Auslegung der Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“ und „Leiharbeitnehmer“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2008/104/EG über LeiharbeitTenor: Orientierungssätze zur Anmerkung 1. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit ist dahin auszulegen, dass diese Richtlinie für jede natürliche oder juristische Person gilt, die mit einem Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag oder ein Beschäftigungsverhältnis eingeht, um ihn einem entleihenden Unternehmen zu überlassen, damit er dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend arbeitet, und die den Arbeitnehmer diesem Unternehmen überlässt, auch wenn sie nach innerstaatlichem Recht nicht als Leiharbeitsunternehmen anerkannt ist, weil sie über keine entsprechende behördliche Genehmigung verfügt. 2. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis d der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass „Leiharbeit“ im Sinne dieser Bestimmung bei einem Sachverhalt vorliegt, bei dem ein Arbeitnehmer einem entleihenden Unternehmen von einem Unternehmen überlassen wird, dessen Tätigkeit darin besteht, mit Arbeitnehmern Arbeitsverträge zu schließen oder Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, um sie einem entleihenden Unternehmen für eine bestimmte Dauer zu überlassen, wenn der Arbeitnehmer der Aufsicht und Leitung des letztgenannten Unternehmens unterstellt ist und dieses ihm zum einen die zu erbringenden Leistungen sowie die Art und Weise ihrer Erbringung vorgibt und von ihm die Beachtung seiner Weisungen und internen Regeln verlangt und zum anderen eine Kontrolle sowie eine Aufsicht über die Art und Weise, wie er seine Aufgaben erfüllt, ausübt. 3. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass ein im Sinne dieser Richtlinie einem entleihenden Unternehmen überlassener Leiharbeitnehmer während der Dauer seiner Überlassung an dieses Unternehmen einen Lohn erhalten muss, der mindestens demjenigen entspricht, den er erhalten hätte, wenn er unmittelbar von diesem Unternehmen eingestellt worden wäre. - A.
Problemstellung Nach Art. 1 Abs. 1 der RL 2008/104/EG über Leiharbeit (RL Leiharbeit) gilt die Richtlinie für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten. Der EuGH hatte sich vorliegend im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens eines spanischen Gerichts u.a. mit der Klärung der Definitionen „Leiharbeitsunternehmen“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b RL Leiharbeit, „Leiharbeitnehmer“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c RL Leiharbeit und „entleihendes Unternehmen“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. d RL Leiharbeit zu befassen.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Klägerin war aufgrund eines am 01.08.2017 mit L geschlossenen Arbeitsvertrags als Unternehmensberaterin für die Abteilung Original Equipment Manufacturer (OEM) bei der Beklagten tätig und erbrachte dort Marketingleistungen, für die die Beklagte keine eigenen Mitarbeiter hatte. Die Beklagte stellte der Klägerin einen Computer zur Verfügung, mit dem sie von zuhause aus Kunden bei der Anwendung von Software-Produkten der Beklagten unterstützte. Sie stand mit den Verantwortlichen der Beklagten in regelmäßigem Kontakt, traf sich einmal wöchentlich bei der Beklagten zu Meetings und besaß eine Zugangskarte für deren Gebäude. Der Geschäftsführer von L erhielt regelmäßig einen Monatsbericht über die Tätigkeit der Klägerin, genehmigte ihren Urlaub und legte ihre Arbeitszeiten fest. Nachdem die Klägerin schwanger geworden war, teilte die Beklagte der L mit, dass der Dienstleistungsvertrag mit ihr zum 30.09.2020 ende. Nach der Inanspruchnahme von Mutterschaftsurlaub, Elternurlaub und