juris PraxisReporte

Anmerkung zu:LArbG Köln 9. Kammer, Beschluss vom 16.05.2024 - 9 TaBV 24/24
Autor:Dr. Christoph Löbig, Einigungsstellenvorsitzender, Mediator und Schlichter
Erscheinungsdatum:24.07.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 87 BetrVG, § 76 BetrVG, § 100 ArbGG, § 2 BetrVG, § 266 StGB
Fundstelle:jurisPR-ArbR 29/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Löbig, jurisPR-ArbR 29/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Keine wirksame Errichtung der Einigungsstelle vor formeller Rechtskraft des gerichtlichen Einsetzungsbeschlusses



Leitsatz

Auch in Eilfällen keine Entscheidungskompetenz der Einigungsstelle vor formeller Rechtskraft des gerichtlichen Einsetzungsbeschlusses.



A.
Problemstellung
In vielen mitbestimmten Betrieben fehlt es bis in die Gegenwart an gut durchdachten Betriebsvereinbarungen zur Dienstplanung, mit denen sichergestellt wird, dass die Mitarbeitenden möglichst frühzeitig und rechtsverbindlich erfahren, wann sie im jeweiligen Planungszeitraum zu arbeiten bzw. arbeitsfrei haben.
Ein zentraler Bestandteil solcher Betriebsvereinbarungen besteht in der Festlegung der einzelnen Verfahrensschritte, die von den Prozessbeteiligten auf dem Weg zur mitbestimmten Dienstplanung zu durchlaufen sind. Typischerweise beginnt der zu beschreibende Verfahrensablauf mit der Hinterlegung von Planungswünschen durch die Mitarbeitenden (idealerweise: direkt in der jeweiligen Dienstplanungs-Software) und endet mit Regelungen zur Veröffentlichung der mitbestimmten Dienstplanung. Sofern es auf diesem Weg zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Betriebsparteien über die Inhalte der Dienstplanung kommt, sehen gut durchdachte Betriebsvereinbarungen (1.) interne und – bei Bedarf – (2.) externe Konfliktlösungsmechanismen, insbesondere das Zusammentreten einer (ständigen) Einigungsstelle i.S.d. § 76 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, vor. In zeitlicher Hinsicht müssen diese Konfliktlösungsmechanismen so konstruiert werden, dass es zu keinem Zeitpunkt zu einem „dienstplanfreien“ Zustand im Betrieb kommen kann. Das „i-Tüpfelchen“ gut durchdachter Betriebsvereinbarungen zur Dienstplanung bilden Regelungen zu „intelligenten“ Ausfallkonzepten, die es dem Arbeitgeber – mit Zustimmung des Mitarbeiters gegen Zahlung einer attraktiven Prämie – erlauben, flexible Sonderdienstformen (z.B. „Flex-Wochen“) in die Dienstplanung einzubauen. Dadurch lassen sich die vielen Dienstplanänderungen, die aufgrund von kurzfristigen Personalausfällen typischerweise erforderlich werden, (auch betriebsverfassungsrechtlich) in den Griff bekommen.
Die Besprechungsentscheidung veranschaulicht, warum es sich für Arbeitgeber und Betriebsräte lohnt, die mit der Erstellung einer solchen Betriebsvereinbarung verbundenen Mühen auf sich zu nehmen. Sie bildet zugleich ein Negativbeispiel für die vom Gesetzgeber eingeforderte vertrauensvolle Zusammenarbeit der Betriebsparteien.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Nachdem mit dem beteiligten Betriebsrat keine Einigung über die Personaleinsatzplanungen für insgesamt elf Einzelhandelsfilialen betreffend die Kalenderwochen 19 bis 22/2024 erzielt werden konnte, leitete der Arbeitgeber am 24.04.2024 ein Beschlussverfahren nach § 100 Abs. 1 ArbGG beim ArbG Köln ein, um die Festlegung von Beginn und Ende der Arbeits- und Pausenzeiten der Mitarbeitenden im vorgenannten Zeitraum in der Einigungsstelle gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BetrVG zu erzwingen.
Nach Anhörung der Beteiligten am 03.05.2024 – drei Tage vor Beginn der ersten regelungsgegenständlichen Personaleinsatzplanung – setzte das ArbG Köln die begehrte Einigungsstelle noch am gleichen Abend um 18:00 Uhr auf Antrag des Arbeitgebers ein. Hinsichtlich der Besetzung der Einigungsstelle – Vorsitzender und zwei Beisitzer – entsprach die 13. Kammer den Vorstellungen des Arbeitgebers.
