juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BAG 4. Senat, Urteil vom 24.04.2024 - 4 AZR 195/23
Autor:Prof. Dr. Nicole Reese
Erscheinungsdatum:04.12.2024
Quelle:juris Logo
Norm:§ 4a TVG
Fundstelle:jurisPR-ArbR 48/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Reese, jurisPR-ArbR 48/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Reichweite der Bereichsausnahme für Beschäftigte in Gaststätten nach TVöD/VKA



Leitsatz

Beschäftigte in Gaststätten i.S.d. § 1 Abs. 2 Buchst. r TVöD/VKA sind solche, die in einem Betrieb im Sinne des allgemeinen Betriebsbegriffs tätig sind, dessen arbeitstechnischer Zweck darauf gerichtet ist, Gästen Speisen und Getränke zum Verzehr vor Ort gegen Entgelt anzubieten.



A.
Problemstellung
Das BAG musste sich mit dem Gaststättenbegriff gemäß § 1 Abs. 2 Buchst. r TVöD/VKA befassen und klären, ob ein Beschäftigter, der unstreitig gaststättentypische Tätigkeiten ausführt unter die Bereichsausnahme fällt, wenn der arbeitstechnische Zweck des Beschäftigungsbetriebes nicht originär auf den Betrieb einer Gaststätte ausgerichtet ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger war bei der beklagten Gesellschaft von 2016 bis 2018 und sodann vom 01.05.2019 bis zum 31.03.2024 als „Mitarbeiter-Service“ im gastronomischen Bereich der Liegenschaften Eissportzentrum, Golfbad „Gesundheitspark“ und Naherholungsgebiet Stausee R beschäftigt. Arbeitsvertraglich war ein monatliches Festgehalt von 2.000 Euro brutto vereinbart. Die Beklagte, deren einziger Gesellschafter die Stadt ist, ist Mitglied des Kommunalen Arbeitgeberverbandes Sachsen e.V. Der Kläger verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Assistent für Hotelmanagement und ist seit dem 01.07.2020 Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di).
An zwei der drei Liegenschaften betreibt die Beklagte Großküchen, die während der jeweiligen Saison verschiedene Imbisse und Gasträume der drei Liegenschaften versorgen, die vor allem von den Gästen der Einrichtungen genutzt werden. Der Kläger wurde seit September 2020 in den Wintermonaten im Eissportzentrum eingesetzt und in den Sommermonaten am Stausee R. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Grillgut vorzubereiten, Getränke und Speisen zu verkaufen und zu kassieren sowie Waren nachzufüllen und zu verräumen sowie Reinigungsarbeiten vorzunehmen. Ab und an wurde er auch als Ordner, Kassierer oder Schlittschuhverleiher eingesetzt.
Mit Schreiben vom 23.10.2020 forderte der Kläger unter Berufung auf die bindende Geltung des Tarifvertrags und die Erfüllung des Tätigkeitsmerkmals „Fachangestellte für Bäderbetriebe mit Abschlussprüfung und entsprechende Tätigkeiten“ die Beklagte auf, ihn ab dem 01.04.2020 nach Entgeltgruppe 5 Stufe 2 zu vergüten.
Mit seiner vor dem ArbG Chemnitz erhobenen Klage hat der Kläger Differenzvergütungs- und Vergütungsansprüche für die Zeit ab dem 01.10.2020 auf der Basis der Entgeltgruppe 3 Stufe 2 TVöD/VKA weiterverfolgt. Vor dem Landesarbeitsgericht beantragte er festzustellen, dass ihm ein Anspruch auf Entgelt nach der Entgeltgruppe 3 Stufe 2 ab dem 01.09.2021 zustehe.
Die Beklagte beantragte die Klage abzuweisen. Sie vertrat die Auffassung, dass der Kläger als Beschäftigter in einer Gaststätte gemäß § 1 Abs. 2 Buchst. r TVöD/VKA von der Bereichsausnahme erfasst werde und daher nicht unter den Tarifvertrag falle, weil man von einem weiten Gaststättenbegriff im Sinne des Gaststättengesetzes auszugehen habe, wonach es ausreichend sei, wenn es eine organisatorisch abgrenzbare Einheit im Unternehmen gäbe.
Das ArbG Chemnitz hat der Klage – soweit Gegenstand der Revision – stattgegeben. Das LArbG Chemnitz hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.
Mit der Revision verfolgt der Kläger die Feststellung, dass ihm seit dem 01.09.2021 bis zum 31.03.2024 Anspruch auf Entgelt nach der Entgeltgruppe 3 Stufe 2 zustehe. Grund hierfür sei die beiderseitige Tarifbindung der Vertragsparteien und der Umstand, dass für die Tätigkeit eine eingehende fachliche Einarbeitung erforderlich gewesen sei.
Das BAG sieht die zulässige Revision als begründet an und hat infolgedessen das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen, da es an erforderlichen Feststellungen fehlt. Im Wesentlichen stellt sich das BAG auf den Standpunkt, dass die Bereichsausnahme des § 1 Abs. 2 Buchst. r TVöD/VKA nur dann greift, wenn ein Beschäftigter in einem Betrieb tätig ist, dessen arbeitstechnischer Zweck darauf gerichtet ist, Gästen Speisen und Getränke zum Verzehr vor Ort gegen Entgelt anzubieten, wobei eine abgrenzbare Betriebseinheit innerhalb des Betriebes nicht ausreichend ist.


