A. Die rechtliche Ausgangslage: Beschäftigungspflicht
Nach § 154 Abs. 1 SGB IX haben alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber, die jahresdurchschnittlich über mindestens 20 Arbeitsplätze i.S.v. § 154 SGB IX verfügen, auf wenigstens 5% dieser Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Nach § 151 Abs. 3 SGB IX i.V.m. § 158 SGB IX werden auch die nach § 2 Abs. 3 SGB IX i.V.m. § 151 Abs. 2 SGB IX von der Arbeitsagentur einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Menschen angerechnet, wenn sie einen Pflichtplatz besetzen. Das Wort „beschäftigen“ ist bewusst gewählt; denn die Erfüllung der Beschäftigungspflicht sieht nicht zwingend die Einstellung von schwerbehinderten Menschen vor. Auch der Arbeitgeber wirkt an der Aufgabe mit, schwerbehinderte Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, der trotz Eintritt einer Schwerbehinderung eine behinderungsgerechte Weiterbeschäftigung ermöglicht. Bemessungsgrundlage für die Erfüllung der Beschäftigungspflicht ist abweichend vom früherem Recht (vgl. § 3 Schwerbeschädigtengesetz 1953) nicht mehr der Betrieb, sondern das jeweilige Unternehmen. Maßgeblich ist somit das Zusammenrechnungsprinzip, d.h. alle Arbeitsplätze, die ein Arbeitgeber in allen ihm gehörenden Betrieben hat, werden für die Berechnung der Anzahl der zu setzenden Pflichtplätze zusammengerechnet.1
B. Die rechtliche Ausgangslage: Ausgleichsabgabe
In § 160 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist bestimmt: Arbeitgeber, die die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen, haben für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte Menschen eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Mit der Zahlung erlischt die Beschäftigungspflicht nicht. Das hat der Gesetzgeber in § 160 Abs. 1 Satz 2 SGB IX ausdrücklich klargestellt: „Die Zahlung der Ausgleichsabgabe hebt die Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht auf.“ Es besteht also nicht die Möglichkeit, sich von der Beschäftigungspflicht freizukaufen. Folgerichtig wird nach § 238 Abs. 1 Nr. 1 die vorsätzliche oder fahrlässige Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht als bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit geahndet.
Die Ausgleichsabgabe wird für jeden monatlich unbesetzten Pflichtplatz als ein bestimmter Abgabensatz festgesetzt. Der mit dem Inkrafttreten des SGB IX 2001 in § 160 Abs. 2 Satz 1 SGB IX festgesetzte Satz ist dynamisch ausgestaltet. Nach § 160 Abs. 3 SGB IX erfolgt jeweils in Anpassung an die Veränderung der Sozialversicherungs-Rechengröße eine Erhöhung, wenn diese Bezugsgröße um wenigstens 10% ansteigt. Durch diese vom Gesetzgeber gewählte Konstruktion ist die aktuelle Höhe der Ausgleichsabgabe im Gesetzestext nicht lesbar. Nicht alle Herausgeber von Gesetzessammlungen und Datenbanken sorgen dafür, dass durch Hinweise auf die Anpassungsbekanntmachungen die aktuelle Höhe der Ausgleichsabgabe erkennbar ist. Selbst die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) gibt für 2023 noch die veralteten Staffelsätze an, die bis 2020 galten.2 Es ist jedoch die Anpassung durch das zuständige BMAS, erfolgt 2020 mit Wirkung ab 20213, zu berücksichtigen. Danach ergibt sich für die Jahre 2020 bis 2023 folgende Staffelung der Abgabensätze:
Erfüllungsquote | Abgabe je unbesetzter Pflichtplatz 2018 bis 2020 | Abgabe je unbesetzter Pflichtplatz 2021 bis 2023 |
3 bis unter 5% | 125 Euro | 140 Euro |
2 bis unter 3% | 220 Euro | 245 Euro |
0 bis unter 2% | 320 Euro | 360 Euro |
Für die öffentlichen Arbeitgeber des Bundes, die zum Stichtag 31.10.1999 ihre Quote erfüllt hatten, gilt nach § 241 Abs. 1 SGB IX weiterhin die alte Pflichtquote von 6%. Für diese beträgt bei einer Beschäftigung von wenigstens 5% aber weniger als 6% der seit 2016 unveränderte Satz von 125 Euro je monatlich unbesetzten Pflichtarbeitsplatz.
