Ausschluss des Rücktritts durch den Gläubiger bei konkludenter Risikoübernahme nach § 323 Abs. 6 Fall 1 BGB und § 326 Abs. 2 Satz 1 Fall 1 BGBLeitsätze 1. Eine Verantwortlichkeit des Gläubigers i.S.v. § 323 Abs. 6 Fall 1 BGB und § 326 Abs. 2 Satz 1 Fall 1 BGB kann auch dann anzunehmen sein, wenn die Auslegung des Vertrags ergibt, dass der Gläubiger nach der vertraglichen Gestaltung das Risiko eines bestimmten Leistungshindernisses ausdrücklich oder konkludent übernommen hat und sich dieses Leistungshindernis verwirklicht (Bestätigung von BGH, Beschl. v. 26.01.2023 - IX ZR 17/22 - NZM 2023, 460 Rn. 9; BGH, Urt. v. 13.01.2011 - III ZR 87/10 - BGHZ 188, 71 = NJW 2011, 756 Rn. 16; BGH, Urt. v. 11.11.2010 - III ZR 57/10 - NJW-RR 2011, 916 Rn. 18; BGH, Urt. v. 18.10.2001 - III ZR 265/00 - NJW 2002, 595 Rn. 9). 2. Die stillschweigende Übernahme eines Risikos kommt insbesondere in Betracht, wenn dieses schon bei Vertragsschluss bestanden hat und nur eine Vertragspartei in der Lage war, es abzuschätzen, oder wenn seine Verwirklichung von persönlichen Verhältnissen eines Vertragspartners abhängt, die der andere Teil nicht beeinflussen kann (Bestätigung von BGH, Urt. v. 18.10.2001 - III ZR 265/00 - NJW 2002, 595 Rn. 9; BGH, Urt. v. 11.11.2010 - III ZR 57/10 - NJW-RR 2011, 916 Rn. 12 und 18). 3. Eine stillschweigende Risikoübernahme in diesem Sinne ist in der Regel zu bejahen, wenn der Gläubiger eine Luftbeförderung unter Ausschluss der nachträglichen Änderung des Beförderungszeitpunktes bucht, obwohl die zu befördernden Personen von einem für das Zielland seit längerem bestehenden Einreiseverbot betroffen sind, das an den Zweck der Reise oder sonstige persönliche Umstände anknüpft, und nicht absehbar ist, ob dieses Verbot vor dem vereinbarten Beförderungszeitpunkt aufgehoben wird (Abgrenzung zu BGH, Urt. v. 30.11.1972 - VII ZR 239/71 - BGHZ 60, 14 Rn. 16 ff.). - A.
Problemstellung Der BGH hatte darüber zu entscheiden, ob eine Reiseagentur (Klägerin) das Risiko eines andauernden Einreiseverbots aufgrund der Corona-Pandemie vertraglich ausdrücklich oder konkludent übernommen hat, und ob sie von dem Vertrag mit der Beklagten unter der Voraussetzung zurücktreten und das Beförderungsgeld, das sie für die Buchung eines Fluges des Kunden gezahlt hatte, erstattet verlangen kann, wenn das übernommene Risiko sich verwirklicht, dass der Kunde während des Einreiseverbots für das Zielland den gebuchten Flug nicht antritt. Das Einreiseverbot, das auch die Reise des Kunden betraf, bestand schon im Zeitpunkt der Buchung. Die Reiseagentur hatte einen Tarif gewählt, der für den Fall der Stornierung lediglich die Erstattung von Steuern und Gebühren vorsah.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Erstattung des Beförderungsentgelts für den nicht angetretenen Flug in Anspruch. Die Klägerin, eine Reiseagentur, buchte bei der Beklagten für drei Fluggäste eine Flugreise in die USA. Sie zahlte den Flugpreis in Höhe von ca. 2.113 Euro inklusive Steuern und Gebühren. Die Fluggäste traten die Reise nicht an, da während der Corona-Pandemie ein unbefristetes Einreiseverbot für touristische Passagiere bestand. Dieses galt zum Zeitpunkt der Buchung der Flüge bereits seit rund sieben Monaten und noch zum geplanten Reisezeitpunkt. Der von der Klägerin gebuchte Tarif sah für den Fall der Stornierung lediglich die Erstattung von Steuern und Gebühren vor. Das Amtsgericht hat der Klage hinsichtlich der im Flugpreis enthaltenen Steuern und Gebühren stattgegeben und diese im Übrigen abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin mit der Begründung zurückgewiesen, der Klägerin stehe ein weiterer Anspruch auf Rückerstattung des Flugpreises nicht zu Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Der BGH hat die Revision mit im Wesentlichen folgender Begründung zurückgewiesen: Die Erwägungen des Berufungsgerichts sind rechtsfehlerfrei; das