Billige Entschädigung für den immateriellen Schaden eines Familienangehörigen bei tödlichem VerkehrsunfallTenor Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) ist dahin auszulegen, dass eine nationale Bestimmung, die vorsieht, dass die Entschädigung für den immateriellen Schaden, den die nahen Familienangehörigen einer bei einem Verkehrsunfall verstorbenen Person erlitten haben, vom Richter nach Billigkeit festgesetzt wird, nicht als „Eingriffsnorm“ im Sinne dieses Artikels angesehen werden kann, es sei denn, der in Rede stehende Rechtsfall weist eine hinreichend enge Verbindung mit dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts auf und das angerufene Gericht stellt auf der Grundlage einer eingehenden Prüfung des Wortlauts, der allgemeinen Systematik, des Telos sowie des Entstehungszusammenhangs dieser nationalen Vorschrift fest, dass ihre Einhaltung in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats als entscheidend angesehen wird, weil sie das Ziel verfolgt, ein wesentliches öffentliches Interesse zu schützen, das durch die Anwendung des nach Art. 4 dieser Verordnung maßgebenden Rechts nicht erreicht werden kann. - A.
Problemstellung Wie unterschiedlich hoch das sog. Trauergeld in Europa ausfallen kann, wird durch den Entscheid aus Luxemburg erneut in den Fokus gerückt. Der EuGH hat sich in diesem Zusammenhang im Kern mit der Frage befasst, ob die bulgarischen Entschädigungsvorschriften, insbesondere solche zur Bemessung des immateriellen Schadens, als Eingriffsnormen i.S.v. Art. 16 Rom II-VO zu qualifizieren sind und damit das kraft Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ermittelte Deliktsstatut überspielen. Das Urteil zeigt auf, dass Art. 16 Rom II-VO, entgegen der herrschenden Meinung in der Literatur (vgl. nur Maultzsch in: BeckOGK, Stand: 01.09.2024, Art. 16 Rom II-VO Rn. 6 m.w.N.), sehr wohl praktische Relevanz entfalten kann.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung I. Der Anlassstreit betrifft ein Verkehrsunfallgeschehen in Deutschland mit tödlichem Ausgang. Ein Ehepaar mit bulgarischer Staatsangehörigkeit ließ sich in der Bundesrepublik nieder, um hier einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Am 27.07.2014 unternahmen die Eheleute gemeinsam mit einem bei der beklagten inländischen Versicherungsgesellschaft haftpflichtversicherten Kfz eine Fahrt durch Emsdetten. Versicherungsnehmer war der Ehemann, welcher das Fahrzeug in betrunkenem Zustand lenkte und aufgrund seines Rausches einen Unfall verursachte. Hierbei kam seine Ehefrau, die nicht angeschnallt auf dem Beifahrersitz saß, zu Tode. Rund drei Jahre später, am 25.07.2017, erhoben die Eltern der Verstorbenen beim Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) Klage gegen die Versicherungsgesellschaft. Jene war gerichtet auf Zahlung von ca. 125.000 Euro für jeden Elternteil als Ausgleich für den durch den Tod ihrer Tochter verursachten immateriellen Schaden. In der Folge erklärte sich die Beklagte zwei Monate später bereit, an die Eltern jeweils einen Betrag i.H.v. 2.500 Euro zu leisten und veranlasste eine entsprechende Zahlung. Mit Urteil vom 23.12.2019 sprach das Stadtgericht Sofia den Klägern jedoch eine Entschädigung in Höhe von insgesamt ca. 100.000 Euro abzüglich der bereits zwei Jahre zuvor gezahlten Summe von 5.000 Euro zu. Im Berufungsverfahren wies das Apelativen sad