Freistellung von der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht für auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft entsandte AufsichtsratsmitgliederLeitsatz Die Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG für Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, setzt keine Gewähr besonderer Vertraulichkeit seitens des Berichtsempfängers voraus. - A.
Problemstellung § 116 Satz 2 AktG verpflichtet die Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen. § 394 AktG trifft insoweit eine Sonderregelung für Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind. Diese unterliegen hinsichtlich der Berichte, die sie der Gebietskörperschaft zu erstatten haben, keiner Verschwiegenheitspflicht (Satz 1). Dies gilt jedoch nicht für vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, wenn ihre Kenntnis für die Zwecke der Berichte nicht von Bedeutung ist (Satz 2). Die Berichtspflicht kann auf Gesetz, auf Satzung oder auf dem Aufsichtsrat in Textform mitgeteiltem Rechtsgeschäft beruhen (Satz 3). Personen, die damit betraut sind, die Beteiligungen einer Gebietskörperschaft zu verwalten oder für eine Gebietskörperschaft die Gesellschaft, die Betätigung der Gebietskörperschaft als Aktionär oder die Tätigkeit der auf Veranlassung der Gebietskörperschaft gewählten oder entsandten Aufsichtsratsmitglieder zu prüfen, haben über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen aus Berichten nach § 394 bekannt geworden sind, Stillschweigen zu bewahren; dies gilt nicht für Mitteilungen im dienstlichen Verkehr (§ 395 Abs. 1 AktG). Das Verfahren bot dem BVerwG die Gelegenheit, die von der bisher in der Literatur überwiegend bejahten Frage zu klären, ob Berichtsempfänger nach diesen Vorschriften nur sein kann, wer tatsächlich die Gewähr für die Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht bietet (vgl. dazu Schockenhoff in: MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2021, § 394 Rn. 38; Stehlin in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020, § 394 Rn. 7; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrates, 7. Aufl. 2020, § 20 Rn. 1433; Oetker in: K. Schmidt/Lutter, AktG Kommentar, 5. Aufl. 2024, § 394 Rn. 31; Schmidt-Aßmann/Ulmer, BB 1988, Beilage 13, 1, 9; Belcke/Mehrhoff, GmbHR 2016, 576, 578; Land/Hallermayer, AG 2011, 114, 118).
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Klägerinnen sind Fraktionen im Rat einer nordrhein-westfälischen Stadt. Sie begehren vom beklagten Oberbürgermeister der Stadt die Gewährung von Einsicht in näher bezeichnete Unterlagen im Zusammenhang mit einer Aufsichtsratssitzung einer Aktiengesellschaft, an der die Stadt mittelbar beteiligt ist und in deren Aufsichtsrat der Beklagte Mitglied ist. Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerinnen unter Hinweis auf seine gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht als Aufsichtsratsmitglied ab. Das VG hat der daraufhin erhobenen Klage teilweise stattgegeben. Im Berufungsverfahren hat der Beklagte mitgeteilt, er verfüge nur über ein Dokument, das vom Akteneinsichtsgesuch erfasst sei. Das OVG hat das Urteil des VG geändert und den Beklagten unter Zurückweisung seiner Berufung verpflichtet, den Klägerinnen durch namentlich benannte Ratsmitglieder Akteneinsicht in die das vom Beklagten näher bezeichnete Dokument zu gewähren, soweit nicht andere Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse oder Informationen über vertrauliche Berichte und Beratungen enthalten seien. Das BVerwG hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsräten in Aktiengesellschaften (§ 116 Satz 1 AktG i.V.m. den §§ 93 Abs. 1 Satz 3, 116 Satz 2 AktG) sei bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 394 AktG suspendiert, sowie seine weitere Erwägung, die Berichtspflicht des Beklagten nach § 113 Abs. 5 Satz 1 GO NRW sei mit den §§ 394 f. AktG vereinbar, stünden im Einklang mit Bundesrecht. Das Berufungsgericht habe eine Berichtspflicht nach § 394 Satz 1 AktG der landesrechtlichen Bestimmung des § 113 Abs. 5 Satz 1 GO NRW entnommen. Es habe diese irrevisible Vorschrift für das Revisionsgericht bindend dahin ausgelegt und angewandt, dass der