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Anmerkung zu:BGH 9. Zivilsenat, Urteil vom 22.02.2024 - IX ZR 226/20
Autor:Stephan M. Schubert, RA
Erscheinungsdatum:15.05.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 129 InsO, § 286 ZPO, § 17 InsO, § 138 BGB, § 130 InsO, § 131 InsO, § 3 AnfG 1999, § 826 BGB, § 133 InsO
Fundstelle:jurisPR-InsR 5/2024 Anm. 1
Herausgeber:Ministerialrat Alexander Bornemann
Dr. Daniel Wozniak, RA, FA für Insolvenz- und Sanierungsrecht, FA für Handels- und Gesellschaftsrecht und FA für Steuerrecht
Zitiervorschlag:Schubert, jurisPR-InsR 5/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Unmittelbar gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung als Indiz für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung



Leitsätze

1. Führt die Veräußerung eines Vermögensgegenstands zu einer unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung, stellt dies ein eigenständiges Beweisanzeichen für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung dar.
2. Ficht der Insolvenzverwalter sowohl das Verpflichtungs- als auch das hiervon getrennt und zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommene Erfüllungsgeschäft mit dem einheitlichen Rechtsschutzziel der Rückgewähr des zur Erfüllung Geleisteten an, handelt es sich um unterschiedliche Streitgegenstände und muss der Insolvenzverwalter bestimmen, in welcher Reihenfolge er die Ansprüche geltend machen will.



A.
Problemstellung
Betrachtet man die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung, lässt sich der Eindruck gewinnen, die – von Schuldner und Anfechtungsgegner erkannte – Zahlungsunfähigkeit des Schuldners sei Tatbestandsvoraussetzung der § 3 AnfG, § 133 InsO. Daran hat die Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung insbesondere kongruenter Deckungen wenig geändert, ist die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung doch weiterhin „Ausgangspunkt der Prüfung“ (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 - BGHZ 230, 28 Rn. 38, nach Rn. 30 ff. setzt der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und der Vollbeweis der Kenntnis des Anfechtungsgegners davon nun zusätzlich voraus, dass der – zahlungsunfähige – Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können).
Ein Blick ins Gesetz offenbart jedoch, dass die – erkannte – Zahlungsunfähigkeit des Schuldners mitnichten zwingende Voraussetzung der Vorsatzanfechtung ist: Nach dem Wortlaut der § 3 Abs. 1 Satz 1 AnfG, § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO kann die Vorsatzanfechtung vielmehr unabhängig davon durchgreifen, ob der Schuldner zahlungsunfähig ist oder nicht.
Die beiderseits erkannte Zahlungsunfähigkeit dient nur als – das wohl wichtigste – Indiz für die schwer zu beweisenden inneren Tatsachen des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners und der Kenntnis des Anfechtungsgegners davon. Mit anderen Beweisanzeichen, die unabhängig von der wirtschaftlichen Lage für das Vorliegen des Schuldnervorsatzes und der Bösgläubigkeit des Anfechtungsgegners sprechen, beschäftigt sich der BGH nur selten. Das vorliegende Urteil bot die Gelegenheit dazu.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In dem Sachverhalt, der dem Urteil zugrunde liegt, hatte die Schuldnerin, eine GmbH, am 26.07.2010 mehrere Grundstücke erworben und, obwohl sie den Kaufpreis aus Mangel an liquiden Mitteln erst zur Hälfte gezahlt hatte, am 26.04.2013 weiterveräußert an die Beklagte, eine auf Mauritius ansässige Gesellschaft. Die Weiterveräußerung erfolgte zu einem Kaufpreis i.H.v. 1,25 Mio. Euro. Ein Gutachten hatte den Grundstücken unter der Voraussetzung der – streitigen – Altlastenfreiheit zum Stichtag 28.12.2009 einen Verkehrswert in Höhe von insgesamt 4,248 Mio. Euro attestiert. Der Insolvenzverwalter der Schuldnerin als Kläger begehrt die Rückübertragung der an die Beklagten veräußerten Grundstücke und hat dazu die Verpflichtungs- wie die Verfügungsgeschäfte nach den §§ 129 ff. InsO angefochten sowie einen Anspruch aus § 826 BGB geltend gemacht. Erst- und zweitinstanzlich war der Kläger erfolglos, seine Revision hatte Erfolg.