Sofia (Berufungsgericht Sofia) die Klage wiederum in vollem Umfang ab. Es sei im Rahmen der Beweisaufnahme nicht ausreichend nachgewiesen worden, dass der Schmerz und die seelischen Leiden zu einer pathologischen Schädigung geführt hätten. Dies sei nach dem laut Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO maßgebenden deutschen Recht Voraussetzung für den Ersatz eines immateriellen Schadens. Mit ihrem Einwand, die nach dem bulgarischen Gesetz über Schuldverhältnisse und Verträge (Zakon za zadalzheniyata i dogovorite) relevante Vorschrift zur Bemessung von Entschädigungen für immaterielle Schäden, namentlich Art. 52 ZZD, müsse hier als Eingriffsnorm zur Anwendung gelangen, drangen die Kläger nicht durch. Ebenso wenig sahen die Berufungsrichter in der bereits von der Beklagten im erstinstanzlichen Verfahren vorgenommenen Zahlung von 5.000 Euro ein Anerkenntnis der klägerischen Ansprüche. Daraufhin legten die Kläger Kassationsbeschwerde beim Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) ein. Dieser Spruchkörper stand ebenfalls vor der oben aufgezeigten Frage, ob die Entschädigungsvorschriften der lex fori Eingriffscharakter i.S.d. Art. 16 Rom II-VO besitzen. Das Kassationsgericht setzte das Verfahren aus und bat den EuGH um Vorabentscheidung. Das Kassationsgericht nimmt insoweit Bezug auf das Urteil des EuGH vom 15.12.2022 (C-577/21 - EuZW 2023, 517 „HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung“), das denselben Lebenssachverhalt, nämlich den Verkehrsunfall vom 27.07.2014, zum Gegenstand hatte. Der EuGH kommt in dieser Entscheidung zu dem Ergebnis, dass der über Art. 4 Rom II-VO i.V.m. Art. 15 Buchst. c Rom II-VO anwendbare § 253 Abs. 2 BGB trotz seiner objektiven Voraussetzungen mit der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl 2009, L 263, S. 11) im Einklang steht. Darüber hinaus stellen die Kassationsrichter einen Vergleich zwischen § 253 Abs. 2 BGB und Art. 52 ZZD an und machen deutlich, dass für eine Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB in Fällen wie dem Vorliegenden stets eine pathologisch messbare Schädigung beim jeweiligen Angehörigen feststellbar sein müsse. Demgegenüber setze Art. 52 ZZD unter Berücksichtigung der oberinstanzlichen bulgarischen Rechtsprechung keine seelischen Leiden mit Krankheitswert voraus; zur Bemessung der Höhe des Schadensersatzes seien lediglich die für den jeweiligen Einzelfall charakteristischen Umstände maßgeblich. Schließlich weist das Gericht auf die unterschiedliche Höhe des Trauergeldes hin, das sich in Deutschland auf 5.000 Euro belaufe, wohingegen nach der bulgarischen Judikatur in vergleichbaren Fällen zumeist eine Entschädigung von rund 61.000 Euro zugesprochen werde. II. Bevor der EuGH sich mit der in Rede stehenden Anwendbarkeit von Art. 16 Rom II-VO befasst, zeigt er auf, dass grundsätzlich das einschlägige Deliktstatut über Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO zu ermitteln und unter Heranziehung des Art. 15 Buchst. c Rom II-VO das danach anzuwendende Sachrecht auch für die Art und die Bemessung des Schadens maßgeblich sei. Anschließend nimmt der Gerichtshof Art. 16 Rom II-VO in den Blick. Er weist auf die Sonderanknüpfung und die damit verbundene Durchbrechung des Grundprinzips der Einheitsanknüpfung nach den Art. 4 ff. Rom II-VO (vertiefend hierzu Maultzsch in: BeckOGK, Art. 16 Rom II-VO Rn. 2 