Beklagte als Mitglied des Aufsichtsrats der hier in Rede stehenden Aktiengesellschaft im Hinblick auf das streitgegenständliche Schreiben gegenüber dem Rat grundsätzlich berichtspflichtig sei. Die weitere berufungsgerichtliche Annahme, § 394 Satz 1 AktG lasse sich nicht entnehmen, dass Bestimmungen, die nach Satz 3 eine Berichtspflicht begründeten, ein besonderes Maß an Vertraulichkeit gewährleisten müssten und dies bei einer größeren Zahl von Berichtsempfängern wie dem Rat einer Kommune von vornherein nicht der Fall sein könne, sei bundesrechtskonform. Die Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG setze keine Gewähr besonderer Vertraulichkeit des Berichtsempfängers voraus. Die Vorschrift schließe den Rat einer Gemeinde als Berichtsempfänger nicht aus. Diese Auslegung entnimmt das BVerwG vornehmlich der Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie ihrem Zweck. Wortlaut und Systematik stünden dem nicht entgegenstehen. Der Wortlaut des § 394 Satz 1 AktG biete für die Auslegung, dass die Verschwiegenheitspflicht eines Aufsichtsratsmitglieds bei bestehender Berichtspflicht nur dann entfalle, wenn seitens des Berichtsempfängers ein besonderes Maß an Vertraulichkeit gewährleistet sei, keinen Anknüpfungspunkt. Die Entstehungsgeschichte spreche gegen eine Auslegung des § 394 Satz 1 AktG, die vom Berichtsempfänger die Gewähr besonderer Vertraulichkeit verlange und den Rat einer Gemeinde als Berichtsempfänger ausschließe. Die Bestimmungen der §§ 394, 395 AktG seien erstmals im Jahr 1965 in das Aktiengesetz eingeführt worden. Sie hätten die aktienrechtliche Verschwiegenheitspflicht den besonderen Verhältnissen der auf Vorschlag von Gebietskörperschaften in den Aufsichtsrat gewählten oder entsandten Mitglieder anpassen sollen. Der Verlauf der Beratungen im Rechtsausschuss lege nahe, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der Rat einer Gemeinde vom Kreis möglicher Berichtsempfänger i.S.d. § 394 Satz 1 AktG habe umfasst sein sollen. So sei in der Beratung des damaligen § 381b AktG und späteren § 394 AktG ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass in einigen Ländern der Gemeinderat Spitze der Verwaltung sei und das Aufsichtsratsmitglied ihm gegenüber von der Schweigepflicht entbunden werde. Daraufhin sei ein Gesetzesvorschlag unterbreitet worden, der diese Folge ausschließen habe sollen. Im unmittelbaren Anschluss an die anschließende Diskussion habe der Rechtsausschuss die (späteren) §§ 394, 395 AktG angenommen, ohne den Wortlaut entsprechend dem unterbreiteten Vorschlag zu ergänzen oder anderweitig klarzustellen, dass der Rat einer Gemeinde kein möglicher Berichtsempfänger i.S.d. § 394 Satz 1 AktG sein könne. Der Entstehungsgeschichte der mit dem Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes vom 22.12.2015 (BGBl I, 2565) abgeschlossenen Aktienrechtsnovelle 2016 lasse sich nichts Abweichendes entnehmen. Die Systematik der §§ 394 f. AktG stehe der aus ihrer Entstehungsgeschichte gewonnenen Auslegung nicht entgegen. § 394 Satz 1 AktG spreche hinsichtlich der Adressaten der Berichtspflicht von Berichten, „die sie [die Aufsichtsratsmitglieder] der Gebietskörperschaft zu erstatten haben“. Das Berufungsgericht habe zu Recht darauf verwiesen, dass die konkreten Adressaten durch das Organisationsrecht der Gebietskörperschaft bestimmt würden und wegen des systematischen Zusammenhangs mit § 395 Abs. 1 AktG der Bericht nur an diejenigen Personen gerichtet werden dürfe, welche die Beteiligung der Gebietskörperschaft verwalteten oder prüften. § 395 Abs. 1 AktG erweitere die Verschwiegenheitspflicht des § 394 AktG auf diejenigen Personen, die nicht selbst Organmitglieder, sondern aus Sicht der Aktiengesellschaft als Dritte zu betrachten seien. Die Vorschrift verfolge das Ziel, die aktienrechtliche Verschwiegenheitspflicht auf diejenigen Personen zu erstrecken, die mit Berichten nach § 394 AktG im Rahmen einer ordnungsgemäßen Beteiligungsverwaltung bestimmungsgemäß in Berührung kämen. Sie grenze den Kreis der Berichtsempfänger zwar auf solche Personen ein, hebe aber die mit § 394 AktG verbundene Lockerung des aktienrechtlichen Vertraulichkeitsgrundsatzes nicht