Noch vor Zustellung des Einsetzungsbeschlusses an den Betriebsrat am 07.05.2024 lud der erstinstanzlich bestellte Einigungsstellenvorsitzende die Beteiligten und ihre Verfahrensbevollmächtigten mit einem am 03.05.2024, 20:46 Uhr, versandten E-Mail-Schreiben zur Sitzung der Einigungsstelle am Samstag, 04.05.2024, 13:00 Uhr, in seine Kanzleiräumlichkeiten.
Zur konstituierenden Sitzung der Einigungsstelle erschienen nur die Beisitzer des Arbeitgebers.
Kurz nach Sitzungsbeginn teilte der Verfahrensbevollmächtigte des Betriebsrats dem Einigungsstellenvorsitzenden und den Beisitzern des Arbeitgebers per E-Mail-Schreiben mit, dass vonseiten des Betriebsrats niemand an der Einigungsstellsitzung teilnehmen werde. Er wies zudem darauf hin, dass der Betriebsrat den bestellten Vorsitzenden ablehne und Rechtsmittel gegen den Einsetzungsbeschluss einlegen werde.
Der Einigungsstellenvorsitzende setzte die Verhandlungen dennoch fort. Um 19:55 Uhr genehmigte die Einigungsstelle die regelungsgegenständlichen Personaleinsatzplanungen per Spruch.
Noch am gleichen Abend, 22:19 Uhr, ging beim LArbG Köln die (zugleich begründete) Beschwerde des Betriebsrats gegen den erstinstanzlichen Einsetzungsbeschluss ein.
Während der Betriebsrat im Rechtsmittelprozess die Auffassung vertrat, die konstituierende Sitzung der Einigungsstelle habe mangels formeller Rechtskraft des erstinstanzlichen Einsetzungsbeschlusses am 04.05.2024 überhaupt nicht durchgeführt werden dürfen, weshalb auch die gefassten Beschlüsse rechtlich bedeutungslos seien, stellte sich die Arbeitgeberin auf den Standpunkt, dass ein vom Arbeitsgericht bestellter Vorsitzender das Einigungsstellenverfahren – gerade bei zeitkritischen Regelungsangelegenheiten, deren Erledigung konkret durch bloßen Zeitablauf droht – bereits vor Rechtskraft des Einsetzungsbeschlusses aufnehmen dürfe, um zu versuchen, die Meinungsverschiedenheiten der Betriebsparteien möglichst umgehend zu lösen. Selbst wenn das Rechtsmittel der Beschwerde einen Suspensiveffekt bewirken sollte, könne die aufschiebende Wirkung erst mit Anhängigmachen des Rechtsmittels beim Beschwerdegericht eintreten. Zu diesem Zeitpunkt (22:19 Uhr) war das Einigungsstellenverfahren jedoch bereits abgeschlossen (19:55 Uhr) gewesen.
Das LArbG Köln hat der Beschwerde stattgegeben und die Einigungsstelle unter einem anderen Vorsitzenden bei gleichbleibender Beisitzeranzahl eingesetzt. Der Regelungsauftrag der Einigungsstelle wurde wegen teilweiser Erledigung durch Zeitablauf auf die Verhandlung und Aufstellung der Personaleinsatzplanungen für die Kalenderwochen 21 und 22/2024 beschränkt. Die Beschlussfassung in der Einigungsstelle vom 04.05.2024 hat das Gericht mangels Rechtskraft des erstinstanzlichen Einsetzungsbeschlusses für unwirksam erachtet. Der Spruch der Einigungsstelle habe die fehlende Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nicht ersetzen können, § 87 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BetrVG.
Die Kammer betont, dass es sich bei Einsetzungsbeschlüssen i.S.d. § 100 Abs. 1 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 76 Abs. 2 Sätze 2, 3 BetrVG um rechtsgestaltende Akte handelt, die ihrem Wesen nach ex nunc wirken (vgl. BAG, Urt. v. 07.03.1996 - 2 AZR 432/95 Rn. 16). Eine Änderung der Rechtslage tritt damit erst mit formeller Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung ein. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Einigungsstelle nicht wirksam errichtet. Auf die Frage der aufschiebenden Wirkung kommt es (folgerichtig) nicht an. Dies gelte auch in eiligen Angelegenheiten. Der Eilbedürftigkeit trage § 100 ArbGG durch die stark abgekürzten Fristen bereits ausreichend Rechnung.
Die Leitung der Einigungsstelle sei wegen beachtlicher Einwände des Betriebsrats einem anderen Vorsitzenden anzuvertrauen gewesen: „Die überhastete Anberaumung der Einigungsstellensitzung auf einen Termin am Wochenende sowie die Durchführung des Einigungsstellenverfahrens trotz von dem Verfahrensbevollmächtigten angekündigten Einlegung der Beschwerde lassen nicht erwarten, dass das Einigungsstellenverfahren (von dem erstinstanzlich bestellten Vorsitzenden) vertrauensvoll durchgeführt werden könnte.“