ff.) sowie den Ausnahmecharakter der Vorschrift hin. Die restriktive Auslegung sei unter Berücksichtigung des mit der Rom II-VO verfolgten Ziels erforderlich, die Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht zu gewährleisten und die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen zu verbessern (vgl. Erwägungsgründe 6, 14 und 16 Rom II-VO). Unter Bezugnahme der Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.03.2024 verweist der EuGH nachfolgend auf die Pflicht der angerufenen Gerichte zu prüfen, ob die Rechtssache eine hinreichend enge Verbindung zum Forumstaat aufweist. Er betont, dass nur bei Vorliegen dieser Einstiegsvoraussetzung ein Rückgriff auf Art. 16 Rom II-VO in Betracht komme. Da die Rom II-VO eine Definition des Begriffs „Eingriffsnorm“ vermissen lässt, behilft sich der EuGH, wie bereits in der Vergangenheit (vgl. EuGH, Urt. v. 31.01.2019 - C-149/18 Rn. 27 f. - EuZW 2019, 134 „Da Silva Martins“; hierzu Papadopoulos, jurisPR-IWR 2/2019 Anm. 6) mit der Komplementärregelung in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO sowie der dazu ergangenen Judikatur. Nach dem Normtext von Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO wird eine „Eingriffsnorm“ als eine zwingende Vorschrift definiert, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend zur Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe der Verordnung anzuwenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Regelungsbereich fallen. Das mit der Rechtssache befasste Gericht müsse bei der Prüfung des zwingenden Charakters der nationalen Vorschriften den genauen Wortlaut der Regelungen, deren allgemeine Systematik sowie sämtliche Umstände, unter denen diese Normen erlassen wurden, berücksichtigen. Nur so könne sicher beurteilt werden, ob der nationale Gesetzgeber die Rechtsnorm erlassen habe, um ein von dem betroffenen Mitgliedstaat als wesentlich angesehenes Interesse zu schützen und ihr damit unabdingbare Bedeutung beizumessen. Ein Rückgriff auf Art. 16 Rom II-VO sei jedoch dann nicht erlaubt, wenn der inländische Gesetzgeber mit der betreffenden Bestimmung der lex fori zwar ein nationales Interesse verfolge, dieses allerdings ebenso durch die Anwendung des nach den einschlägigen Kollisionsnormen der Rom II-VO ermittelten Sachrechts beachtet werde. Unter Anführung des 32. Erwägungsgrundes der Rom II-VO legt der Gerichtshof weiter die dort vom Europäischen Gesetzgeber verankerte Möglichkeit der angerufenen Gerichte dar, Regelungen über die Bemessung von Schadensersatz- und Schmerzensgeld, also solche, die Individualinteressen schützen, als Eingriffsnormen einzustufen. Im Anschluss betont der EuGH allerdings, dass die Anwendung der in Rede stehenden bulgarischen Entschädigungsvorschrift auf besonders wichtigen Gründen beruhen und aus diesen die wesentlichen in der bulgarischen Rechtsordnung vorherrschenden öffentlichen Interessen zum Ausdruck kommen müssten. Auch wenn es nicht zum Aufgabenbereich des EuGH zählt, den nationalen Rechtsstreit zu entscheiden, findet ab Rn. 48 des vorliegenden Urteils eine Art Subsumtion des Art. 52 ZZD unter Art. 16 Rom II-VO statt. Im Zentrum der Argumentation steht dabei der oben bereits aufgezeigte Ausschluss von Art. 16 Rom II-VO. Ein solcher Rückgriff verbiete sich, wenn das Ziel, das wesentliche öffentliche Interesse zu schützen, welches die betreffende Vorschrift