltung einer solchen Auflage betreffe nicht das „Ob“ der Ausübung des Rechts aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG, sondern das „Wie“. Die Vorgaben hinsichtlich des Verfahrens betreffe allein das Arbeitsverhalten der Vorgesetzten, nicht deren Ordnungsverhalten, so dass sich auch insofern kein Mitbestimmungsrecht ergebe.
Schließlich könne nicht aus der Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer auf eine regelhafte Erteilung der „Attestauflage“ geschlossen werden, da nur 17 von insgesamt mehr als 1.000 Beschäftigten eine solche Auflage erhalten haben.
Ebenso wenig war es für das BAG ausreichend, dass die „Attestauflagen“ Arbeitnehmer mit häufigen Kurzerkrankungen und hohen Fehlzeiten mit vielen Einzelfehltagen betrafen. Es genüge nicht, wenn für den Arbeitgeber im Allgemeinen höhere Krankheits- oder Fehlzeiten Anlass dafür seien, das Bestimmungsrecht nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG auszuüben. Der Betriebsrat habe gerade nicht vorgetragen, dass die „Attestauflage“ ab einer bestimmten Anzahl an Fehltagen – unabhängig vom Einzelfall – erteilt worden sei.


C.
Kontext der Entscheidung
Mit diesem Beschluss entschied das BAG erstmals, unter welchen Voraussetzungen der Betriebsrat bei der Anordnung der Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG mitzubestimmen hat. Dabei ordnet das BAG eine entsprechende Vorlagepflicht dem Ordnungsverhalten zu und nicht dem mitbestimmungsfreien Arbeitsverhalten. Eine Mitbestimmungsflicht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG kommt daher grundsätzlich in Betracht.
Das Mitbestimmungsrecht setzt aber auch einen kollektiven Tatbestand voraus. Nach allgemeinen Grundsätzen muss der Betriebsrat darlegen, dass ein solcher kollektiver Bezug besteht. Das BAG legt an die Darlegung eines solchen einen strengen Maßstab an. Aufgrund dieses strengen Maßstabes muss der Betriebsrat konkret darlegen, nach welchen Regeln der Arbeitgeber „Attestauflagen“ erteilt bzw. von welchen festen Regeln der Betriebsrat ausgeht. Ob diese Regeln tatsächlich bestehen, ist von den Arbeitsgerichten dann im Rahmen der Amtsermittlung zu klären.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das BAG stellt klar, dass die Vorlageaufforderung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG dem Ordnungsverhalten zuzuordnen ist und der Arbeitgeber das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG grundsätzlich beachten muss. Dabei kommt es jedoch auf den Einzelfall an. Nur wenn der Arbeitgeber Voraussetzungen festlegt, bei deren Erfüllung eine „Attestauflage“ erteilt wird, hat der Betriebsrat tatsächlich mitzubestimmen. Die Auflage muss sich also auf den Arbeitsplatz als solchen beziehen und nicht auf einen Arbeitnehmer persönlich.
Insoweit besteht ein Spannungsverhältnis mit dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der im Rahmen des § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG zu beachten ist. Will der Arbeitgeber aber keine festen Regeln für die „Attestauflage“ aufstellen, um kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auszulösen, kann es im Einzelfall zu einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz kommen.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Das BAG sah den Betriebsrat als beteiligtenfähig an, obwohl die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG streitig waren. Eine etwaige Nichtigkeit des Zuordnungstarifvertrages mache die Betriebsratswahl anfechtbar, nicht aber nichtig.



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