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist inhaltlich nicht zu kritisieren und trifft in der Kommentarliteratur überwiegend auf Zustimmung (vgl. Roloff in: BeckOK ArbR, § 100 ArbGG Rn. 20; Schlewing/Künzl in: GMP, ArbGG, § 100 Rn. 37; a.A. Bengelsdorf, BB 1991, 613, 619).
Der erstinstanzlich bestellte Vorsitzende hat einen Verfahrensfehler begangen, indem er die konstituierende Sitzung der Einigungsstelle trotz positiver Kenntnis über die Einlegung der Beschwerde durch den Betriebsrat durchgeführt hat. Spätestens mit Erlangung dieser Kenntnis hätte die Sitzung abgebrochen werden müssen.
Die gerichtliche Bestellung eines anderen Vorsitzenden durch das LArbG Köln war vorliegend geboten. Dem erstinstanzlich bestellten Vorsitzenden fehlte offensichtlich die erforderliche Distanz zum Konflikt der Beteiligten. Diese ist für erfolgreiches Konfliktmanagement jedoch unerlässlich.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Auswirkungen der Entscheidung, die Rechtsklarheit bringt, dürften eher gering sein. Aus der Einigungsstellenpraxis sind jedenfalls kaum vergleichbare Fallkonstellationen bekannt. Vorsitzende, die vor Ablauf der Rechtsmittelfrist zur konstituierenden Sitzung der Einigungsstelle einladen, haben sich vorab bei den Beteiligten zu vergewissern und sich bestätigen zu lassen, dass wechselseitig Einverständnis mit der Bildung der Einigungsstelle besteht und gegen die erstinstanzliche Einsetzungsentscheidung kein Rechtsmittel eingelegt wurde bzw. werden wird. Andernfalls kann das Einigungsstellenverfahren noch nicht beginnen.
Bemerkenswert ist, dass das im Tatbestand der Besprechungsentscheidung im Einzelnen dokumentierte (Prozess-)Verhalten des Betriebsrats und seines Verfahrensbevollmächtigten, das jedwede konstruktive Mitwirkung an einer Lösungsfindung zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs (§ 2 Abs. 1 BetrVG) vermissen lässt, und das offensichtlich auf „Zeitspiel“ und Schadensmaximierung beim Arbeitgeber ausgerichtet war, aus den eigenen Reihen (!) heftig kritisiert wird.
Zitat aus dem E-Mail-Newsletter des renommierten Poko-Instituts für Betriebsratsbildung vom 02.07.2024:
„Die Entscheidung (…) zeigt deutlich, dass vertrauensvolle Zusammenarbeit von beiden Seiten gewollt sein und gelebt werden muss. Ansonsten kann eine Verweigerungshaltung des Betriebsrats dazu führen, dass im Betrieb nicht gearbeitet werden kann, mit möglicherweise erheblichen Schäden auf Arbeitgeberseite und der Gefahr des dauerhaften Abbaus von Arbeitsplätzen. In der Praxis der letzten Monate zeigt sich – initiiert durch bestimmte Rechtsanwält*innen auf Betriebsratsseite – eine ‚Verrohung der Sitten‘. Es geht nicht mehr um die Sache, sondern darum, den Betriebsfrieden zu stören, Kleinigkeiten zum Arbeitsgericht oder in die Einigungsstelle zu tragen und möglichst viele Stunden abrechnen zu können. Betriebsräte sollten sich gut überlegen, ob es Sinn macht, solche Rechtsanwält*innen zu beauftragen oder ob es nicht besser ist, in der Sache ernsthaft zu verhandeln und einen möglichst guten Kompromiss zu erzielen.“
Hintergrund dieser bedauerlichen Entwicklungen, die auch ich beobachte, dürfte die immer weiter sinkende Bereitschaft von Arbeitgebern sein, sich auf Kopplungsgeschäfte mit ihren Betriebsräten einzulassen. In der Einigungsstellenpraxis ist jedenfalls festzustellen, dass dort, wo früher die Lösung eines Konflikts gelegen haben mag, heute vermehrt und unmissverständlich auf die Grenzen des einschlägigen Mitbestimmungsrechts, auf die fehlende Erzwingbarkeit gewisser Forderungspakete von Betriebsräten und immer wieder auch auf den Untreuetatbestand des § 266 StGB verwiesen wird. Häufig sind die Formalisierung und Verrechtlichung des Konflikts die Konsequenz.
Fliegen zwischen den Betriebsparteien wieder einmal „die Fetzen“, sollten sich Arbeitgeber und Betriebsrat im Interesse des Betriebs und der Mitarbeitenden darauf fokussieren, ihre Verhandlungen sachorientiert und eng entlang des jeweils in Rede stehenden Mitbestimmungsrechts zu führen. Betriebliche Mitbestimmung muss Mehrwerte erschaffen; sie darf nie zum Selbstzweck ausgeübt werden; andernfalls wird sie auf Dauer keine Legitimation mehr in der Belegschaft erfahren und – man richte den Blick kritisch auf die „Reformen“ der Personalvertretungsgesetze in diesem Land – womöglich irgendwann durch den Gesetzgeber zusammengestutzt. Daran sollten auch Einigungsstellenvorsitzende die Betriebsparteien und ihre Beisitzer bei Bedarf immer wieder erinnern.



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!