der lex fori wahren solle, ebenso mit der Anwendung des nach den Kollisionsnormen der Rom II-VO maßgebenden Rechts erreicht werden könne. Der EuGH zeigt insoweit die Parallelen von Art. 52 ZZD und § 253 Abs. 2 BGB auf. Beide Regelungen sehen entsprechend ihrem Wortlaut die Festsetzung der Entschädigung für immaterielle Schäden am Maßstab der Billigkeit vor. Der Umstand, dass die deutschen im Vergleich zu den bulgarischen Gerichten eine wesentlich geringere Summe bei dem Verlust naher Familienangehöriger zusprechen würden, führe allein nicht zu weniger Schutz des vom bulgarischen Gesetzgeber mit Art. 52 ZZD verfolgten öffentlichen Interesses. Gleichwohl erkennt der EuGH die von der deutschen Judikatur im Rahmen von § 253 Abs. 2 BGB aufgestellten hohen Hürden bei der Geltendmachung von Trauergeld. Schließlich müsse der Anspruchsteller ein seelisches Leiden mit Krankheitswert vortragen und beweisen. Da die bulgarische Rechtsprechung hinsichtlich Art. 52 ZZD ein solches objektives Kriterium nicht zur Voraussetzung von Schockschäden mache, beruhe der deutsche und bulgarische Entschädigungsanspruch vom Ansatz her auf unterschiedlichen Vorgaben und Motiven. Das vorlegende Gericht müsse daher prüfen, ob die Anwendung der hiesigen Schmerzensgeldvorschriften, trotz des Erfordernisses einer pathologischen Schädigung, ein vergleichbares Schutzniveau vermittle, wie es Art. 52 ZZD bezwecke. Abschließend beantwortet der EuGH die Vorlagefrage dahin gehend, dass Vorschriften, die zur Bemessung von immateriellen Schäden Billigkeitsgesichtspunkte in den Vordergrund rückten, grundsätzlich nicht als „Eingriffsnormen“ zu qualifizieren seien. Solche Regelungen würden lediglich dann im Rahmen von Art. 16 Rom II-VO Berücksichtigung finden können, wenn das angerufene Gericht insbesondere darlege, warum die Anwendung des nach Art. 4 Rom II-VO maßgebenden Rechts zum Schutz öffentlicher Interessen des jeweiligen Mitgliedstaats nicht ausreiche.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung vermag gleichermaßen im Ergebnis wie hinsichtlich der Begründung besonders mit Blick auf die kleinschrittige Herleitung und Darstellung der Anwendungsvoraussetzungen des Art. 16 Rom II-VO zu überzeugen. Entsprechend der vorgelegten Frage beschränkt sich der Richterspruch auf die Ermittlung des anwendbaren Sachrechts. Die internationale Zuständigkeit der bulgarischen Gerichte findet daher keine Erwähnung, wenngleich die Prüfung der Zuständigkeit anhand der insoweit einschlägigen Brüssel Ia-VO nicht ganz trivial erscheint. Gemäß Art. 13 Abs. 2 Brüssel Ia-VO i.V.m. den Art. 10, 11 Abs. 1 Buchst. b Brüssel Ia-VO kann der Geschädigte in Versicherungssachen an seinem Wohnsitz Klage gegen den Versicherer erheben, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist. Geschädigter ist in diesem Zusammenhang, wer – namentlich bei schwerer Verletzung oder Tötung einer nahestehenden Person – nach den Schockschadensgrundsätzen selbst eine Gesundheitsverletzung und dadurch einen Schaden erleidet (Eichelberger in: BeckOK-ZPO, Stand 01.09.2024, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 9). Der Geschädigtenbegriff i.S.v. Art. 13 Abs. 2 Brüssel Ia-VO umfasst damit auch Angehörige, die Trauer- bzw. Hinterbliebenengeld geltend machen, so dass jene sowohl am Sitz des Versicherers als auch an ihrem Domizil prozessieren können (vgl. hierzu vertiefend