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Anmerkung zu:BVerwG 4. Senat, Urteil vom 24.04.2024 - 4 C 2/23
Autor:Prof. Dr. Andreas Decker, RiBVerwG
Erscheinungsdatum:07.04.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 6 BauNVO, § 34 BBauG, § 1 BBauG, § 10 BBauG, § 36 BBauG, § 31 BBauG, § 201a BBauG, § 47 VwGO
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 7/2025 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Decker, jurisPR-BVerwG 7/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Funktionslosigkeit einer Festsetzung zur Geschossflächenzahl (Betrachtungsraum, Offenkundigkeitserfordernis)



Leitsätze

1. Die Betrachtung der Funktionslosigkeit einer Festsetzung kann auf ein Teilgebiet des Bebauungsplans begrenzt werden, wenn die betroffene Festsetzung ihre Wirkung nach der Plankonzeption der Gemeinde in diesem Bereich auch ungeachtet benachbarter Bereiche entfalten soll.
2. Der Verlust der Steuerungsfähigkeit einer Festsetzung ist offenkundig, wenn auf der Grundlage des ausermittelten Sachverhalts und nach einer durch Fachkenntnisse geprägten Betrachtung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse die nachträglich eingetretenen Abweichungen im maßgeblichen Betrachtungsraum nach Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht haben, aufgrund dessen sich der Schluss aufdrängt, dass ein Vertrauen in die Fortgeltung der Festsetzung nicht mehr schutzwürdig ist.
3. Das Einzelfallerfordernis in § 31 Abs. 3 BauGB verlangt einen atypischen Sonderfall.



A.
Problemstellung
„Wohnen ist ein Menschenrecht“ (vgl. Art. 11 des internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) und Art. 16 der Europäischen Sozialcharta vom 16.12.1966 sowie Art. 31 der revidierten Europäischen Sozialcharta). Wie immer wieder zu lesen ist, sollen in Deutschland aber ca. 900.000 Wohnungen fehlen. Der Blick auf den Zensus 2022 vermag das indessen so nicht zu bestätigen. Danach standen in Deutschland 2022 etwa 1,9 Millionen Wohnungen leer, allein in Berlin 40.000; etwa ein Drittel dieses Leerstandes (780.000 Wohnungen) wären zudem innerhalb von 1 bis 3 Monaten vermietbar gewesen. Wie dem auch sei, jedenfalls die über akuten Wohnungsmangel klagenden Großstädte sollten über jedes Bauvorhaben glücklich sein, mit welchem zusätzlicher Wohnraum geschaffen wird, namentlich im Wege der Innenverdichtung durch den Ausbau bisher nicht genutzter Dachgeschosse von Wohngebäuden. Dass dem möglicherweise nicht so ist, zeigt das mit Urteil vom 24.04.2024 (4 C 2/23) entschiedene Verfahren, in welchem maßgeblich um die Frage gestritten wurde, unter welchen Voraussetzungen die Festsetzung einer Geschossflächenzahl (GFZ) in einem (übergeleiteten) Bebauungsplan funktionslos wird. Das Ganze spielt in Berlin.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger ist Eigentümer eines Grundstücks, das innerhalb eines Baublocks in Berlin-Kreuzberg liegt. Auf diesem besteht ein um 1900 errichtetes, fünfstöckiges Gebäude, das ein Vorderhaus und einen Seitenflügel aufweist. Die beiden Gebäudeteile umfassen jeweils ein gewerblich genutztes Souterrain, darüber zum Wohnen genutzte Geschosse und ein nicht ausgebautes Dachgeschoss. Der Hof ist teilweise unterkellert. Das Gebäude ist Teil eines Denkmalensembles.