C. Das Gesetz zur Förderung des inklusiven Arbeitsmarkts
Im Koalitionsvertrag für die 20. Wahlperiode ist vereinbart: „Wir legen den Schwerpunkt auf die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen … und (werden) eine vierte Stufe der Ausgleichsabgabe für jene einführen, die trotz Beschäftigungspflicht keinen Menschen mit Behinderungen beschäftigen.“4 Zur Umsetzung des Auftrags aus dem Koalitionsvertrag hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 04.11.2022 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vorgelegt. Dieser ist nach einer Intervention des Bundesfinanzministers am 24.11.2022 in einigen Punkten abgeändert worden.5 Den abgeänderten Entwurf hat nach Beschlussfassung im Kabinett der Bundeskanzler am 30.12.2022 dem Bundesrat zugeleitet.6 Nach dem ersten Durchlauf im Bundesrat hat der Ausschuss für Arbeit und Soziales am 27.03.2023 eine Anhörung von Sachverständigen durchgeführt7 und am 19.04.2023 dem Bundestag die Annahme des Entwurfs mit einigen Maßgaben empfohlen.8 Am 20.04.2023 hat der Bundestag in 2. und 3. Lesung den Gesetzesbeschluss gefasst.9 Der Bundesrat hat im zweiten Durchgang am 12.05.2023 zugestimmt.10 Das Gesetz ist am 06.06.2023 ausgefertigt und am 13.06.2023 verkündet worden.11 In Art. 13 ist für die hier relevanten Vorschriften ein gestuftes Inkrafttreten am Tage nach der Verkündung oder am 01.01.2024 vorgesehen.
D. Die gesetzliche Festsetzung der Abgabensätze der Ausgleichsabgabe und Einführung einer vierten Staffel
In Art. 2 Nr. 3a des Gesetzes vom 06.06.2023 ist § 160 Abs. 2 Satz 1 SGB IX unter aa) bis dd) in vier Punkten geändert. Werden diese Änderungen eingepflegt, so lautet die Vorschrift in konsolidierter Fassung wie folgt:
Die Ausgleichsabgabe beträgt je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz
1. 140 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von 3 Prozent bis weniger als dem geltenden Pflichtsatz,
2. 245 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von 2 Prozent bis weniger als 3 Prozent,
3. 360 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von mehr als 0 Prozent bis weniger als 2 Prozent,
4. 720 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von 0 Prozent.
Nach Art. 13 Abs. 1 des Gesetzes tritt Art. 2 Nr. 3a erst zum 01.01.2024 in Kraft, denn in den Absätzen 2 bis 5 des Art. 13 ist nichts Abweichendes geregelt. Damit hat der Gesetzgeber für die Zeit ab 2024 die Höhe der in Nr. 1 bis 3 festgesetzten Abgabensätze, die bereits in dieser Höhe aufgrund der Bekanntmachung des BMAS vom 19.11.202012 angepasst worden waren, nur im Wortlaut des Gesetzestextes sichtbar gemacht.13 Das ist zu begrüßen. Angesichts der Komplexität des Schwerbehindertenrechts muss allerdings bezweifelt werden, ob alle Herausgeber von Gesetzessammlungen dies in ihren Druckwerken und Datenbanken richtig nachvollziehen.14
Daraus ergibt sich für das geltende und künftige Recht folgende Aufstellung, die deutlich macht: Durch das Gesetz vom 06.06.2023 hat sich in der Sache nur insoweit eine Veränderung ergeben, dass ab 2024 die vierte Staffel für „Null-Beschäftigende“ mit der Verdoppelung des höchsten Satzes eingeführt wird. Dies geschieht, um einen spürbaren Anreiz zur Beschäftigung für die etwa 45.000 beschäftigungspflichtige Arbeitgeber (also rund ein Viertel der beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber) zu schaffen, die bundesweit keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Dieses Defizit bestand schon seit langem. Der Gesetzgeber wollte es nicht länger hinnehmen.15
Erfüllungsquote | Abgabe je monatlich unbesetzter Pflichtplatz 2023 | Abgabe je monatlich unbesetzter Pflichtplatz ab 2024 |
3% bis weniger als 5% | 140 Euro | 140 Euro |
2% bis weniger als 3% | 245 Euro | 245 Euro |
mehr als 0% bis weniger als 2% | 360 Euro | 360 Euro |
0% | 360 Euro | 720 Euro |
Art. 2 Nr. 3b des Gesetzes hat den § 160 Abs. 2 Satz 2 SGB IX mit Wirkung zum 01.01.2024 neu gefasst. Dieser Satz enthält die bereits heute bestehenden erleichternden Sonderregelungen für kleine Arbeitgeber auf der Grundlage der Anpassung durch die Bekanntmachung vom 19.11.2020, jedoch ergänzt um einen erhöhten Abgabesatz für eine Beschäftigungsquote von 0%.16 Daraus ergibt sich für Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlicher geringer Arbeitsplatzzahl eine geringere Beschäftigungspflicht und zusätzlich auch ein niedrigerer Abgabensatz. Es besteht folgende Staffelung:
- •
Wer weniger als 20 Arbeitsplätze hat, ist nicht beschäftigungspflichtig und zahlt keine Ausgleichsabgabe.