Staudinger in: Rauscher, 5. Aufl. 2021, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 9). Den Klägern stand es damit frei, ihre Ansprüche vor den bulgarischen Gerichten geltend zu machen. Die Ermittlung des anwendbaren Sachrechts erfolgt in Sachverhaltskonstellationen wie der hiesigen über Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO. Maßgeblich ist nach der sog. Tatortregel das Recht des Staates, in dem der Schaden eintritt (Spickhoff in: BeckOK-BGB, Stand: 01.08.2024, Art. 4 Rom II-VO Rn. 5; Junker in: MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2021, Art. 4 Rom II-VO Rn. 3). Da sich der Unfall in Deutschland ereignete, wäre also grundsätzlich nach dem Anknüpfungsregime der Rom II-VO das deutsche materielle Recht zur Anwendung berufen. Kein anderes Ergebnis folgt aus der an sich vorrangigen Sonderregel in Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO mit Blick auf die Primärgeschädigte und den Fahrer sowie Halter als Schädiger. Denn beide Personen hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Jedenfalls ist laut EuGH (vgl. die Rechtssache „Lazar“, EuGH, Urt. v. 10.12.2015 - C-350/14 - DAR 2016, 324; hierzu Czaplinski, jurisPR-IWR 1/2016 Anm. 4) das Statut für Angehörige in der Weise zu ermitteln, dass auf die primärgeschädigte Person abzustellen ist. Die Anknüpfungspunkte des Erfolgsorts oder gewöhnlichen Aufenthalts nach Art. 4 Abs. 1 bzw. 2 Rom II-VO sind demnach in Bezug auf diese Person zu prüfen (vgl. zu Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO: LG Berlin, Urt. v. 25.06.2024 - 67 O 89/24; Staudinger/Arensmann, jurisPR-IWR 6/2024 Anm. 5). In dogmatisch zutreffender Weise zieht der EuGH bei der Auslegung des Art. 16 Rom II-VO die Parallelvorschrift Art. 9 Rom I-VO heran und berücksichtigt damit methodisch stringent das in Erwägungsgrund 7 der Rom II-VO normierte Gebot einheitlicher Anwendung beider Verordnungen (Junker in: MünchKomm BGB, Art. 16 Rom II-VO Rn. 9). Die in der Rechtssache „Unamar“ aufgestellten Grundsätze zur Qualifizierung einer nationalen Vorschrift als Eingriffsnorm (EuGH, Urt. v. 17.10.2013 - C-184/12 Rn. 50 - IPRax 2014, 174) gewinnen daher im hiesigen Kontext an Bedeutung und dienen als kollisionsrechtlicher Kontrollfilter. Denn Art. 9 Rom I-VO gewährt dem Sachnormgeber eine Einschätzungsprärogative, da Abs. 1 der Regelung keine konkreten Kriterien für die erforderliche Qualität des öffentlichen Interesses aufstellt, welches durch die betreffende (Eingriffs-)Norm geschützt werden soll (Maultzsch in: BeckOGK, Stand: 01.09.2024, Art. 9 Rom I-VO Rn. 56). Zwingend erforderlich ist folglich die substanziierte Feststellung des Forumstaats, dass der nationale Gesetzgeber es für unerlässlich erachtet hat, mit der Vorschrift ein „als wesentlich angesehenes Interesse zu schützen“ (Maultzsch in: BeckOGK, Art. 9 Rom I-VO Rn. 57). Problematisch ist insoweit, dass Schmerzensgeldansprüche ihrem Wesen nach grundsätzlich dem individuellen Interessenausgleich dienen. Nationale Vorschriften mit einer derartigen Zielrichtung stellen nach der herrschenden Meinung keine Eingriffsnormen dar (Maultzsch in: BeckOGK, Art. 9 Rom I-VO Rn. 28; Pfeiffer, LMK 2024, 820620; Thode, NZBau 2011, 449, 456). Ob und inwieweit Art. 52 ZZD daneben auch eine Wahrung öffentlicher Interessen bezwecken will, beispielweise einen Schutz des sozialen Friedens, hat