C.
Kontext der Entscheidung
Das BAG musste sich mit der Frage befassen, in welchen Fällen die Bereichsausnahme des § 1 Abs. 2 Buchst. r TVöD/VKA in Bezug auf Gaststätten greift. Diese Frage war im vorliegenden Rechtsstreit relevant, weil der Beschäftigte als Gewerkschaftsmitglied der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Vergütung nach dem TVöD/VKA forderte, obwohl es eine abweichende arbeitsvertragliche Regelung gab und die Beklagte auf ihn die Tarifverträge für das Hotel- und Gaststättengewerbe in Sachsen anwendete.
Da die Tarifvertragsparteien den Begriff der Gaststätte in der streitbefangenen Vorschrift nicht definiert haben, bedarf es einer Begriffsklärung. Die Beklagte geht vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, der sich auch in den Gaststättengesetzen wiederfindet. Das LArbG Chemnitz schließt sich dieser Auffassung an und meint, dass eine Gaststätte betreibt, wer im stehenden Gewerbe Getränke zum Verzehr an Ort und Stelle verabreicht (Schankwirtschaft) oder zubereitete Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle verabreicht (Speisewirtschaft), wenn der Betrieb jedermann oder bestimmten Personenkreisen zugänglich ist, bzw. im Reisegewerbe von einer für die Dauer der Veranstaltung ortsfesten Betriebsstätte aus Getränke oder zubereitete Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle verabreicht, wenn der Betrieb jedermann oder bestimmten Personenkreisen zugänglich ist (LArbG Chemnitz, Urt. v. 11.07.2023 - 3 Sa 485/21 Rn. 29).
Das ArbG Chemnitz hat in seinem Urteil vom 05.11.2021 (3 CA 984/21) hingegen angenommen, dass die Gaststätte der Qualität eines Betriebes i.S.d. Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) oder des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) genügen muss. Danach ist als Betrieb die organisatorische Einheit anzusehen, innerhalb derer der Unternehmer allein oder zusammen mit seinen Mitarbeitern mithilfe sächlicher und immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt (st. Rspr, vgl. nur BAG, Beschl. v. 25.05.2005 - 7 ABR 38/04 Rn. 18).
Das BAG schließt sich mit der vorliegenden Entscheidung der Auffassung des Arbeitsgerichts an und geht nach den geltenden Grundsätzen der Tarifvertragsauslegung (vgl. BAG, Urt. v. 12.12.2018 - 4 AZR 147/17 - BAGE 164, 326) davon aus, dass Beschäftige i.S.d. § 1 Abs. 2 Buchst. r TVöD/VKA nur diejenigen sind, die in einem Betrieb tätig sind, der nach seinem arbeitstechnischen Zweck eine Gaststätte ist (so auch Stier in: BeckOK TVöD, 69. Ed. 01.09.2016, § 1 TVöD-AT Rn. 59; Bredemeier/Neffke/Gerretz, 6. Aufl. 2022, § 1 TVöD Rn. 40; Breier/Dassau, TVöD, Stand Oktober 2024, § 1 TVöD Rn. 170).
Dies begründet das BAG zutreffend zunächst anhand des Tarifwortlauts, der von Beschäftigten „in“ Gaststätten, nicht aber von gaststättentypischen Tätigkeiten spricht, was für ein betriebsbezogenes Verständnis spricht. Für dieses Normverständnis spricht auch, dass der TVöD nicht alle Tätigkeiten, die einen Bezug zu Gastronomie haben, vom Anwendungsbereich ausnimmt. Denn Tätigkeiten der Entgeltgruppe 1, in der typische Tätigkeiten in Gaststätten, wie Essens- und Getränkeausgabe, Gemüse putzen etc. genannt werden, werden zweifellos den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen der EntGO des TVöD zugeordnet. Überdies wird in den vergleichbaren Bereichsausnahmen, u.a. nach Buchst. q, regelmäßig nicht auf die Tätigkeit abgestellt, sondern der gesamte Betrieb dem Geltungsbereich entzogen oder zugewiesen. Andererseits räumt das BAG ein, dass der Wortlaut auch ein weites Verständnis, wie es das LArbG Chemnitz annimmt, zuließe und es ausreichen könnte, dass eine abgrenzbare Organisationseinheit innerhalb des Betriebes vorliegt.