Der BGH führt zunächst aus, dass zu den Indizien, aus denen indirekt der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners hergeleitet werden kann, einerseits Umstände betreffend die wirtschaftliche Lage des Schuldners zählen und andererseits diejenigen Umstände, unter denen die angefochtene Rechtshandlung erfolgte. Zu ersteren gehören nach dem BGH die (erkannte) drohende Zahlungsunfähigkeit des Schuldners (BGH, Urt. v. 03.03.2022 - IX ZR 78/20 - BGHZ 233, 70 Rn. 54, dazu Schubert, BB 2022, 786), die erkannte eingetretene Zahlungsunfähigkeit des Schuldners (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 Rn. 30 ff., dazu Schubert, NZI 2021, 761, 763 ff.) und die erkannte insolvenzrechtliche Überschuldung des Schuldners (BGH, Urt. v. 03.03.2022 - IX ZR 53/19 Rn. 14 ff., dazu Schubert, EWiR 2022, 339). Als Vorsatzindizien begründende Umstände, die die Art und Weise der Vornahme der angefochtenen Rechtshandlung betreffen, benennt der BGH etwa die Gewährung inkongruenter Deckungen bei finanziell beengten Verhältnissen, eine durch die angefochtene Rechtshandlung bewirkte unmittelbare Gläubigerbenachteiligung, die Übertragung (letzter) werthaltiger Vermögensgegenstände an – womöglich nahestehende – Dritte oder die Gewährung eines Sondervorteils für den Fall der Insolvenz.
Zur Stärke der Indizien führt der BGH aus, dass sowohl die Umstände, unter denen die angefochtene Rechtshandlung vorgenommen wurde, als auch die Umstände betreffend die wirtschaftliche Lage des Schuldners jeweils für sich genommen – wenn sie auch der Anfechtungsgegner erkannt hat – die Annahme der subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung rechtfertigen können. Die i.S.v. § 286 ZPO notwendige Überzeugung des Tatrichters vom Vorliegen des Schuldnervorsatzes und der Bösgläubigkeit des Anfechtungsgegners kann sich nach dem BGH aber auch erst aus einer Zusammenschau der wirtschaftlichen Lage des Schuldners und der Umstände, unter denen die angefochtene Rechtshandlung vorgenommen wurde, ergeben (die voranstehenden Ausführungen bestätigend BGH, Urt. v. 03.03.2022 - IX ZR 53/19 Rn. 11 ff.).
Der BGH betrachtet zunächst die wirtschaftliche Lage der Schuldnerin im Zeitpunkt der Veräußerung der streitbefangenen Grundstücke. Er merkt an, dass im Anfechtungsprozess regelmäßig über die Vermutungsregel des § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO von der erkannten Zahlungseinstellung des Schuldners auf dessen erkannte Zahlungsunfähigkeit geschlossen werden kann. Für die Annahme einer Zahlungseinstellung ist nach dem BGH die diesbezügliche eigene Erklärung des Schuldners besonders aussagekräftig. Für den Fall, dass es an einer solchen fehlt, bestätigt der BGH seine jüngere Rechtsprechung, es müssten dann für die Annahme einer Zahlungseinstellung Umstände vorliegen, die im konkreten Einzelfall ein Gewicht erreichen, das der Erklärung des Schuldners entspricht, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 Rn. 42; BGH, Urt. v. 28.04.2022 - IX ZR 48/21 Rn. 27 ff., dazu Schubert, jurisPR-InsR 15/2022 Anm. 1). Für den Urteilsfall bejaht der BGH, dass die Schuldnerin ihre Zahlungen bei Veräußerung der Grundstücke eingestellt hatte.