Jahresurlaub erklärte L die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin zum 27.04.2021 wegen Verringerung der Auftragslage. Mit ihrer Klage macht die Klägerin die Unwirksamkeit der Kündigung geltend und nimmt L sowie die Beklagte gesamtschuldnerisch auf Schadensersatz wegen Diskriminierung infolge ihrer Mutterschaft und auf Wiedereingliederung an ihrem bisherigen Arbeitsplatz in Anspruch. Zur Begründung beruft sie sich darauf, dass L sie an die Beklagte als Arbeitnehmerin überlassen habe, obwohl L keine nach spanischem Recht erforderliche behördliche Genehmigung zur Arbeitnehmerüberlassung besitze. Nachdem die Klage, soweit sie sich gegen die Beklagte richtet, erstinstanzlich keinen Erfolg hatte, geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Klägerin ihre Tätigkeit bei der Beklagten unter deren Aufsicht und Leitung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b RL Leiharbeit verrichtete. Daraus ergeben sich für das Gericht verschiedene Fragen zur Auslegung der RL Leiharbeit, weshalb es gemäß Art. 267 AEUV das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren einleitete. 1. Zuerst möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. b RL Leiharbeit dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie für ein Unternehmen, das einem anderen Unternehmen eine Arbeitnehmerin überlässt, gilt, auch wenn es nach innerstaatlichem Recht nicht als Leiharbeitsunternehmen anerkannt ist, weil es über keine entsprechende behördliche Genehmigung verfügt. Hierzu stellt der EuGH klar, dass sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Regelungszusammenhang Anhaltspunkte dafür ergeben, dass ein Unternehmen, damit es als Leiharbeitsunternehmen im Sinne der RL Leiharbeit angesehen werden könne, über eine vorherige behördliche Genehmigung zur Ausübung dieser Tätigkeit verfügen müsse. Zwar stelle Art. 3 Abs. 1 Buchst. b RL Leiharbeit klar, dass unter den Begriff „Leiharbeitsunternehmen“ nur Unternehmen fallen, die nach einzelstaatlichem Recht mit Leiharbeitnehmern Arbeitsverträge schließen oder Beschäftigungsverhältnisse eingehen und dabei die Absicht haben, diese Arbeitnehmer einem entleihenden Unternehmen zu überlassen. Nach dem Wortlaut der Bestimmung beziehe sich das Erfordernis der Konformität mit dem einzelstaatlichen Recht jedoch nur auf das Verfahren zum Abschluss der Arbeitsverträge oder auf die Art und Weise der Eingehung der Beschäftigungsverhältnisse. Gestützt werde diese Auslegung durch die mit der Richtlinie verfolgten Ziele. Sollte der Anwendungsbereich der Richtlinie nur Unternehmen erfassen, die gemäß dem für sie geltenden innerstaatlichen Recht über eine vorherige behördliche Genehmigung zur Ausübung der Tätigkeit eines Leiharbeitsunternehmens verfügen, würde dies unter Gefährdung der dem Schutz der Leiharbeitnehmer gewidmeten Ziele dieser Richtlinie bedeuten, dass der Schutz der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten je danach unterschiedlich wäre, ob das jeweilige nationale Recht, dem sie unterliegen, eine solche Genehmigung verlange oder nicht, und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats je danach variieren, ob das fragliche Unternehmen über eine solche Genehmigung verfüge oder nicht. Dadurch würde die praktische Wirksamkeit der Richtlinie durch eine übermäßige und ungerechtfertigte Einschränkung ihres Anwendungsbereichs beeinträchtigt. Den Arbeitnehmern würde der mit der Richtlinie gewollte Schutz vorenthalten, obwohl sich das Beschäftigungsverhältnis zwischen ihnen und dem sie überlassenden Unternehmen im Kern nicht von demjenigen unterscheiden würde, das zwischen ihnen und einem Unternehmen bestünde, das im Besitz der nach nationalem Recht erforderlichen vorherigen behördlichen Genehmigung wäre. 