Der Baublock mit dem Baugrundstück liegt im Geltungsbereich des für Westberlin erlassenen Baunutzungsplans vom 11.03.1958 in der Fassung vom 28.12.1960, der dort ein gemischtes Gebiet der Baustufe V/3 vorsieht. Die Bebauung auf dem Grundstück des Klägers und auf weiteren Grundstücken im Baublock überschreitet die nach Maßgabe der Bauordnung für Berlin in der Fassung vom 21.11.1958 (GVBl. 1958, S. 1104) für diese Baustufe geltende Geschossflächenzahl (GFZ) von 1,5. Das Vorhaben des Klägers führt nach den Berechnungen des Beklagten zu einer weiteren Erhöhung der GFZ von 3,5 auf 3,92 bzw. bei Einbeziehung des Souterrains von 4,1 auf 4,54.
Unter dem 06.11.2014 (das ist kein Schreibfehler!) beantragte der Kläger einen Bauvorbescheid. Die Bauvoranfrage sieht u.a. einen Ausbau des Dachgeschosses über Vorderhaus und Seitenflügel unter Erhöhung der Dachkubatur vor, wobei eine bereits ausgebaute Kubatur über dem Seitenflügel durch eine Dachterrasse ersetzt werden soll. Geklärt werden sollte insbesondere, ob das Vorhaben nach dem Maß der Nutzung zulässig ist.
Mit Bescheid vom 09.03.2015 verneinte das Bezirksamt die mit dem Antrag formulierten Fragen. Widerspruch und Klage blieben erfolglos.
Die Berufung des Klägers hat das OVG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 22.02.2023 (OVG 10 B 15.18) zurückgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Erteilung eines positiven Bauvorbescheides. Einer positiven Antwort stehe entgegen, dass das beabsichtigte Maß der baulichen Nutzung jedenfalls deshalb unzulässig sei, weil das Vorhaben zu einer weiteren Überschreitung der festgesetzten GFZ von 1,5 führen würde, und auch keine Befreiung von dieser Festsetzung erteilt werden könne. Der Baunutzungsplan sei im hier maßgeblichen Gebiet im Hinblick auf die Festsetzung der GFZ in der Baustufe V/3 nicht funktionslos geworden. Für die Prüfung einer Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen des Baunutzungsplans sei in der Regel – und so auch hier – auf den jeweiligen Baublock abzustellen, nicht hingegen auf das gesamte Plangebiet bzw. sämtliche Gebiete mit einer entsprechenden Festsetzung. Der anderslautenden Auffassung des 2. Senats des OVG folge der erkennende Senat nicht. Danach habe zwar angesichts massiver Überschreitungen im Umfeld des Vorhabengrundstücks die GFZ-Festsetzung ihre Steuerungsfunktion verloren. Das sei aber nicht offenkundig. Die Überschreitung der GFZ sei für einen Durchschnittsbürger rechtlich und tatsächlich schwer erkennbar. Die Abweichungen von der festgesetzten GFZ seien allenfalls unter Auswertung von Liegenschaftskarten oder Bauakten und zudem nur bei rechtlichen Spezialkenntnissen zu erfassen. Eine Betrachtung von öffentlich zugänglichen Standorten aus lasse keine Rückschlüsse auf die Einhaltung der Festsetzung zu. Der Kläger habe weder nach § 31 Abs. 2 BauGB noch nach § 31 Abs. 3 BauGB einen Anspruch auf Befreiung.
Auf die Revision des Klägers hat das BVerwG mit Urteil vom 24.04.2024 das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OVG zurückverwiesen.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Im Mittelpunkt der Entscheidung steht zunächst die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Festsetzung eines Bebauungsplans funktionslos wird. Dieses Thema beschäftigt das BVerwG immer wieder, zuletzt im Urteil vom 21.03.2023 (4 A 9/21 Rn. 39) im Zusammenhang mit der Planfeststellung einer Höchstspannungsfreileitung (dort stellte sich die Frage, ob ein als Wochenendhausgebiet ausgewiesener Bereich wegen Funktionslosigkeit des Bebauungsplans als faktisches Wohngebiet einzuordnen ist). Die insofern maßgeblichen Grundsätze sind zwar seit der Grundsatzentscheidung vom 29.04.1977 (IV C 39.75 - BVerwGE 54, 5, 11) geklärt. Der „Teufel“ steckt aber bekanntlich im Detail.