Sodann bestätigt der BGH seine einschränkende Rechtsprechung zur Fortdauervermutung einer einmal eingetretenen Zahlungseinstellung. Stärke und Dauer der Vermutung hängen nach dem BGH davon ab, in welchem Ausmaß die Zahlungsunfähigkeit zutage getreten ist (BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20 Rn. 44). Greift die Fortdauervermutung ein, hat – so der BGH weiter – grundsätzlich der Anfechtungsgegner die allgemeine Wiederaufnahme der Zahlungen darzulegen und zu beweisen. Auch insofern bestätigt der BGH seine jüngere Rechtsprechung, wonach dieser Grundsatz durch eine unter bestimmten Voraussetzungen eingreifende sekundäre Darlegungslast des Insolvenzverwalters beschränkt ist (BGH, Urt. v. 10.02.2022 - IX ZR 148/19 Rn. 18 f.). Im Urteilsfall nimmt der BGH die Fortdauer der Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin an.
Im Anschluss daran wendet sich der BGH den Vorsatzindizien zu, die der Kläger zu den Umständen vorgetragen hat, unter denen die angefochtenen Grundstücksveräußerungen erfolgten. Er betont, dass die Veräußerung eines Gegenstands der künftigen Masse unter Wert eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung begründen kann, wenn die objektive Gläubigerbenachteiligung bereits mit der Vornahme der angefochtenen Rechtshandlung bewirkt ist, ohne dass weitere Umstände hinzutreten müssen. Der BGH hält fest, dass eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung ein eigenständiges, wenn auch für sich genommen nicht ausreichendes Indiz für den subjektiven Tatbestand der Vorsatzanfechtung ist. Notwendig ist eine Gesamtwürdigung der Begleitumstände des Rechtsgeschäfts. Der BGH verwirft sodann die Ausführung des Berufungsgerichts, in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 138 Abs. 2 BGB liege ein auffälliges Missverhältnis und damit eine verwerfliche, vorsatzindizierende Gesinnung erst ab einer Verkehrswertüber- oder -unterschreitung von 90% vor. Diese 90%-Grenze gilt nach dem BGH bei der Prüfung der Vorsatzanfechtung nicht. Der BGH nimmt an, dass der Kaufpreis im Urteilsfall bewusst zu niedrig angesetzt war. Hinzu treten im Urteilsfall verdächtige Auffälligkeiten bei der Zahlungsabwicklung.
Im Anschluss daran führt der BGH aus, dass nach den bisher getroffenen Feststellungen davon auszugehen ist, dass die Beklagte Kenntnis vom (unterstellten) Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin hatte. Dies ergibt sich nach dem BGH jedenfalls aus der Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO i.V.m. § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO, die durch die Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung unberührt blieb (BGH, Beschl. v. 12.01.2023 - IX ZR 71/22 Rn. 2, dazu Schubert, jurisPR-InsR 7/2023 Anm. 1). Der BGH geht davon aus, dass die Beklagte Umstände gekannt hat, die auf die Zahlungseinstellung schließen lassen. Die daher zu vermutende Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners indiziert, so der BGH weiter, das Wissen um die Benachteiligung der (übrigen) Gläubiger als zweite Anknüpfungstatsache der Vermutung nach § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO, wenn der Anfechtungsgegner weiß, dass es noch andere Gläubiger mit offenen Forderungen gibt. Mit letzterem muss ein Gläubiger nach dem BGH rechnen, wenn der Schuldner unternehmerisch tätig ist. Diese Voraussetzungen sieht der BGH im Urteilsfall als gegeben an.


C.