2. Die zweite Frage soll klären, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis d RL Leiharbeit dahin auszulegen ist, dass es unter den Begriff „Leiharbeit“ im Sinne dieser Bestimmung zu subsumieren ist, wenn ein Unternehmen, das nach innerstaatlichem Recht nicht als Leiharbeitsunternehmen anerkannt ist, aber eine seiner Arbeitnehmerinnen, von der es den monatlichen Tätigkeitsbericht erhält und deren Arbeitszeit und Urlaub es weiterhin verwaltet, einem anderen Unternehmen überlässt, damit sie täglich unter dessen Aufsicht und Leitung arbeitet. Die Beklagte hatte die Zulässigkeit dieser Frage beanstandet, da sie darauf abziele, die dem vorlegenden Gericht obliegende Würdigung des Sachverhalts abzunehmen. Dem folgt der Gerichtshof nicht. Aufgabe in einem Vorabentscheidungsverfahren sei es auch, dem nationalen Gericht die Tragweite der unionsrechtlichen Bestimmungen zu erläutern, um ihm eine ordnungsgemäße Anwendung dieser Bestimmungen auf den ihm vorliegenden Sachverhalt zu ermöglichen. Dem vorlegenden Gericht gehe es abstrakt um die Klärung des Anwendungsbereichs der Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“, „Leiharbeitnehmer“ und „entleihendes Unternehmen …, unter [dessen] Aufsicht und Leitung“ der Leiharbeitnehmer seine Aufgaben ausübe. Die Eigenschaft als „Leiharbeitsunternehmen“ hänge nicht von einer Anzahl oder einem Prozentsatz von Arbeitnehmern ab, die ein Unternehmen einem anderen Unternehmen überlassen muss. Für die Einstufung als Leiharbeitsunternehmen genüge es jedoch nicht, dass ein Unternehmen den einen oder anderen seiner Arbeitnehmer oder punktuell einen Teil seiner Arbeitnehmer einem anderen Unternehmen überlässt. Solche Situationen kämen nämlich Dienstleistungen eines Unternehmens gegenüber einem anderen Unternehmen und nicht Leiharbeitsleistungen gleich. Zur Klärung des Begriffs „Leiharbeitnehmer“ sei nicht der nationale, sondern einheitlich der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zugrunde zu legen. Danach sei Arbeitnehmer, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringe, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhalte (EuGH, Urt. v. 03.07.1986 - C-66/85 - EuGHE 1986, 2121 „Lawrie Blum“). Bei der Überlassung von Leiharbeitnehmern bestehe ein doppeltes Arbeitsverhältnis zwischen einerseits dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer und andererseits dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen. Die Besonderheit dieses Arbeitsverhältnisses liege darin, dass das Leiharbeitsunternehmen im Rahmen der Überlassung des Leiharbeitnehmers weiterhin in einem Arbeitsverhältnis mit diesem Arbeitnehmer stehe, aber die Aufsicht und Leitung, die grundsätzlich jedem Arbeitgeber zukomme, auf das entleihende Unternehmen übertrage und damit ein neues Unterordnungsverhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen schaffe. Der Leiharbeitnehmer erbringe die dem entleihenden Unternehmen vom Leiharbeitsunternehmen vertraglich geschuldete Leistung, werde dabei aber der Leitung und Aufsicht des entleihenden Unternehmens unterstellt. Entscheidend sei der Grad der Unterordnung im Einzelfall, was anhand aller Gesichtspunkte und aller Umstände, die die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnen, von den nationalen Gerichten zu prüfen sei. Der Gerichtshof belässt es aber nicht bei diesen abstrakten Ausführungen, sondern gibt dem vorlegenden Gericht noch Hinweise für den zu entscheidenden Fall. Die Tatsache, dass L einen monatlichen Tätigkeitsbericht von der Beklagten erhalte, sei ein Umstand, der ggf. in Abhängigkeit davon zu berücksichtigen sei, welchem konkreten Zweck dieser Bericht in den Beziehungen zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Arbeitnehmer diene. Dass