das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung der restriktiven Auslegung des Art. 16 Rom II-VO mit Augenmaß zu prüfen. Besonders begrüßenswert sind die Ausführungen des EuGH in Rn. 43 bezüglich eines etwaigen Verbots, über Art. 16 Rom II-VO auf die Vorschriften der lex fori zurückzugreifen, wenn das ermittelte Sachrecht die Interessen des betreffenden Mitgliedstaats vergleichbar schützt. In diesen Fällen besteht nämlich kein Bedarf, die restriktiv zu behandelnde Ausnahmevorschrift anzuwenden; es droht keine Missachtung hoheitlicher Belange. Hier wird das von der deutschen Rechtsprechung aufgestellte Erfordernis einer pathologischen Schädigung bei der Geltendmachung von Trauergeld virulent (zu den sonstigen Voraussetzungen des Schockschadens vgl. Grüneberg in: Grüneberg, BGB, 83. Aufl. 2024, Vorb. § 249 Rn. 40). Denn anhand dieser Voraussetzung könnten die bulgarischen Richter zu dem Schluss kommen, dass § 253 Abs. 2 BGB die öffentlichen inländischen Interessen nicht ausreichend schützt. Insoweit spielt der EuGH den Ball zu Recht zurück zum vorlegenden Gericht, das unter dem soeben aufgezeigten Gesichtspunkt substanziiert feststellen muss, ob die Anwendung von Art. 52 ZZD zwingend erforderlich ist. Aus der abschließenden Antwort auf die Vorlagefrage lässt sich allerdings eine Tendenz der Richter aus Luxemburg ableiten. Es scheint daher so, als erkenne der EuGH Vorschriften, die den Ausgleich immaterieller Schäden regeln, grundsätzlich nicht als Eingriffsnormen i.S.d. Art. 16 Rom II-VO und damit auch nicht i.S.v. Art. 9 Rom I-VO an (so auch Gräfe, EuZW 2024, 1025, 1030). Dies gilt jedenfalls dann, wenn das befasste Gericht eine entsprechende Begründung basierend auf Wortlaut, Systematik, Historie sowie Telos der Vorschrift vermissen lässt (so auch in der Rechtssache „Da Silva Martins“ betreffend die portugiesischen Verjährungsvorschriften, EuGH, Urt. v. 31.01.2019 - C-149/18 - EuZW 2019, 134; hierzu Papadopoulos, jurisPR-IWR 2/2019 Anm. 6). Dies führt im hiesigen Fall sicherlich aus Klägerperspektive zu einem unbefriedigenden Ergebnis, waren sie doch darauf aus, die nach der bulgarischen Rechtsprechung gewährte höhere Schmerzensgeldsumme durchzusetzen. Die vorstehenden Erwägungen lassen sich mit Bedacht auf das Haager Straßenverkehrsübereinkommen vom 04.05.1971 (im Folgenden: HStVÜ) übertragen. Dieses erfasst ebenso mittelbar Geschädigte, die einen Anspruch auf Ersatz von Nichtvermögensschäden (insbesondere auf Trauerschmerzensgeld) geltend machen (OGH, Urt. v. 25.05.2016 - 2 Ob 136/15m; hierzu Staudinger, DAR 2019, 669, 673 f.). Zwar sucht der Rechtsanwender in diesem vergebens nach einem Pendant zu Art. 9 Rom I-VO und Art. 16 Rom II-VO. Allerdings ist davon auszugehen, dass es selbst ohne eine entsprechende Öffnungsklausel einem Forumstaat erlaubt sein wird, sein international zwingendes Recht durchsetzen. Im Zweifel bietet sich insoweit ein Lückenschluss durch Rückgriff auf Art. 16 Rom II-VO an (Staudinger, DAR 2019, 669, 674 f.; a.A. Czaplinski, Das Internationale Straßenverkehrsunfallrecht nach Inkrafttreten der Rom II-VO, 2015, S. 359 f.). Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld aus § 844 Abs. 3 BGB vorliegend wegen des zeitlichen Anwendungsbereichs der Vorschrift nicht in Betracht kam. Denn nach Art. 229 § 43 EGBGB darf jene Vorschrift erst dann Platz greifen, wenn die zum Tode führende Verletzung nach dem 22.07.2017 eingetreten ist. Der Todesfall ereignete sich allerdings im Jahr 2014 und damit weit vor diesem Zeitpunkt. Unterstellt, das Unfallgeschehen hätte sich nach dem Stichtag zugetragen, bestünde für die Anspruchsteller auch die Möglichkeit, eine angemessene Entschädigung aus § 844 Abs. 3 BGB zu verlangen. Dass die Rechtsprechung die im Rahmen des Schockschadens gewährten Beträge als Orientierung für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes heranzieht und faktisch auf 10.000 Euro als Durchschnittswert abstellt, um davon ausgehend unter Beachtung eines Abstandsgebots die Entschädigung nach § 844 Abs. 3 BGB zu beziffern, vermag aus einer Reihe von Argumenten nicht zu überzeugen (vertiefend hierzu Staudinger in: HK-BGB, 12. Aufl. 2024, § 844 Rn. 17 f.; Staudinger in: Staudinger, BGB, 2024, § 651n Rn. 99).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Aufgrund der im Ausland oftmals höheren Schmerzens- bzw. Trauergelder versuchen Hinterbliebene bei Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Bezug, die für sie günstigste Rechtsordnung zur Anwendung zu berufen. Art. 16 Rom II-VO mag auf den ersten Anschein für den Betroffenen ein Instrument zur Erreichung dieses Ziels bieten (Staudinger/Arensmann, jurisPR-IWR 3/2024 Anm. 4). Der Richterspruch aus Luxemburg führt allerdings zu der Erkenntnis, dass die Geschädigtenseite im Zuge einer Direktklage nicht ohne Weiteres das finanziell attraktivere Regulierungs- und damit Entschädigungsniveau mithilfe von Art. 16 Rom II-VO in Stellung bringen kann. Wie sich schon aus den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.03.2024 in dieser Sache ergibt, besteht bei überbordendem Einsatz von nationalen Vorschriften mit vermeintlich international zwingendem Charakter nämlich die Gefahr einer uferlosen Anwendung des Art. 16 Rom II-VO, der den mit der Rom II-VO verfolgten Zweck vereiteln würde (so auch Gräfe, EuZW 2024, 1025, 1030). Sowohl Art. 9 Rom I-VO als auch Art. 16 Rom II-VO sind vom Forumstaat mit Blick auf das Ziel der Rechtsakte, eine einheitliche und vorhersehbare Rechtsanwendung zu gewährleisten, stets mit Bedacht anzuwenden. Es bleibt daher abzuwarten, ob das oberste bulgarische Kassationsgericht der Tendenz des EuGH folgt. Sofern sich das vorlegende Gericht über den EuGH hinwegsetzt, ein mit Art. 52 ZZD verfolgtes öffentliches Interesse konkret darlegt und damit über Art. 16 Rom II-VO die Norm für anwendbar erklärt, stellt sich die Frage, ob eine entsprechende bulgarische Entscheidung in Deutschland anzuerkennen und für vollstreckbar zu erklären ist. Als Anerkennungsversagungsgrund und Ausschluss des Exequaturs kommen die Art. 45 Abs. 1 Buchst. a und 46 Brüssel Ia-VO in Betracht. Dann müsste das ausgeurteilte Schmerzensgeld im Ergebnis dem verfahrensrechtlichen Ordre Public in Deutschland widersprechen. Notwendig hierfür erscheint ein offensichtlicher Verstoß gegen ein verfassungsrechtliches Fundamentalprinzip bei hinreichendem Inlandsbezug. Allerdings dürfte sich allein deshalb, weil ein immaterieller Schadensersatz höher als in Deutschland ausfällt, kein derartiger Widerspruch etwa zum Rechtsstaatsprinzip im Lichte von Art. 20 GG ergeben. Ein abweichendes Ergebnis mag sich dann ergeben, wenn es um die Verurteilung zu Strafschadensersatz ginge (Leible in: Rauscher, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 30).
|