Eine Festsetzung eines Bebauungsplans tritt automatisch außer Kraft, (1.) wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sich die Planung bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, und (2.) wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Das gilt auch für übergeleitete Bebauungspläne. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Zu beiden Anforderungen enthält das Urteil vom 24.04.2024 Präzisierungen.
1. Tatsächliche Entwicklung
Zentral für die Prüfung der ersten Voraussetzung ist die Frage nach dem hierfür maßgeblichen Betrachtungsraum („wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sich die Planung bezieht“). Das OVG hatte insofern auf die Verhältnisse im Baublock abgestellt und dies u.a. mit § 34 Abs. 1 BauGB argumentativ unterlegt. Dem hat das BVerwG eine Absage erteilt. Maßgeblicher Betrachtungsraum für die Beurteilung der Funktionslosigkeit einer Festsetzung sei vielmehr grundsätzlich das Plangebiet (gemeint ist damit das Bebauungsplangebiet), in dem die Gemeinde ihre Planungsbefugnis und Gestaltungsfunktion nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB wahrgenommen hat. Zur Begründung verweist der Senat unter Rückgriff auf frühere Rechtsprechung darauf, dass zwischen den Begriffen der Funktionslosigkeit und der Erforderlichkeit i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB eine innere Wechselbeziehung bestehe (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 - 4 CN 11/03 - BVerwGE 122, 207, 214). Für die Frage, ob eine Festsetzung eines Bebauungsplans funktionslos geworden sei, komme es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend sei vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liege, werde nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden könne. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abwichen, dass der Bebauungsplan insoweit seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, könne von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setze voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren habe, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (BVerwG, Urt. v. 21.03.2023 - 4 A 9/21 Rn. 39 m.w.N.). Dabei sei auch die Bedeutung zu berücksichtigen, die die einzelne Festsetzung für den Plan in seiner Gesamtheit habe (BVerwG, Urt. v. 29.04.1977 - IV C 39.75 - BVerwGE 54, 5, 11; BVerwG, Urt. v. 03.08.1990 - 7 C 41/89 - BVerwGE 85, 273, 281 f.).
Da aber nur „grundsätzlich“ auf das Plangebiet abzustellen ist, muss es hier auch Ausnahmen geben.
a) Die erste Ausnahme folgt für Berlin aus seinen besonderen organisationsrechtlichen Regelungen. Aus der Aufgabenzuweisung an die Bezirke ergibt sich danach eine äußerste Grenze für den Betrachtungsraum, der den Zuständigkeitsbereich eines Bezirks nicht überschreiten darf. Für den Rest der Republik ist diese Ausnahme irrelevant.
b) Von großer praktischer Bedeutung ist jedoch die zweite Ausnahme. Die Betrachtung der Funktionslosigkeit ist auf ein Teilgebiet des Geltungsbereichs des Bebauungsplans zu beschränken, wenn die betroffene Festsetzung ihre Wirkung nach der Plankonzeption der Gemeinde in diesem Teilbereich auch ungeachtet benachbarter Bereiche entfalten soll. Solche separat zu betrachtenden Teilbereiche wären etwa anzunehmen, wenn der Bebauungsplan für diese unterschiedliche Regelungen hinsichtlich Art und Maß der baulichen Nutzung festsetzt.
Beispiel: Festsetzung eines WA und eines MI. Im MI werden mittlerweile 65% der Grundstücke zu Wohnzwecken genutzt. Eine, wie von § 6 BauNVO geforderte Durchmischung des MI scheidet damit auf unabsehbare Zeit aus; die Festsetzung ist – wenn das Offenkundigkeitskriterium erfüllt ist – funktionslos geworden. Im Übrigen bleibt der Bebauungsplan aber wirksam.