L den Urlaub der Klägerin genehmige und ihre Arbeitszeiten festlege, schließe nicht aus, dass Aufsicht und Leitung im Rahmen einer Überlassung tatsächlich von der Beklagten wahrgenommen wurden. Zum Begriff „entleihende Unternehmen“ stellt der EuGH fest, dass dieses Unternehmen aufgrund seiner ihm gegenüber dem Leiharbeitnehmer zustehenden Leitungs- und Aufsichtsfunktion von diesem die Einhaltung interner Regeln und Arbeitsmethoden verlangen, aber auch eine Kontrolle sowie eine Aufsicht hinsichtlich der Art und Weise, wie er seine Aufgaben erfülle, vornehmen könne. Hierfür reiche es noch nicht aus, dass die geleistete Arbeit überprüft oder den betreffenden Arbeitnehmern bloße allgemeine Anweisungen erteilt würden. 3. Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 RL Leiharbeit dahin auszulegen ist, dass ein einem entleihenden Unternehmen überlassener Leiharbeitnehmer während der Dauer seiner Überlassung an dieses Unternehmen einen Lohn erhalten muss, der mindestens demjenigen entspricht, den er erhalten hätte, wenn er unmittelbar von diesem Unternehmen eingestellt worden wäre. Diese Frage wird vom EuGH unter Verweis auf den Wortlaut der Richtlinie bejaht.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung trägt zur Klärung des Anwendungsbereichs der RL Leiharbeit bei. I. Begriff des Leiharbeitsunternehmens 1. Irrelevanz des Erfordernisses einer behördlichen Genehmigung nach nationalem Recht Der EuGH stellt mit überzeugender Begründung fest, dass der Anwendungsbereich der RL Leiharbeit nicht davon abhängt, ob das nationale Recht eine besondere staatliche Genehmigung für die Arbeitnehmerüberlassung (in Deutschland: Überlassungserlaubnis gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG) vorsieht. Ansonsten stünde der Geltungsbereich der Richtlinie zur Disposition des Mitgliedstaats, indem dieser festlegen könnte, in welchen Fällen es eine behördliche Genehmigung bräuchte. 2. Geltung der RL Leiharbeit für Mischunternehmen In der Entscheidung „ALB FILS Kliniken“ (EuGH, Urt. v. 22.06.2023 - C-427/21 m. Anm. Hamann, jurisPR-ArbR 30/2023 Anm. 2) hatte der EuGH festgestellt, der Begriff „Leiharbeitsunternehmen“ setze voraus, dass dieses sowohl bei Abschluss des Arbeitsvertrags als auch bei jeder Überlassung die Absicht haben müsse, Arbeitnehmer einem entleihenden Unternehmen zu überlassen. Diese Absicht fehle im Fall einer dauerhaften Aufgabenverlagerung auf ein Drittunternehmen mit anschließender Dauerüberlassung durch den vertraglichen Arbeitgeber (im Fall: Personalgestellung im öffentlichen Dienst gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG; dazu Hamann, ArbuR 2024, 227). Andererseits kommt es – so der EuGH in seiner aktuellen Entscheidung – für den Begriff „Leiharbeitsunternehmen“ i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b RL Leiharbeit nicht auf die Anzahl oder einen Prozentsatz von Arbeitnehmern, die einem anderen Unternehmen überlassen werden, an (Rn. 34). Mischunternehmen fallen also unter die RL Leiharbeit. Das entspricht der ganz h.M. im nationalen Recht (Kock in: BeckOK ArbR, 73. Ed. 01.09.2024, § 1 AÜG Rn. 34; Bissels in: Urban-Crell/Germakowski/Bissels/Hurst, AÜG, 4. Aufl. 2024, § 1 Rn. 26; Roloff in: ErfKomm, 24. Aufl. 2024, § 1 AÜG Rn. 34; Hamann in: Schüren/Hamann, AÜG, 6. Aufl. 2023, § 1 Rn. 78; FW BA, Stand 15.10.2024, § 1 Nr. 1.1.3 (2)). Allerdings relativiert der EuGH diese Aussage an späterer Stelle: Für die Einstufung als Leiharbeitsunternehmen genüge es nicht, dass ein Unternehmen den einen oder anderen seiner Arbeitnehmer oder punktuell einen Teil seiner Arbeitnehmer einem anderen Unternehmen überlasse. Solche Situationen kämen Dienstleistungen und nicht Leiharbeitsleistungen gleich (Rn. 52). Diese Begründung