juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BAG 2. Senat, Urteil vom 20.06.2024 - 2 AZR 156/23
Autor:Dr. Jochen Sievers, Vors. RiLArbG
Erscheinungsdatum:28.08.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 123 BGB, § 313 BGB, § 166 BGB, § 162 BGB, § 323 BGB, § 326 BGB
Fundstelle:jurisPR-ArbR 34/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Sievers, jurisPR-ArbR 34/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anfechtung eines Prozessvergleichs



Leitsatz

Ein Prozessvergleich kann nur mit Erfolg nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB angefochten werden, wenn die arglistige Täuschung durch den Anfechtungsgegner für die Annahmeerklärung des Anfechtenden kausal geworden ist. Das ist nicht der Fall, wenn der Anfechtende im Zeitpunkt der vermeintlichen Täuschung dem Vergleich bereits unwiderruflich zugestimmt hatte.



A.
Problemstellung
Im Rahmen einer Kündigungsschutzklage geschlossene Vergleiche sehen regelmäßig die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung vor. Diese wird dem Arbeitnehmer als Gegenleistung für seine Zustimmung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses versprochen. Damit geht der Arbeitnehmer ein Risiko ein. Er kann die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr verhindern, kann aber noch nicht über die ihm versprochene Abfindung verfügen. Stellt sich später heraus, dass die frühere Arbeitgeberin nicht zahlen kann, liegt es aus Sicht des Arbeitnehmers nahe, seine Zustimmung zu der Beendigung wieder „aus der Welt zu schaffen“. Mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen dies möglich ist, hat sich das BAG in einer grundlegenden Entscheidung befasst.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin und ihre damalige Arbeitgeberin hatten am 25.05.2020 einen Vergleich geschlossen, der eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung vorsah. Die Arbeitgeberin machte von der nur ihr eingeräumten einwöchigen Widerrufsmöglichkeit keinen Gebrauch. Wenig später, nämlich am 22.06.2020, beantragte die Arbeitgeberin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die Klägerin erklärte am 03.07.2020 schriftsätzlich die Anfechtung ihrer zum Abschluss des Vergleichs führenden Willenserklärung und trat zugleich unter Verweis auf § 313 BGB vom Vergleich zurück, weil sie keine Zahlung erhalten und zwischenzeitlich von dem Antrag erfahren hatte. Das Insolvenzverfahren wurde am 01.09.2020 eröffnet. Die Klägerin nahm den Rechtsstreit gegen den Insolvenzverwalter auf.
Das BAG hat zu der prozessualen Lage darauf hingewiesen, dass sowohl bei einer Anfechtung des Vergleichs als auch bei einem Rücktritt der Streit über die Beendigungswirkung des Vergleichs im ursprünglichen Kündigungsschutzrechtsstreit auszutragen ist. Das eigentliche Ziel der Klägerin, eine Fortsetzung des Kündigungsrechtsstreits zu erreichen, setzt in einem ersten Schritt die Klärung voraus, ob der Rechtsstreit durch den Vergleich erledigt ist. Das BAG hat in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen angenommen, dass der Rechtsstreit durch den Vergleich erledigt ist. In der Begründung befasst sich der Zweite Senat mit mehreren möglichen Unwirksamkeitsgründen, die er jeweils für nicht gegeben erachtet.
Zunächst hat er sich der Anfechtung zugewandt. Diese wäre erfolgreich gewesen, wenn die maßgebliche Person bei Vergleichsschluss von der wirtschaftlichen Lage der Arbeitgeberin gewusst hätte. Hierfür kam es nach der Entscheidung des BAG gemäß § 166 Abs. 1 BGB nicht auf die Kenntnis der Arbeitgeberin, sondern auf die ihres Prozessbevollmächtigten an. Es sei aber nicht festgestellt, dass er von der wirtschaftlichen Lage der Arbeitgeberin gewusst habe. Ebenso habe kein Fall von § 166 Abs. 2 BGB vorgelegen. Es sei nicht festgestellt, dass die Arbeitgeberin ihrem Prozessbevollmächtigten im Zeitpunkt des Vergleichsschlusses eine konkrete Weisung zum Abschluss eines Abfindungsvergleichs erteilt habe. Auch der Umstand, dass die Arbeitgeberin es unterlassen hat, ihren Prozessbevollmächtigten zum Widerruf des Vergleichs anzuweisen, führe nicht zu der Annahme einer wirksamen Anfechtung, weil eine mögliche Täuschung durch Unterlassen erst nach dem Vergleichsschluss erfolgt sei. Daher wäre eine Täuschung für die Annahmeerklärung der Klägerin nicht mehr kausal geworden.
Im nächsten Schritt hat sich der Zweite Senat der Frage zugewandt, ob § 162 Abs. 2 BGB zur Anwendung kommt. Dies verneint er mit der Begründung, die Arbeitgeberin habe frei über die Ausübung des Widerrufsrechts entscheiden dürfen, ohne durch den Gesichtspunkt von Treu und Glauben gegenüber der Klägerin in ihrem Widerrufsrecht eingeschränkt gewesen zu sein.
Zuletzt zeigt der Zweite Senat auf, dass die Klägerin nicht wirksam von dem Vergleich zurücktreten konnte. § 323 Abs. 1 Alt. 1 BGB sei nicht anwendbar, weil eine „ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung“ nicht gegeben sei. Für einen Rücktritt wäre erforderlich gewesen, dass die Abfindungsforderung im Rücktrittszeitpunkt noch durchsetzbar gewesen wäre. Dies sei nicht der Fall gewesen. Die Klägerin habe von dem Vergleich auch nicht nach § 326 Abs. 5 BGB oder § 313 Abs. 3 Satz 1 BGB zurücktreten können, weil die gleichsam in Vorleistung getretene Klägerin nach dem Inhalt des Vergleichs das Insolvenzrisiko ihrer Arbeitgeberin zu tragen habe.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung bestätigt die bisherige Rechtsprechung des BAG und entwickelt sie weiter. Schon immer galt, dass die Parteien, die einen Vergleich geschlossen haben, in aller Regel auch dann an diesen gebunden bleiben, wenn sich die Dinge nach Vergleichsschluss anders entwickelt haben als sie es erwartet haben. Neu ist die deutliche Aussage, dass selbst eine „Bösgläubigkeit“ der Arbeitgeberin kein Anfechtungsrecht des Arbeitnehmers begründet, wenn ihr Prozessbevollmächtigter „gutgläubig“ ist. Dies hat das BAG dogmatisch gut nachvollziehbar begründet. Gleichwohl bleibt bei diesem juristisch richtigen Ergebnis ein ungutes Gefühl zurück, weil es die Möglichkeit der Manipulation eröffnet, indem relevante Informationen nicht an den Prozessbevollmächtigten weitergereicht werden.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung zeigt auf, wie schwer es ist, sich von einem zunächst wirksamen Vergleich wieder zu lösen. Arbeitnehmern wird deutlich gemacht, dass sie mit dem Abschluss eines Abfindungsvergleichs ein erhebliches Risiko zu tragen haben. Ob diese Erkenntnis in der Praxis dazu führt, dass Abfindungsvergleiche erschwert werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls liegt es für Prozessbevollmächtigte von Arbeitnehmern nahe, die Aufnahme einer Rücktrittsmöglichkeit in den Vergleich für den Fall zu verlangen, dass dem Arbeitnehmer die ihm versprochene Abfindung nicht ausbezahlt wird.



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