- •
Wer wenigstens 20 aber weniger als 40 Arbeitsplätze hat, muss einen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Beschäftigt er jahresdurchschnittlich weniger als einen schwerbehinderten Menschen, so beträgt die Abgabe 140 Euro und beschäftigt er jahresdurchschnittlich null, so beträgt die Abgabe 210 Euro;
- •
Wer wenigstens 40 aber weniger als 60 Arbeitsplätzen hat, muss zwei Pflichtarbeitsplätze besetzen. Bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von weniger als zwei schwerbehinderten Menschen beträgt die Abgabe 140 Euro, bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von weniger als einem schwerbehinderten Menschen 245 Euro und bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von null schwerbehinderten Menschen 410 Euro.
E. Abschaffung der Ordnungswidrigkeit § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX
Soweit Arbeitgeber ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen, wird diese Unterlassung, sofern sie vorsätzlich oder fahrlässig geschieht, nach noch geltendem § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX als Ordnungswidrigkeit geahndet. Die BA kann als zuständige Verwaltungsbehörde ein Bußgeld bis zu 10.000 Euro verhängen (§ 238 Abs. 2 SGB IX).
Art. 2 Nr. 7 des Gesetzes vom 06.06.2023 bestimmt: „§ 238 Absatz 1 Nummer 1 wird aufgehoben.“ Diese Aufhebung tritt nach Art. 13 Abs. 1 des Gesetzes jedoch erst mit Wirkung zum 01.01.2024 ein; denn in Art. 13 Abs. 2 bis 5 ist kein abweichendes Datum des Inkrafttretens geregelt. Somit kann die schuldhafte Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht bis zum 31.12.2023 verfolgt werden. Wer allerdings meint, er sei mit der Zahlung der Ausgleichsabgabe ab 2024 von der Beschäftigungspflicht befreit, der irrt sich. Das Gesetz vom 13.06. 2023 hat die klare Formulierung in § 160 Abs. 1 Satz 2 SGB IX „Die Zahlung … hebt die Pflicht nicht auf“ nicht geändert. Deshalb können Interessenvertretungen weiterhin die an die Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht anknüpfenden besonderen Beteiligungsrechte nach § 164 Abs. 1 Sätze 7 bis 9 SGB IX geltend machen. Abgelehnte Bewerberinnen und Bewerber können sich zudem, wenn sie Ansprüche aus § 15 Abs. 1 und 2 AGG wegen behinderungsbedingter Benachteiligung geltend machen wollen, auf die Vermutung einer Benachteiligung i.S.v. § 22 AGG berufen. Insoweit hat der Staat die Sorge für die Einhaltung der Mindestbeschäftigung privatisiert. Nachdem er sich bereits 1974 des Rechts entledigt hat, im Rahmen des Verwaltungszwangs gegen beschäftigungsunwillige Arbeitgeber vorzugehen, hat er nun mit dem Gesetz vom 06.06.2023 ab 2024 auch auf die Verfolgung von Inklusionsverweigerern mit Hilfe des Ordnungswidrigkeitenrechts verzichtet.