Daher ist zur Auslegung zusätzlich der allgemeine Sprachgebrauch und der der beteiligten Kreise heranzuziehen. Diesbezüglich stellt das BAG allerdings fest, dass der in der Allgemeinheit herrschende Gaststättenbegriff nicht auf die Eigenständigkeit abstellt und mithin für die Auslegung unbrauchbar ist. Damit ist der Rückgriff auf den verwaltungsrechtlichen weiten Gaststättenbegriff der Vorschrift gerade nicht zu entnehmen. Auch der Umstand, dass in der Aufzählung des Buchst. r nicht von einem Gaststättenbetrieb die Rede ist, hat eher sprachliche Gründe oder ist der historischen Entwicklung der Norm geschuldet, Anzeichen für ein unterschiedliches Verständnis und damit ein Verbot, bei Gaststätten auf den Betriebsbegriff abzustellen, sind nicht ersichtlich.
Zu Recht meint das BAG jedoch, dass der beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm für die Betriebsbezogenheit des Gaststättenbegriffs heranzuziehen ist. Denn die Bereichsausnahmen sollen eine Tarifkonkurrenz bzw. -pluralität vermeiden. In solchen Kollisionsfällen stellt § 4a TVG auf den Betrieb als organisatorische Einheit ab. Ausweislich der Gesetzesbegründung zum Tarifeinheitsgesetz ist der Betriebsbegriff tarifrechtlich zu verstehen und als diejenige organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern mithilfe von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt (BT-Drs. 18/4062, S. 13). Dieser Betriebsbegriff ist folglich auch bei § 1 Abs. 2 Buchst. r TVÖD/VKA zugrunde zu legen, um mögliche Kollisionen zu verhindern. Auch wenn an der Zugrundelegung des Betriebsbegriffs i.S.d. BetrVG auch Kritik geübt wird (vgl. Franzen in: ErfKomm, 24. Aufl. 2024, § 4a TVG Rn. 19 ff.), ist zu beachten, dass der Betrieb der zentrale Begriff für die fachliche Anknüpfung von Tarifverträgen ist und damit auch hier zugrunde zu legen ist, so dass mangels entgegenstehender Hinweise und Zwecke auch bei der Bereichsausnahme des Buchst. r der betriebsbezogene Gaststättenbegriff gilt.
Der Betrieb ist nach diesem Verständnis also dann eine Gaststätte, wenn der arbeitstechnisch verfolgte Zweck dem Bereich Gaststätte zugeordnet werden kann, wobei eine Gaststättenerlaubnis ein Indiz hierfür sein kann. Vorliegend nimmt das BAG an, dass der Gastrobereich in allen drei Freizeiteinrichtungen keine eigenständige Bedeutung und Gewinnerzielungsabsicht hat, sondern nur dazu dient, den Aufenthalt der Gäste in einem Gesamtpaket abzurunden mit der Folge, dass vorliegend keine Gaststätte i.S.d. § 1 Abs. 2 Buchst. r TVöD/VKA existiert. Allerdings hätte das BAG ein paar Worte dazu verlieren sollen, wie sich der jeweilige arbeitstechnische Zweck bestimmen lässt, denn in weniger eindeutigen Fällen würde sich damit die Frage nur verlagern (vgl. dazu Brock, Martin, öAT 2024, S. 231).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Mit dieser Entscheidung stärkt das BAG die Beschäftigtenrechte und den Grundsatz der Tarifeinheit, indem es allen Beschäftigten eines Betriebs im Sinne der Bereichsausnahme Buchst. r, unabhängig von ihrer Tätigkeit, die Zugehörigkeit zum TVöD zugesteht, soweit sie nicht in einem organisatorisch eigenständigen (Gaststätten-)Betrieb eingebunden sind, der über einen eigenen Leistungsapparat verfügt.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Das BAG befasst sich zudem mit der Auslegung des Klageantrags und lässt nicht nur einen allein auf die Vergangenheit gerichteten Feststellungsantrag zu, sondern ordnet die Klage aufgrund des Vergangenheitsbezugs auch als abschließende Gesamtklage ein mit der Folge, dass die Klageanträge nicht genau beziffert werden müssen.
Schlussendlich äußert sich das BAG zu einem möglichen Verfall gemäß § 37 TVöD/VKA, da der Kläger mit der Geltendmachung einer bestimmten Entgeltgruppe nicht zugleich hilfsweise eine andere, niedere Entgeltgruppe geltend gemacht hat. Sollte sich herausstellen, dass es sich bei den Entgeltgruppen nicht um echte Aufbaufallgruppen handelt, könnte ggf. zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, dass die generelle Anwendbarkeit des Tarifvertrags streitig war und deshalb ausnahmsweise Umstände vorliegen könnten, die auch als Geltendmachung der niedrigeren Entgeltgruppe zu verstehen sind.



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