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Anmerkung zu:BGH 6. Zivilsenat, Urteil vom 05.11.2024 - VI ZR 12/24
Autor:Prof. Dr. Sigrid Lorz
Erscheinungsdatum:07.02.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 842 BGB, § 843 BGB, § 1 MiLoG, § 21 JVEG, § 2 ZuSEG, § 38 SGB 5, § 287 ZPO
Fundstelle:jurisPR-BGHZivilR 3/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Markus Würdinger, Universität Passau
Zitiervorschlag:Lorz, jurisPR-BGHZivilR 3/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Schätzung der Höhe des Stundensatzes bei fiktiver Berechnung des Haushaltsführungsschadens



Leitsatz

Zu den Anforderungen an den Tatrichter hinsichtlich der Darlegung der tatsächlichen Grundlagen einer nach § 287 ZPO vorgenommenen Schadensschätzung (hier: Stundensatz bei fiktiver Berechnung eines Haushaltsführungsschadens).



A.
Problemstellung
Der Haushaltsführungsschaden ist eine nach den §§ 842, 843 Abs. 1 BGB ersatzfähige Schadensposition. Diesen kann der Geschädigte im Rahmen seiner Dispositionsfreiheit entweder konkret bei Beschäftigung einer Haushaltskraft oder fiktiv abrechnen. Bei der fiktiven Schadensberechnung wird die Anzahl der notwendigen Arbeitsstunden mit dem Nettostundenlohn einer fiktiven professionellen Ersatzkraft multipliziert. Der Tatrichter kann den Arbeitslohn im Rahmen des Grundsatzes der freien Schadensermittlung gemäß § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO schätzen. Dies entbindet ihn aber nicht davon, die tatsächlichen Grundlagen seiner Schätzung darzulegen.
Der BGH setzte sich in seiner Entscheidung mit der Frage auseinander, wie die Höhe des Stundensatzes bei der fiktiven Berechnung des Haushaltsführungsschadens geschätzt werden kann.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin forderte infolge eines Verkehrsunfalls von der gegnerischen Kfz-Haftpflichtversicherung, die dem Grunde nach voll einstandspflichtig war, Ersatz ihres fiktiv abzurechnenden Haushaltsführungsschadens im Zeitraum von Ende Oktober bis Anfang November 2016. Während das AG Augsburg der Klage teilweise stattgab und einen Stundensatz von 12 Euro zugrunde legte, ging das LG Augsburg unter pauschaler Bezugnahme auf andere Urteile nur von einem Stundensatz von 8 Euro aus.
Der BGH wiederum hat das Berufungsurteil aufgehoben, soweit es zum Nachteil der Klägerin abgeändert worden war, und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Hierzu führte er zunächst in Anknüpfung an seine ständige Rechtsprechung aus, dass der Verlust der Fähigkeit zur Verrichtung von Haushaltsarbeiten ein ersatzfähiger Schaden i.S.v. § 843 Abs. 1 Alt. 1 BGB (Erwerbsschaden) oder § 843 Abs. 1 Alt. 2 BGB (Vermehrung der Bedürfnisse) sei. Dies sei unabhängig davon, ob der Geschädigte tatsächlich Vermögensaufwendungen für die Entlohnung einer Ersatzkraft getätigt habe. Im Fall der Beschäftigung einer Hilfskraft zur Verrichtung der nicht mehr ausführbaren oder nicht mehr zumutbaren häuslichen Arbeiten sei der Bruttolohn zu erstatten. Die fiktive Berechnung des Haushaltsführungsschadens orientiere sich hingegen am Nettolohn.
Zwar sei es nicht Aufgabe des BGH, dem Tatrichter im Rahmen seiner Schadensschätzung nach § 287 ZPO eine bestimmte Berechnungs- oder Ermittlungsmethode vorzuschreiben. Gleichwohl müsse dieser die tatsächlichen Grundlagen seiner Schätzung und ihrer Auswertung darlegen. Dem sei das Berufungsgericht bei Annahme der Vergütung einer fiktiven Ersatzkraft i.H.v. 8 Euro netto pro Stunde nicht nachgekommen. Es habe lediglich pauschal auf zwei Entscheidungen des OLG München zu einem jeweils 2009 entstandenen Haushaltsführungsschaden verwiesen. Da der Schaden im zu entscheidenden Fall aber erst 2016 eingetreten sei, ließen sich die dortigen Erwägungen zum maßgeblichen Lohnniveau nicht ohne Weiteres auf den Streitfall übertragen. Auch rechtfertigten die vom Berufungsgericht vorgebrachten Schwierigkeiten im Hinblick auf die Feststellung des erforderlichen Beschäftigungsumfangs einer Ersatzkraft nicht den Verzicht auf eine nachvollziehbare Darlegung der Schätzungsgrundlagen. Vielmehr hätte es als Grundlage für den angenommenen Nettostundenlohn den Bruttostundenlohn, dessen Ermittlung und den davon abzuziehenden Betrag darlegen müssen.
Der BGH führte weiter aus, dass der im maßgeblichen Zeitraum geltende Mindestlohn die Untergrenze des Bruttolohns bilde. Bei Heranziehung des Mindestlohns als Bezugsgröße müsse der Tatrichter nachvollziehbar begründen, warum dieser bei möglicher Orientierung an durchschnittlichen Maßstäben als die Vergütung angesehen werden könne, die vom Geschädigten für eine fiktive Ersatzkraft zu zahlen wäre. Hierzu sei von den Umständen des Einzelfalls, etwa den Anforderungen an die konkret zu erbringende Haushaltstätigkeit, auszugehen. Dagegen sei der in § 21 Satz 1 JVEG vorgesehene Stundensatz für die Entschädigung von Zeugen für Nachteile bei der Haushaltsführung als alleinige Schätzungsgrundlage ungeeignet. Im Unterschied zur Schadensschätzung diene die Zeugenentschädigung nicht dem Zweck, einen Schaden vollständig, aber nicht übermäßig zu kompensieren. Auch seien die für ihre Höhe maßgeblichen tatsächlichen Grundlagen nicht in einer Weise offengelegt, dass der Tatrichter beurteilen könnte, ob sie auch unter den konkreten Umständen als Ausgangspunkt der Schadensschätzung geeignet seien.


