Keine tarifvertragliche altersbedingte Arbeitszeitverkürzung nur für VollzeitbeschäftigteOrientierungssätze 1. § 2a Ziff. 1 Abs. 2 Satz 1 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer/innen in der feinkeramischen Industrie der Bundesrepublik Deutschland vom 18.12.2012 (MTV) schließt Teilzeitbeschäftigte - ganz unabhängig vom Umfang der Teilzeit - von der Gewährung der bezahlten tariflichen Altersfreizeit vollständig aus. Den teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern wird entgegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG eine teilbare geldwerte Leistung nicht in dem Umfang gewährt, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Die Benachteiligung wegen der Teilzeittätigkeit ist nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt. 2. Die Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG steht einer Überprüfung des § 2a Ziff. 1 Abs. 2 Satz 1 MTV am Maßstab des Benachteiligungsverbots des § 4 Abs. 1 TzBfG nicht entgegen. Tarifvertragliche Regelungen müssen mit höherrangigem Recht vereinbar sein. 3. Der Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien darf aber nicht dazu führen, das Verbot der Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer auszuhöhlen. Besteht eine Tatsacheneinschätzung der Tarifvertragsparteien darin, dass eine auszugleichende Belastung nur bei einer Vollzeitbeschäftigung gegeben ist, unterliegt diese Bewertung - unter Berücksichtigung des zurückgenommenen Prüfungsmaßstabs - einer Kontrolle durch die Gerichte. Es muss erkennbar sein, dass der Tatsacheneinschätzung zumindest ein allgemeiner Erfahrungswert zugrunde liegt. 4. Ausgehend von diesen Grundsätzen haben die Tarifvertragsparteien mit der Regelung in § 2a Ziff. 1 Abs. 2 Satz 1 MTV ihre durch § 4 Abs. 1 TzBfG begrenzte Rechtsetzungsbefugnis - auch unter Berücksichtigung ihres Beurteilungs- und Ermessensspielraums - überschritten. 5. Diese von der konkreten Tätigkeit unabhängige, sich allein am Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit von älteren Arbeitnehmern orientierende Differenzierung bei der Gewährung vergüteter Altersfreizeit ist nicht durch Unterschiede im Tatsächlichen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG sachlich gerechtfertigt. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, der die Annahme rechtfertigen könnte, für Arbeitnehmer ab Vollendung des 58. Lebensjahres bestehe eine qualitative Belastung erst ab einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden. 6. Aus § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG folgt nur, dass die diskriminierende Regelung nach § 134 BGB nichtig ist. Jedoch kann die Diskriminierung allein durch eine „Anpassung nach oben“ beseitigt werden. - A.
Problemstellung Der Fall behandelt die Frage, ob ein Tarifvertrag eine altersbedingte Arbeitszeitverkürzung nur für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer vorsehen darf.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die am 14.07.1958 geborene Klägerin war bei der Beklagten bis zum 31.07.2022 als Produktionshelferin beschäftigt. Der aufgrund beidseitiger Tarifgebundenheit anwendbare Tarifvertrag sieht vor, dass Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben, eine Altersfreizeit von zwei Stunden je Woche erhalten. Ausdrücklich ist vorgesehen, dass diese Regelung nicht für Teilzeitbeschäftigte gelten soll. Die Klägerin hat geltend gemacht, sie habe einen Anspruch auf eine Stunde Freistellung pro Woche, weil sie durch die tarifliche Regelung wegen ihrer Teilzeitbeschäftigung diskriminiert werde. Die Arbeitgeberin hat dem entgegengehalten, die Altersfreizeit trage dem erhöhten Erholungsbedürfnis älterer Arbeitnehmer Rechnung und diene ihrer Entlastung. Das BAG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine unzulässige Benachteiligung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer vorliege. Dies ergebe sich aus § 2a Ziff. 1 MTV i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG. Da kein sachlicher Grund vorliege, sei die Abweichung vom Pro-rata-temporis-Grundsatz unzulässig. Sowohl bei der Prüfung, ob Teilzeitbeschäftigte anders als Vollzeitbeschäftigte behandelt werden, als auch bei der Frage nach einer möglichen Rechtfertigung verweist der Neunte Senat darauf, dass der Prüfungsmaßstab mit dem Europarecht im Einklang stehe. Im Rahmen der Ausführungen zu einer möglichen Rechtfertigung geht das BAG zusätzlich auf das Verfassungsrecht ein. Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie gehe nicht so weit, dass sie eine gerichtliche Kontrolle ausschließe. Allerdings stehe den Tarifvertragsparteien ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Diesen hätten die Tarifvertragsparteien überschritten. Zur Begründung weist der Neunte Senat darauf hin, dass es keinen allgemeinen Erfahrungssatz gebe, der die Annahme rechtfertigen könnte, für Arbeitnehmer ab Vollendung des 58. Lebensjahres bestehe eine qualitative Belastung erst ab einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden. Es sei nicht ersichtlich, dass ältere in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer keinen qualitativen Belastungen ausgesetzt seien, deren Minderung die Altersfreizeit bezwecke. Weder der Tarifvertrag selbst noch das Vorbringen der Beklagten gäben einen tatsachenbasierten Anknüpfungspunkt für einen derartigen Erfahrungssatz. Es handle sich auch nicht um einen so evidenten und branchenübergreifenden allgemeinen Erfahrungssatz, dass er keiner näheren tatsächlichen Untermauerung bedürfe. Die tarifliche Festlegung, dass eine Entlastung nur bei einer Vollzeitbeschäftigung erfolgt, lasse zudem die Gründe für das Rechtsinstitut der Teilzeit (z.B. das Vorliegen besonderer außerberuflicher Belastungen) außer Betracht. Der Zweck der tariflichen Altersfreizeit, älteren Arbeitnehmern zu ihrer Entlastung bezahlte Freistellung zu gewähren, rechtfertige es deshalb nicht, gleichaltrige in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer, deren Wochenarbeitszeit eine bestimmte Stundenzahl unterschreitet, entgegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG von dieser geldwerten Leistung in vollem Umfang auszuschließen.
- C.
Kontext der Entscheidung Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen. Die Begründung gibt jedoch zu einigen kritischen Bemerkungen Anlass. Zunächst ist nicht verständlich, was den Neunten Senat dazu veranlasst hat, zunächst zu prüfen, ob der Klägerin der geltend gemachte Anspruch unmittelbar aus dem Tarifvertrag zusteht. Dabei hat der Neunte Senat die vom BAG in den letzten Jahren vorgenommene „Atomisierung“ des Streitgegenstandsbegriffs unberücksichtigt gelassen. Danach prüft das BAG eine Anspruchsgrundlage nur, wenn sich der Arbeitnehmer auf sie berufen hat; es genügt nicht mehr, die Tatsachen vorzutragen, aus denen das Gericht die Rechtsfolgen ableitet (vgl. besonders prägnant BAG, Urt. v. 04.07.2024 - 6 AZR 206/23 Rn. 15: normativ wirkender Tarifvertrag/arbeitsvertragliche Inbezugnahme; BAG, Urt. v. 20.03.2018 - 3 AZR 861/16 Rn. 33: Gleichbehandlungsgrundsatz, Gesamtzusage u.a./betriebliche Übung). Wird davon ausgegangen, dass es sich bei den Ansprüchen unmittelbar aus dem Tarifvertrag und aus § 4 Abs. 1 TzBfG um zwei Streitgegenstände handelt, war die erstgenannte Anspruchsgrundlage nicht zu prüfen, weil die Klägerin nicht geltend gemacht hat, einen Anspruch aus dem Tarifvertrag zu haben (§ 308 Abs. 1 ZPO). Wird dagegen angenommen, der Anspruch aus dem Tarifvertrag sei als gesonderter Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt worden, wäre die Klage mangels Bestimmtheit schon unzulässig (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Denn nach den vom BAG entwickelten Grundsätzen zur alternativen Klagehäufung muss ein Kläger eine Reihenfolge angeben, nach der die Streitgegenstände zur Entscheidung des Gerichts gestellt werden (BAG, Urt. v. 15.11.2023 - 10 AZR 288/22 Rn. 16). Dabei erkennt das BAG auch keinen dahin gehenden Grundsatz an, dass Erfüllungsansprüche als Primäransprüche vor Sekundäransprüchen wie etwa Schadensersatzansprüchen zu prüfen sind (vgl. BAG, Urt. v. 22.08.2018 - 5 AZR 592/17 Rn. 15: Annahmeverzug/Schadensersatz). Zutreffend leitet der Neunte Senat den Anspruch der Klägerin aus § 2a Ziff. 1 MTV i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG ab. Angesichts eines tatsächlich und rechtlich einfach gelagerten Sachverhalts erscheint allerdings fraglich, ob der Umfang der Rechtsausführungen wirklich notwendig ist: Es ist schlicht ungerecht, wenn Teilzeitbeschäftigte für die gleiche Arbeit einen geringeren Stundenlohn erhalten. Da dies von der Rechtsordnung nicht gebilligt wird, kann der benachteiligte Arbeitnehmer eine „Anpassung nach oben“ und damit den gleichen Stundenlohn wie der vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer verlangen. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG, dessen europa- und verfassungsrechtliche Zulässigkeit außer Frage steht. Insbesondere für die ausführlichen Erwägungen zum Europarecht, die den Leser vor allem verwirren, erschließt sich mir deren Relevanz für die Entscheidung nicht. Zwar entspricht diese Vorgehensweise einem allgemeinen Trend, es in arbeitsgerichtlichen Urteilsbegründungen nicht bei der Heranziehung vorhandener einfachgesetzlicher Normen zu belassen, sondern umfangreich auf das Europarecht einzugehen; sinnvoll erscheint sie gleichwohl nicht. Nicht ohne Grund sieht § 313 Abs. 3 ZPO vor, dass die Entscheidungsgründe eine „kurze Zusammenfassung“ der maßgeblichen Erwägungen enthalten. Im Ergebnis gilt dies auch für die verfassungsrechtlichen Ausführungen des Neunten Senats. Diese sind nur scheinbar erforderlich, um den aus dem Grundgesetz abgeleiteten weiten Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu begründen, der mit einer eingeschränkten Kontrolle tarifvertraglicher Regelungen einhergehen soll. Zwar wird dieser Grundsatz in ständiger Rechtsprechung des BAG betont. Es ist jedoch unklar, welche praktischen Folgen sich daraus ergeben. Mir ist keine Entscheidung bekannt, der sich entnehmen ließe, dass eine konkrete Differenzierung zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten arbeitsvertraglich als unzulässig, dagegen aber tarifvertraglich als zulässig angesehen wurde. Auch im konkreten Fall hat sich der vom BAG angenommene eingeschränkte Prüfungsmaßstab nicht ausgewirkt. Die im Verhältnis zu den rechtlichen Ausführungen recht knappe Subsumtion (Rn. 34) bestätigt und bekräftigt die bereits in den zwei zitierten Entscheidungen vom Neunten Senat im Jahr 2019 getroffenen Aussagen. Danach soll die Ungleichbehandlung Teilzeitbeschäftigter nicht gerechtfertigt sein, weil es keinen Erfahrungssatz gebe, dass für Arbeitnehmer ab Vollendung des 58. Lebensjahres eine qualitative Belastung erst ab einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden bestehe. Das BAG geht somit zutreffend davon aus, dass ab einem bestimmten Alter körperliche Arbeiten bereits ab der ersten Stunde zu erheblichen Belastungen der Arbeitnehmer führen. Dies gilt für Vollzeitbeschäftigte ebenso wie für Teilzeitbeschäftigte. Diese zutreffende Annahme sieht sich allerdings dem naheliegenden Einwand ausgesetzt, dass eine längere Arbeitszeit eine noch höhere Belastung mit sich bringt als eine Arbeitsleistung mit einer kürzeren Arbeitszeit. Aus meiner Sicht ist das Ergebnis daher insbesondere wegen der weiteren Argumentation des Neunten Senats zutreffend (Rn. 34 a.E.). Er verweist auf „das Rechtsinstitut der Teilzeit“, womit offensichtlich der besondere Schutz Teilzeitbeschäftigter – auch durch europarechtliche Normen – gemeint ist. Überzeugend führt der Neunte Senat sinngemäß aus, dass eine Wohltat für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer nicht zu einer Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter beim Stundenlohn führen darf.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Die Entscheidung verdeutlicht erneut, dass bei Begünstigungen bestimmter Arbeitnehmergruppen (hier: in der Produktion tätige ältere Arbeitnehmer ab Vollendung des 58. Lebensjahres) nicht zwischen vollzeit- und teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern differenziert werden darf. Es ist erstaunlich, dass sich diese Rechtsprechung des BAG, die als „ständige“ bezeichnet werden kann, noch nicht bis zu den Tarifvertragsparteien herumgesprochen hatte.
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