Berufungsgericht hat alle Anspruchsgrundlagen für den vollen Flugpreis verneint: Die Klägerin kann ihren Anspruch nicht auf § 346 Abs. 1 BGB i.V.m. § 326 Abs. 5 BGB und § 275 Abs. 1 BGB stützen. Die Fluggäste sind vom Beförderungsvertrag, einem Werkvertrag, dadurch konkludent zurückgetreten, dass sie die Reise nicht angetreten haben. Die Klägerin ist an diese Erklärungen gebunden. Ob die Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistung für die Beklagte unmöglich i.S.v. § 275 Abs. 1 BGB war, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Unter der Annahme, dass die Leistung unmöglich gewesen sei, wäre ein Rücktritt der Kläger gemäß § 323 Abs. 6 Fall 1 BGB ausgeschlossen, und der Beklagten stünde nach § 326 Abs. 2 BGB i.V.m. § 648 Satz 2 BGB ein Vergütungsanspruch zu. Ein Rücktritt der Klägerin vom Vertrag ist jedenfalls gemäß den §§ 323 Abs. 6, 326 Abs. 5 BGB ausgeschlossen, weil sie für den Umstand, der zum Rücktritt berechtigen soll, die Unmöglichkeit der Beförderung, verantwortlich ist. Die Klägerin ist für eine aus dem Fortbestehen des Einreiseverbots resultierende Unmöglichkeit verantwortlich i.S.v. § 323 Abs. 6 Fall 1 BGB und § 326 Abs. 2 Satz 1 Fall 1 BGB, weil sie das Risiko, das sich aus diesem bereits bei Vertragsschluss bestehenden Verbot ergab, stillschweigend übernommen hat. Die stillschweigende Übernahme eines Risikos kommt insbesondere in Betracht, wenn dieses schon bei Vertragsschluss bestanden hat und nur eine Vertragspartei in der Lage war, es abzuschätzen. Dieses Verbot und das daraus resultierende Risiko waren der Klägerin bei der Buchung bekannt. Es war unabhängig davon schon deshalb ohne Weiteres erkennbar, weil das Verbot im Zeitpunkt der Buchung schon seit mehreren Monaten bestand und Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung war.
- C.
Kontext der Entscheidung Der BGH hat mit dem Besprechungsurteil seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, auf die entsprechenden Entscheidungen verweist der BGH in seinen drei Leitsätzen (Rn. 25 des Besprechungsurteils): zur Verantwortlichkeit des Gläubigers i.S.v. § 323 Abs. 6 Fall 1 BGB (Leitsatz 1) und zur konkludenten Übernahme eines Risikos (Leitsatz 2). Überdies hat der BGH mit dem Besprechungsurteil diese Grundsätze auf die Fallkonstellation übertragen, in der der Gläubiger eines Luftbeförderungsvertrages einen Flug unter Ausschluss der Änderung des Beförderungszeitpunktes bucht, so dass der vorgesehene Flug von dem bestehenden Einreiseverbot betroffen ist (Leitsatz 3; ausführlich zu § 323 Abs. 6 BGB vgl. Staudinger/Schwarze, BGB, 2020, § 326 F5 bis F8 m.w.N.; Schmidt in: BeckOK BGB, 71. Ed. Stand: 01.08.2024, § 323 Rn. 40 m.w.N.; zum Bau- und Planervertrag: Oberhauser in: Messerschmidt/Voit, Privates Baurecht, 4. Aufl., N. Unwirksamkeit und vorzeitige Beendigung von Bau- und Planerverträgen Rn. 40; Ulber in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 323 Rn. 63 bis 65 m.w.N.).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Die bisherigen Entscheidungen sind keine hinreichende Grundlage für die Konzeption eines systematischen Grundsatzes oder einer Fallgruppe, weil es sich um komplexe Einzelfallentscheidungen handelt. Für den Praktiker, der mit einem Fall befasst ist, auf den § 323 Abs. 6 BGB möglicherweise anwendbar sein kann, bleibt nur der methodische Weg der Fallvergleichung. Die umfangreiche Literatur bietet hilfreiche Hinweise (vgl. Nachw. oben unter C a.E.). Für die Vertragsgestaltung ist zu empfehlen, eine ausdrückliche oder eine konkludente Risikoübernahme nach Möglichkeit auszuschließen. Das Besprechungsurteil und die im Leitsatz 2 f. genannten Kriterien sowie die in den beiden ersten Leitsätzen bestätigten Entscheidungen verdeutlichen, dass das Risiko gegeben sein kann, dass die Gerichte eine konkludente Risikoübernahme annehmen.
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