Weiter betont der Senat, dass bei einer Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung eine kleinräumige Betrachtung z.B. des Straßengevierts geboten sein könne, wenn sich die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich innerhalb des jeweiligen Baublocks – etwa zur Auflockerung des Hinterhofbereichs – auswirken solle und sie nicht, etwa zum Erhalt eines einheitlichen Straßenbilds, auf eine weiträumigere städtebauliche Gestaltung abziele.
Diesen Maßstäben wurde das angefochtene Urteil nicht gerecht. Bei der Begründung der Beschränkung des Betrachtungsraums auf das Straßengeviert sind weder im Berufungsurteil selbst noch in den dort in Bezug genommenen gerichtlichen Entscheidungen die Vorstellungen des Plangebers zur Bedeutung der Festsetzung zur GFZ im Planungsraum als maßgeblich angesehen und ermittelt worden. Die Erwägungen, dass Baublöcke in Berlin eine verhältnismäßig große Ausdehnung erreichen, der hier betroffene Baublock aufgrund seiner Größe für sich genommen überplant und daher ohne Weiteres der Prüfung der Funktionslosigkeit zugrunde gelegt werden könnte, tragen nach Auffassung des BVerwG eine Begrenzung des Betrachtungsraums nach den vorgenannten Grundsätzen nicht. Soweit das OVG den Betrachtungsraum an die „nähere Umgebung“ nach den Kriterien des § 34 Abs. 1 BauGB anzupassen sucht, werden die relevanten Maßstäbe verfehlt. Die nähere Umgebung in diesem Sinne reicht so weit, wie sich das Vorhaben auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Vorhabengrundstücks tatsächlich prägt oder doch beeinflusst; die Plankonzeption, der für die Beschränkung auf einen Teilbereich ausschlaggebende Bedeutung zukommt, spielt hierbei aber gerade keine Rolle.
c) Maßgebliche Verhältnisse
Das OVG hatte für die Beurteilung der Funktionslosigkeit auf die Verhältnisse seit dem Inkrafttreten des Baunutzungsplans abgestellt. Der Senat hat das nicht beanstandet und dabei mit Blick auf frühere Rechtsprechung (BVerwG, Beschl. v. 11.12.2000 - 4 BN 58/00 - BRS 63 Nr 54 (2000)) betont, dass bei einem planwidrigen Altbestand sowie bei Fortführung der dem neuen Plan widersprechenden Bebauung – und damit bei entsprechend weiterer planwidriger Entwicklung – schneller ein Verlust der Steuerungsfähigkeit eintreten könne. Ferner dürften Planabweichungen, die auf Befreiungen, auch unter Anwendung von Regelungen des BauGB-Maßnahmengesetzes, beruhen, bei der Beurteilung der Funktionslosigkeit berücksichtigt werden, denn auch auf Rechtsänderungen beruhende Entwicklungen könnten der Verwirklichung eines Bebauungsplans nachträglich als objektives Hindernis im Wege stehen (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 - 4 CN 11/03 - BVerwGE 122, 207, 214).
2. Offenkundigkeit
Die Funktionslosigkeit der Festsetzung muss so offensichtlich sein, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Die Offenkundigkeit der die Funktionslosigkeit prägenden tatsächlichen Entwicklungen knüpft damit an den für Bebauungspläne als Rechtsnormen/Satzungen in § 10 Abs. 3 BauGB bundesrechtlich bestätigten Gedanken der Publizität des Rechts und an das rechtsstaatliche Gebot der Rechtsklarheit an (Berkemann, ZfBR 2020, 232, 234; Degenhart, BayVBl 1990, 71, 74). Für den Normunterworfenen und seinen Vertrauensschutz dient das Offensichtlichkeitskriterium als Ersatz des bei Aufhebung bzw. Änderung der Festsetzung (§ 1 Abs. 8 BauGB) geltenden Publizitätserfordernisses nach § 10 Abs. 3 BauGB.