vermag nicht zu überzeugen. Für die die Arbeitnehmerüberlassung kennzeichnende Aufspaltung der Arbeitgeberbefugnisse ist die Anzahl der Überlassungen irrelevant. Es geht der Richtlinie vorrangig um den Schutz des einzelnen Leiharbeitnehmers. II. Begriff des Leiharbeitnehmers 1. Arbeitnehmerbegriff Obwohl Art. 3 Abs. 1 Buchst. a RL Leiharbeit ausdrücklich den nationalen Arbeitnehmerbegriff für maßgeblich erklärt und zudem die Richtlinie gemäß Art. 3 Abs. 2 RL Leiharbeit das nationale Recht in Bezug auf die Begriffsbestimmung u.a. des Arbeitnehmers unberührt lässt, legt der EuGH, ohne sich näher mit diesen Richtlinienbestimmungen auseinanderzusetzen, den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff zugrunde (Rn. 55). Er verweist stattdessen auf die Entscheidung in der Rechtssache „Kiiski“ (EuGH, Urt. v. 20.09.2007 - C-116/06 m. Anm. Göhle-Sander, jurisPR-ArbR 17/2008 Anm. 1). Dieses Urteil erging zur RL 82/95/EG über Mutterschaftsurlaub, und diese Richtlinie enthält – im Unterschied zur RL Leiharbeit – keinen Verweis auf die Geltung des nationalen Arbeitnehmerbegriffs. Nähergelegen hätte es, sich in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung „Betriebsrat der Ruhrlandklinik“ (EuGH, Urt. v. 17.11.2016 - C-216/15 m. Anm. Ulrici, jurisPR-ArbR 1/2017 Anm. 1) zu berufen. Darin hat der EuGH Ordensschwestern des Deutschen Roten Kreuzes, die nach nationalem Recht den Status von Vereinsmitgliedern haben (BAG, Urt. v. 23.06.2010 - 7 ABR 1/09 - AP Nr 60 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung m. Anm. Hamann), als Leiharbeitnehmer im Sinne der RL Leiharbeit anerkannt. Die Relativierung von Rückverweisen auf das nationale Recht hat sich in der neueren Rechtsprechung des EuGH verfestigt (Nachw. bei Sagan, NZA 2024, 1087. 1088; zum Begriff „Arbeitsentgelt“ in Art. 3 Abs. 2 RL Leiharbeit EuGH, Urt. v. 22.02.2024 - C-649/22 m. Anm. Hamann, jurisPR-ArbR 11/2024 Anm. 1). Der EuGH „rechtfertigt“ die Nichtachtung des erklärten Willens des demokratisch legitimierten Richtliniengebers mit einem schlichten Verweis auf den Effektivitätsgrundsatz. Damit überschreitet das Gericht die ihm durch Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV zugewiesenen Kompetenzen (zu Recht krit. Sagan, NZA Beilage 2023, Nr 3, 51, 52). In neueren Richtlinien hat der Richtliniengeber dieses Legitimationsdefizit freilich beseitigt, indem Verweisungen auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff an die Pflicht geknüpft sind, die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen (vgl. Art. 1 Abs. 2 der Transparenz-RL 2019/1152/EU; Art. 2 RL 2019/1158/EU zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige; Art. 2 RL 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne in der EU; Art. 2 Abs. 2 RL 2023/970/EU über zur Stärkung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen). Perspektivisch gilt damit der einheitliche unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff überall dort, wo nationales Arbeitsrecht unionsrechtlich determiniert ist. 2. Begriff des Leiharbeitnehmers Bereits in anderem Kontext hat sich der EuGH mit der Abgrenzung der Arbeitnehmerüberlassung von Dienstleistungsverträgen befasst (EuGH, Urt. v. 18.06.2015 - C-586/13 - NZA 2015, 925 „Martin Meat“, zu Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Arbeitnehmerentsenderichtlinie 96/71/EG). In jener Entscheidung stellte er maßgeblich auf die Vertragspflichten der beteiligten Unternehmen und die Modalitäten der Vertragsabwicklung ab. Vorliegend setzt der EuGH zur Abgrenzung am Begriff des Leiharbeitnehmers an. Dazu müsse ein Unterordnungsverhältnis mit dem entleihenden Unternehmen bestehen (Rn. 56). Die Kriterien hierfür stellen gleichlautend die Art. 1 Abs. 1 und 