C.
Kontext der Entscheidung
§ 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO ermächtigt den Tatrichter zur Schadensschätzung nach seiner freien Überzeugung. Die Beweiserleichterungsregelung ermöglicht es ihm, die Höhe des Schadens nach seinem Ermessen zu schätzen, nicht jedoch nach Billigkeit zu bestimmen. Daher genügt einerseits zur Überzeugungsbildung eine höhere oder deutlich höhere, jedenfalls überwiegende Wahrscheinlichkeit (BGH, Urt. v. 22.09.1992 - VI ZR 293/91 - NJW 1992, 3298, 3299; Vieweg/Lorz in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 9. Aufl. 2024, Kap. I Rn. 166). Andererseits muss das Gericht die für seine Überzeugungsbildung relevanten Umstände nachvollziehbar und einzelfallbezogen darlegen. Dazu sind im Urteil die tatsächlichen Grundlagen der Schätzung und ihrer Auswertung in objektiv nachprüfbarer Weise vollständig und widerspruchsfrei darzulegen (Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 116 Rn. 23). Die Ausübung des Ermessens wird in der Revision nur dahin gehend überprüft, ob der Tatrichter die Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Acht gelassen oder unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat (BGH, Urt. v. 16.07.2024 - VI ZR 243/23 - RuS 2024, 921, 922; Thole in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 287 Rn. 55).
Der BGH schreibt daher bei der Bemessung der Höhe des Stundenlohns einer fiktiven Ersatzkraft zur Ermittlung des Haushaltsführungsschadens als normativen Schaden keine bestimmte Schätzungsgrundlage vor. Er verlangt nur, dass aus dem tatrichterlichen Urteil nachvollziehbar hervorgeht, auf welchen konkreten Annahmen die Schätzung beruht. Zugleich erachtete er den nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG jeweils geltenden Mindestlohn (2016: 8,50 Euro; 2025: 12,82 Euro) als Untergrenze des Bruttolohns, der als Referenzgröße für den zu schätzenden Nettolohn dient. Abweichend hiervon kann die Schätzung auch auf Grundlage des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst des Bundes (Schulz-Borck/Pardey, Der Haushaltsführungsschaden. Entgelttabellen TVöD/Bund zur Bewertung von Personenschäden in der Haushaltsführung, 10. Aufl. 2024, S. 17 ff.) oder des jeweiligen regionalen Entgelttarifvertrages zwischen dem DHB – Netzwerk Haushalt, Berufsverband der Haushaltsführenden e.V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten erfolgen (Vieweg/Lorz in: Staudinger, BGB, 2023, § 842 Rn. 128; Lang, DAR 2022, 301, 305).
Dagegen erachtet der BGH den in § 21 Satz 1 JVEG festgesetzten Stundensatz für die Entschädigung von Zeugen für Nachteile bei der Haushaltsführung (2016: 14 Euro; 2025: 17 Euro) als ungeeignet für eine Schätzungsgrundlage. Diese Regelung gewährt keinen Schadensersatz, sondern eine pauschalierte Entschädigung aus Billigkeitsgründen und hat mit der Honorierung der Haushaltsführung unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit eine andere Zielsetzung (BVerfG, Beschl. v. 10.10.1978 - 2 BvL 3/78 - BVerfGE 49, 280, 284 f., zu § 2 Abs. 3 ZuSEG als Vorgängerregelung; Weber in: Toussaint, Kostenrecht, 54. Aufl. 2024, § 21 JVEG Rn. 3). Im Unterschied zum Haushaltsführungsschaden ist sie nur anwendbar, wenn der Zeuge einen Haushalt für mehrere Personen führt und nicht voll