Aber wann ist die Funktionslosigkeit im vorgenannten Sinn offensichtlich? Das BVerwG präzisiert diese Voraussetzung im Folgenden und legt dar, dass das angefochtene Urteil auch diese Anforderung verkannt hat.
Danach werde mit dem Erfordernis der Offenkundigkeit als Voraussetzung des Obsoletwerdens einer bauplanungsrechtlichen Festsetzung der „positiven“, also der vertrauenserweckenden Wirkung planerischer Festsetzungen zugunsten desjenigen, der aus ihr Rechte herzuleiten sucht, Rechnung getragen (BVerwG, Urt. v. 29.04.1977 - IV C 39.75 - BVerwGE 54, 5, 10 f.). Die zu fordernde Offenkundigkeit beziehe sich auf den bereits eingetretenen Zustand einer fehlenden Realisierungsmöglichkeit der Festsetzung auf unabsehbare Zeit, also darauf, ob die Festsetzung als Instrument für die Steuerung der städtebaulichen Entwicklung auf Dauer nicht mehr tauglich sei (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 - 4 CN 11/03 - BVerwGE 122, 207, 214). Die Offenkundigkeitsprüfung verlange im Sinne eines Evidenzurteils eine rechtliche Wertung, ob die Abweichungen von der bauplanungsrechtlichen Festsetzung im maßgeblichen Betrachtungsraum ein Ausmaß erreicht haben, das aufgrund der hieraus zu schließenden Unumkehrbarkeit einem in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nehme (zuletzt BVerwG, Urt. v. 21.03.2023 - 4 A 9/21 Rn. 39).
Die Bewertung als offenkundig baut mithin auf der Feststellung der von der planerischen Festsetzung objektiv abweichenden tatsächlichen Entwicklung auf und setzt eine umfassende, auch rechtliche Würdigungen einbeziehende Prüfung der Irreversibilität der tatsächlichen Verhältnisse voraus. Es kommt weder – entgegen der Auffassung des OVG – darauf an, ob die zur Funktionslosigkeit führenden tatsächlichen Entwicklungen für einen beliebigen externen Betrachter ohne Weiteres aus der baulichen Substanz oder ihrer nach außen erkennbaren Nutzung ablesbar sind, noch darauf, ob diese aus allgemein zugänglichen Unterlagen bzw. sonstigen Informationsquellen (z.B. aus Lageplänen, Luftbildern oder elektronisch abrufbaren Geoinformationssystemen) ersichtlich sind. Entscheidend ist vielmehr, ob auf der Grundlage des ausermittelten Sachverhalts und nach einer durch Fachkenntnisse geprägten Betrachtung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse – und damit nicht nach dem Erkenntnishorizont eines wie auch immer gearteten „Durchschnittsbetrachters“ – die nachträglich eingetretenen Abweichungen im maßgeblichen Betrachtungsraum nach Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht haben, aufgrund dessen sich der Schluss aufdrängt, dass ein Vertrauen in die Fortgeltung der Festsetzung nicht mehr schutzwürdig ist.
Auch der Umstand, dass bei der Ermittlung der für die Bestimmung der GFZ maßgeblichen Geschossfläche im Einzelfall schwierige rechtliche Maßstäbe zugrunde zu legen sind und unterschiedliche Parameter zur Anwendung kommen können, steht der Offenkundigkeit des – ohnehin erhebliche Abweichungen erfordernden – Verlusts der Steuerungsfähigkeit einer solchen Festsetzung nicht entgegen.
II. Im Weiteren prüft das BVerwG, ob der Kläger einen Anspruch auf Befreiung von der Maßfestsetzung besitzt. Das OVG hatte das verneint und wird hierin vom BVerwG bestätigt. Eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB scheidet aus, weil es sich bei der GFZ-Festsetzung in der Auslegung des Baunutzungsplans durch das OVG, um einen Grundzug der Planung handelt. Auch der neue § 31 Abs. 3 BauGB ist nicht einschlägig, weil das Einzelfallerfordernis nicht erfüllt sei.