Kontext der Entscheidung
Zutreffend betont der BGH in Rn. 21 des Urteils, dass es gerade zu Vermögensverschiebungen, die zur Benachteiligung der Gläubigergesamtheit vorgenommen werden, bereits im Vorfeld einer wirtschaftlichen Krise kommen kann. Die Entscheidung hebt damit hervor, dass es nicht Zweck der Vorsatzanfechtung ist, der par condicio creditorum ab materieller Insolvenz des Schuldners zur Geltung zu verhelfen, wie es die Aufgabe der §§ 130 bis 131 InsO ist. Die Vorsatzanfechtung steht in keinem direkten Zusammenhang zur Insolvenz des Schuldners und zum Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, die Gläubiger davor zu schützen, dass der Schuldner ihre grundsätzlich gleichen Befriedigungs- und Zugriffschancen in einer Weise beeinträchtigt, die einen Missbrauch seiner Privatautonomie und eine Missachtung des Prioritätsprinzips darstellt (BGH, Urt. v. 10.02.2005 - IX ZR 211/02 - BGHZ 162, 143, 150; Schoppmeyer, WM 2018, 353, 354 ff.; Schubert, NZI 2019, 790, 792).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung erinnert daran, dass die Vorsatzanfechtung auch eingreifen kann, wenn der Schuldner bei Vornahme der angefochtenen Rechtshandlung nicht zahlungsunfähig war. Das gilt bei Deckungen, wenn innerhalb von vier Jahren nach Vornahme der Deckungshandlung Insolvenzantrag gestellt wird (§ 133 Abs. 2 InsO), und bei sonstigen Rechtshandlungen, wenn die Antragstellung innerhalb von zehn Jahren erfolgt (§ 133 Abs. 1 Satz 1 InsO). Dies ist, um nur ein Beispiel zu nennen, im Rahmen von großen Bauprojekten (etwa im Baugewerbe) beachtlich, wenn Leistungen durch ein SPV erfolgen, dessen Kapitalausstattung zwar keine kurzfristige Insolvenz erwarten lässt, dessen Insolvenz aber mittel- und langfristig nicht ausgeschlossen erscheint.
Aber auch Insolvenzverwalter können und sollten sich im Rahmen ihrer Anfechtungsprüfung nicht mehr nur auf Rechtshandlungen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit beschränken, sondern neben unentgeltlichen Leistungen auch sonstige verdächtige Vermögensverschiebungen ermitteln und untersuchen.
Schließlich gilt dies auch für die (Instanz-)Gerichte, an die der BGH in Rn. 22 des Urteils unüberhörbar den Appell richtet, die Tatrichter dürften bei der Prüfung des Vorsatzes i.S.v. § 3 AnfG, § 133 InsO ihre Würdigung nicht auf die wirtschaftliche Lage des Schuldners beschränken, erst recht nicht auf eine (drohende) Zahlungsunfähigkeit.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Hinsichtlich des vom klagenden Insolvenzverwalter ebenfalls geltend gemachten Anspruchs nach § 826 BGB hält der BGH an seiner ständigen Rechtsprechung fest, dass dieser in Fällen, in denen die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorsatzanfechtung vorliegen, nur dann in Betracht kommt, wenn der Fall besondere Umstände aufweist, die über die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO hinausgehen.
Hinsichtlich der Besonderheit des Urteilsfalls, dass der Insolvenzverwalter sowohl das Verpflichtungs- als auch das Verfügungsgeschäft mit dem einheitlichen Rechtsschutzziel der Rückgewähr des zur Erfüllung Geleisteten angefochten hat, weist der BGH darauf hin, dass es sich dabei um eine unzulässige alternative Klagehäufung handelt. Der Kläger darf nach dem BGH seiner Klage nicht mehrere angefochtene Rechtshandlungen alternativ zugrunde legen und dem Gericht die Wahl der Prüfungsreihenfolge überlassen, sondern muss bestimmen, in welcher Reihenfolge er die Ansprüche geltend machen will.



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