3 Abs. 1 Buchst. c RL Leiharbeit auf: Der Arbeitnehmer arbeitet im entleihenden Unternehmen „unter dessen Aufsicht und Leitung“. Die Aufsichts- und Leitungsbefugnis umfasse – so der EuGH in Rn. 60 – die Einhaltung interner Regeln und von Arbeitsmethoden, darüber hinaus die Kontrolle sowie die Aufsicht hinsichtlich der Art und Weise, wie der Arbeitnehmer seine Aufgaben erfülle. Eine bloße Überprüfung der Arbeit und die Erteilung allgemeiner Anweisungen genügten allerdings nicht. Die Aufsichtsbefugnis in diesem Sinne wird also erst dann relevant, wenn aus ihr arbeitsausführungsbezogene Weisungen resultieren. Maßgeblich für den Status als Leiharbeitnehmer ist somit im Ergebnis die Ausübung dieses Weisungsrechts durch das entleihende Unternehmen (ausführlich zur Maßgeblichkeit dieses Abgrenzungskriteriums Hamann in: Schüren/Hamann, AÜG, § 1 Rn. 118 ff.).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Aus dem Urteil ergeben sich Folgerungen für das nationale Recht. I. Unionsrechtskonformität von § 1 Abs. 3 Nr. 2a AÜG § 1 Abs. 3 Nr. 2a AÜG nimmt die „gelegentliche Arbeitnehmerüberlassung“ weitgehend vom Anwendungsbereich des Gesetzes aus. Das betrifft insbesondere das Erfordernis der „vorübergehenden“ Überlassung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 4, Abs. 1b AÜG und den in § 8 AÜG geregelten Grundsatz der Gleichstellung und damit unionsrechtliche Vorgaben nach Art. 1 Abs. 1 RL Leiharbeit und Art. 5 RL Leiharbeit. In der vorliegenden Entscheidung hat der EuGH zwei Fallgruppen aus dem Anwendungsbereich der RL Leiharbeit ausgenommen: die Überlassung eines einzelnen Arbeitnehmers und die punktuelle Überlassung mehrerer Arbeitnehmer. Unter Beachtung dieser Vorgaben, die von den nationalen Gerichten noch zu konkretisieren sein werden, dürfte § 1 Abs. 3 Nr. 2a AÜG unionsrechtskonform sein. II. Unionsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff im AÜG Im AÜG gilt der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff. Die rechtliche Einordnung des Rechtsverhältnisses nach nationalem Recht ist demgegenüber unerheblich (EuGH, Urt. v. 17.11.2016 - C-216/15 „Betriebsrat der Ruhrlandklinik“). Arbeitnehmer im Sinne des AÜG können daher neben Vereinsmitgliedern (vgl. BAG, Urt. v. 25.04.2023 - 9 AZR 253/22 m. Anm. Boemke, jurisPR-ArbR 12/2024 Anm. 1) insbesondere Fremdgeschäftsführer (EuGH, Urt. v. 11.11.2010 - C-232/09 - NZA 2011, 143 „Danosa“) sowie Gesellschafter-Geschäftsführer mit einer Minderheitsbeteiligung (vgl. BAG, Urt. v. 17.01.2017 - 9 AZR 76/16 - NZA 2017, 572 Rn. 23) sein. III. Erforderlichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG Die Definition des Überlassens zur Arbeitsleistung in § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG nennt die „Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Entleihers“ als weitere Voraussetzung neben der Unterstellung des Leiharbeitnehmers unter das Weisungsrecht des Entleihers. Bereits nach nationalem Recht ist die Funktion der Eingliederung in diesem Kontext unklar. Jedenfalls dürfte sie als zusätzliche Voraussetzung unionsrechtswidrig sein, weil die Definition der „Überlassung“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. e RL Leiharbeit dieses Merkmal nicht enthält (Hamann in: Schüren/Hamann, AÜG, § 1 Rn. 114 f.). Demgemäß findet die „Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Entleihers“ in der vorliegenden Entscheidung auch keine Berücksichtigung. § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG ist daher unionsrechtskonform so auszulegen, dass die „Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Entleihers“ lediglich ein Indiz für die Unterstellung des Leiharbeitnehmers unter das (arbeitsausführungsbezogene) Weisungsrecht des Entleihers ist.
|