§ 31 Abs. 3 BauGB sieht eine Befreiungsmöglichkeit von den Festsetzungen eines Bebauungsplans in Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten vor. Die Norm setzt eine Rechtsverordnung nach § 201a BauGB voraus und außerdem die Zustimmung (sonst nur Einvernehmen: vgl. § 36 BauGB) der Gemeinde (die hier auch verweigert worden war). Die Befreiung ist nur zugunsten des Wohnungsbaus zulässig und muss mit den nachbarlichen sowie den öffentlichen Interessen vereinbar sein. Weitere Voraussetzungen, wie sie § 31 Abs. 2 BauGB vorsieht (insbesondere, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt sein dürfen), bestehen hier nicht (zu Einzelheiten vgl. etwa Decker, JA 2024, 529). Umstritten war indessen, ob ausgehend vom Wortlaut der Norm, wonach die Befreiung nur „im Einzelfall“ zulässig ist, hierfür eine atypische Situation erforderlich ist (so etwa Reidt, BauR 2022, 168, 170; Scheidler, UPR 2021, 127, 131). Das BVerwG hat dies im Urteil vom 24.04.2024 bejaht. Eine Befreiung scheidet damit aus, wenn sie auch in mehreren gleichgelagerten Fällen denkbar ist (es fehlt dann an der Atypik; so jedenfalls die Rechtsprechung des BVerwG zu § 31 Abs. 2 BauGB, als die Norm noch ein Einzelfallerfordernis enthielt). Das hat die missliche Konsequenz, dass gerade in nach § 201a BauGB festgesetzten Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt eine Befreiung nach § 31 Abs. 3 BauGB regelmäßig nicht gewährt werden kann, weil sie für jedes oder jedenfalls eine Vielzahl von Grundstücken in Betracht käme (hierauf weist Uechtritz, BauR 2021, 1385, 1386 Fn. 7 völlig zu Recht hin).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das Urt. v. 24.04.2024 - 4 C 2/23 konkretisiert die Anforderungen unter denen von der Funktionslosigkeit einer Bebauungsplanfestsetzung auszugehen ist. Für die Praxis dürfte hiermit zusätzlicher Ermittlungsaufwand verbunden sein, z.T. dürften sich auch nicht ganz einfache Rechtsfragen stellen, wie etwa nach der Legalität der vorhandenen Bebauung und dem Zeitpunkt ihrer Entstehung. Misslich dabei ist, dass sich die Frage der Funktionslosigkeit in der Regel nicht in einem Normenkontrollverfahren und damit allgemeinverbindlich klären lassen wird, weil das BVerwG mit Urt. v. 06.04.2016 - 4 CN 3/15 (Buchholz 310 § 47 VwGO Nr 209) entschieden hat, dass die Regelung in § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, wonach der Normenkontrollantrag nur innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift gestellt werden kann, auch dann anzuwenden ist, wenn der Antragsteller geltend macht, ein Bebauungsplan sei nach seiner Bekanntmachung wegen Funktionslosigkeit unwirksam geworden (vgl. zuletzt: BVerwG, Beschl. v. 09.09.2021 - 4 BN 9/21 Rn. 3). Damit bleibt dem Bauherrn nur die Klärung in einem Vorbescheids- oder Baugenehmigungsverfahren. Das kann insbesondere in Berlin dauern, wie der vorliegende Fall zeigt, in welchem zwischen Antragstellung (November 2014) und Entscheidung des OVG (Februar 2023) fast 9 Jahre lagen und nach Zurückverweisung durch das BVerwG mittlerweile seit über einem Jahrzehnt um den Bauvorbescheid gestritten wird. Da braucht es als Bauwilliger einen langen Atem.



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