erwerbstätig ist. Darüber hinaus ist auch der Rückgriff auf § 38 Abs. 4 Satz 1 SGB V, wonach die Krankenkasse in bestimmten Krankheitsfällen die Kosten für eine selbst beschaffte Haushaltshilfe in angemessener Höhe erstattet, ungeeignet. Diese Regelung dient ebenfalls nicht dem Schadensausgleich, sondern soll verhindern, dass ein gesetzlich krankenversicherter Patient eine erforderliche Krankenbehandlung ablehnt, weil andernfalls sein Haushalt mit versorgungsbedürftigen Kindern nicht weitergeführt werden könnte (von Hardenberg in: Spickhoff, Medizinrecht, 4. Aufl. 2022, § 38 SGB V Rn. 1). Zudem fordert § 38 Abs. 5 SGB V eine Zuzahlung durch den Versicherten.
Die Bezugnahme auf bereits ergangene Urteile zur Höhe des Stundenlohns ist hingegen grundsätzlich zulässig, sofern diese ihrerseits den Anforderungen an die Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO genügen. Gleichwohl verbietet sich wie auch in dem vom BGH entschiedenen Fall ein pauschaler Verweis. Vielmehr sind die fortschreitende Lohnentwicklung und die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Letztere betreffen insbesondere regionale Lohnunterschiede (Vieweg/Lorz in: Staudinger, BGB, 2023, § 842 Rn. 128; Quirmbach/Strunk, DAR 2024, 6, 9) und die konkreten Haushaltstätigkeiten, die der Geschädigte nicht selbst verrichten kann. So benötigt etwa eine fiktive Ersatzkraft bei der Betreuung von Kindern eine besondere Qualifikation (Lang, DAR 2022, 301, 305). Diesen individuellen Gegebenheiten ist auch dann Rechnung zu tragen, wenn der Mindestlohn oder ein Tarifvertrag für die Schadensschätzung herangezogen werden soll.
Der BGH hält bei fiktiver Berechnung einen pauschalen Abzug von 30 Prozent vom Bruttolohn für Steuern und Sozialversicherungsabgaben für zulässig (BGH, Urt. v. 08.02.1983 - VI ZR 201/81 - BGHZ 86, 372, 378). Da aber bei der Schadensschätzung ihre tatsächlichen Grundlagen in objektiv nachprüfbarer Weise anzugeben sind, ist es vorzugswürdig, nur die Steuern und Abgaben, die bei Beschäftigung einer Haushaltshilfe im Privathaushalt üblicherweise tatsächlich anfallen, in Abzug zu bringen (vgl. Wessel in: Jahnke/Burmann, Handbuch Personenschadensrecht, 2. Aufl. 2022, Kap. 5 Rn. 984). So wird etwa bei einer geringfügigen Beschäftigung bis zu einer monatlichen Verdienstgrenze von 556 Euro, ohne Befreiung von der Versicherungspflicht, vom Bruttolohn nur ein Beitrag von 13,6% zur gesetzlichen Rentenversicherung abgezogen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Will der Tatrichter bei fiktiver Berechnung des Haushaltsführungsschadens die Höhe der Vergütung einer Ersatzkraft nach § 287 ZPO revisionsfest schätzen, so reicht der pauschale Verweis auf andere Urteile nicht aus. Vielmehr muss er zunächst eine geeignete Schätzungsgrundlage für die Ermittlung des Bruttostundenlohns heranziehen. Anschließend hat er die konkreten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der anfallenden Haushaltstätigkeiten und des regionalen Lohnniveaus zu berücksichtigen. Auf dieser Grundlage ist schließlich der Nettostundenlohn unter Abzug der Sozialversicherungsabgaben und – bei einem fiktiven monatlichen Verdienst von mehr als 556 Euro – auch der Steuern zu ermitteln.



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