auf. Die Gesamtschau der §§ 394 f. AktG rechtfertige daher nicht die Annahme, die Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG greife nur dann ein, wenn die Vertraulichkeit des Berichtsempfängers tatsächlich gewährleistet sei. Sinn und Zweck des § 394 AktG sprächen ebenfalls für ein Verständnis der Vorschrift, das die Gewähr besonderer Vertraulichkeit des Berichtsempfängers nicht voraussetze und den Rat einer Gemeinde als Berichtsempfänger nicht ausschließe. § 394 AktG bestimme das Verhältnis einer bestehenden Berichtspflicht eines auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in einen Aufsichtsrat gewählten oder entsandten Aufsichtsratsmitglieds zur grundsätzlichen Verschwiegenheitspflicht nach den §§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 AktG. Aufgabe der §§ 394 f. AktG sei es, die Pflichtenkollision zwischen der gesellschaftsrechtlichen Verschwiegenheitspflicht und dem öffentlichen Interesse der Gebietskörperschaft an einer effektiven Beteiligungsverwaltung zu regeln. Sie stellten Sonderbestimmungen zugunsten der öffentlichen Hand dar, die ausweislich der Gesetzesmaterialien die gesellschaftsrechtlichen Verschwiegenheitsgrundsätze der besonderen Situation öffentlicher Unternehmensbeteiligungen anpassen sollten. Das mit ihnen verfolgte Regelungsziel, dem Interesse der Gebietskörperschaft an einer effektiven Beteiligungsverwaltung und -prüfung Rechnung zu tragen, schließe die Wahrnehmung demokratischer Kontrolle durch das zuständige Gemeindeorgan ein. Andernfalls käme das durch § 394 AktG anerkannte Informationsinteresse der Gebietskörperschaft nicht in ausreichendem Maße zur Geltung. Dass dem öffentlichen Kontrollinteresse in diesem Zusammenhang ausnahmsweise Vorrang vor den allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Vertraulichkeitsgrundsätzen einzuräumen sei, lege zudem die jüngere Rechtsprechung des BVerfG nahe. Die darin hervorgehobene Kontrollfunktion des Parlaments sei Ausdruck der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Auch bei Beteiligung an privaten Unternehmensformen unterliege die öffentliche Hand demokratischer Kontrolle. Deren effektive Wahrnehmung sei nur gewährleistet, wenn dem zuständigen Kontrollorgan die nötigen Informationen zur Verfügung gestellt würden. Dabei sei der demokratischen Kontrollfunktion nicht nur im Verhältnis von Parlament und Regierung Rechnung zu tragen, sondern auch auf kommunaler Ebene. Denn Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG übertrage die Grundentscheidungen für Volkssouveränität und Demokratie (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) auf die Ebene der Gemeinden, unabhängig davon, dass die Gemeindevertretung kein Parlament, sondern ein Organ einer Selbstverwaltungskörperschaft sei. Die Gemeindevertretung sei demokratisch legitimiert, repräsentiere die Bürger ihrer Gemeinde und sei diesen gegenüber verantwortlich. Stehe danach die Auslegung der §§ 394 f. AktG durch das Berufungsgericht mit Bundesrecht im Einklang, erweise sich auch deren Anwendung als revisionsrechtlich fehlerfrei.
- C.
Kontext der Entscheidung Mit dem Urteil ist die Frage, ob die Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG eine Gewähr besonderer Vertraulichkeit des Berichtsempfängers voraussetzt gegen die bisher in der rechtswissenschaftlichen Literatur vorherrschende Auffassung entschieden. Das BVerwG lehnt die Annahme eines entsprechenden ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Norm aufgrund von deren Entstehungsgeschichte sowie deren Sinn und Zweck ab.
- D.
Auswirkungen für die Praxis In der Praxis dürften damit die Möglichkeiten, Akteneinsichtsgesuche von Ratsmitgliedern, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit von in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft entsandten Vertretern einer Gebietskörperschaft stehen, abzulehnen, deutlich eingeschränkt sein. Die Kontrollmöglichkeiten des Gemeinderats dürften dadurch gestärkt werden. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Aktiengesellschaft bleiben unter den Voraussetzungen des § 394 Satz 2 AktG gleichwohl weiterhin geschützt.
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