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Anmerkung zu:BGH 8. Zivilsenat, Urteil vom 23.10.2024 - VIII ZR 106/23
Autor:Dr. Dietrich Beyer, RiBGH a.D.
Erscheinungsdatum:30.01.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 561 ZPO, § 563 ZPO, Art 97 GG, § 543 ZPO, § 554 BGB, § 22 SGB 2, § 36 SGB 12, § 569 BGB, § 543 BGB, § 573 BGB, Art 20 GG, § 242 BGB
Fundstelle:jurisPR-MietR 2/2025 Anm. 1
Herausgeber:Norbert Eisenschmid, RA
Zitiervorschlag:Beyer, jurisPR-MietR 2/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Kündigung wegen Zahlungsverzugs und Schonfristzahlung: ordentliche Kündigung bleibt wirksam - BGH korrigiert ZK 66 des LG Berlin abermals



Leitsätze

1. Ein innerhalb der Schonfrist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB erfolgter Ausgleich des Mietrückstands bzw. eine entsprechende Verpflichtung einer öffentlichen Stelle hat lediglich Folgen für die auf § 543 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 BGB gestützte fristlose, nicht jedoch für eine aufgrund desselben Mietrückstands hilfsweise auf § 573 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB gestützte ordentliche Kündigung (Bestätigung der Senatsurteile vom 13.10.2021 - VIII ZR 91/20 - NZM 2022, 49 Rn. 29 ff. und vom 05.10.2022 - VIII ZR 307/21 - NZM 2023, 28 Rn. 13 ff.; jeweils m.w.N.).
2. Diese (beschränkte) Wirkung des Nachholrechts des Mieters entspricht dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers, so dass der an Gesetz und Recht gebundene Richter (Art. 20 Abs. 3 GG) diese Entscheidung nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen darf, die so im Gesetzgebungsverfahren (bisher) nicht erreichbar war (im Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233/81 - BVerfGE 69, 315, 372 und Beschl. v. 03.04.1990 - 1 BvR 1186/89 - BVerfGE 82, 6, 12 f.; Bestätigung der Senatsurteile vom 13.10.2021 - VIII ZR 91/20 - NZM 2022, 49 Rn. 87 und vom 05.10.2022 - VIII ZR 307/21 - NZM 2023, 28 Rn. 16 ff.).



A.
Problemstellung
In der umfangreichen Rechtsprechung des VIII. Senats des BGH zum Komplex Wohnraummiete sind Entscheidungen zur Kündigung des Mietverhältnisses wegen Zahlungsverzugs an sich keine Seltenheit. Auffällig sind jedoch die Urteile, die die einschlägigen Entscheidungen des LG Berlin, konkret: der ZK 66, betreffen. Hier geht es regelmäßig um Fälle, die, fast möchte man sagen an die Grenzen des Rechtsstaats führen (Stichworte: richterliche Unabhängigkeit, Bindung des Richters an Gesetz und Recht, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG, und Auslegung des Gesetzes). Eine solche Sache ist vor kurzem wieder beim VIII. Senat verhandelt und mit Urteil vom 23.10.2024 entschieden worden – mit einer im Kern sehr grundsätzlichen, nach ihrem Umfang aber recht kurzen Begründung zu einer „doppelten“ Kündigung wegen Zahlungsverzuges und den Wirkungen der Tilgung des Zahlungsrückstandes durch den Mieter. Die Entscheidung ist sehr lesenswert, erfordert allerdings etwas mehr Zeit wegen des notwendigen Rückblicks auf die in Bezug genommene Rechtsprechung des Senats.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Mieter haben seit November 1994 eine Wohnung in Berlin gemietet. Die Miete für die Monate Oktober 2019, Januar 2020 und Mai 2021 zahlten sie nicht. Nachdem die Vermieterin sie mehrmals schriftlich an ihre Mietzahlungsverpflichtungen erinnert hatte, erklärte sie mit Schreiben vom 08.06.2021 die fristlose und hilfsweise die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses wegen Zahlungsverzugs. Am 30.06.2021 glichen die Mieter die Mietrückstände vollständig aus.
Das Amtsgericht hatte der Räumungsklage aufgrund der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung stattgegeben. Auf die Berufung der Mieter änderte das LG Berlin das erstinstanzliche Urteil ab und wies die Klage ab. Es hat an seiner Rechtsprechung zur umfassenden Wirkung einer Schonfristzahlung festgehalten. Entgegen der Auffassung des BGH fehle es an einer gesetzlichen Regelung zu den Wirkungen einer Schonfristzahlung. Die Argumentation des BGH beschränke sich auf das „blanke in einer Unterlassung bestehende Ergebnis, zu welchem es ‚wann auch immer‘ gekommen“ sei.
I. Die Entscheidung
1. Die eingeschränkte Wirkung der Schonfristzahlung – umfassende Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Senats
Wie zu erwarten, hat der BGH die Begründung und das Ergebnis des Berufungsurteils nicht akzeptiert. Einleitend hat er den Grundsatz seiner gefestigten Rechtsprechung wiederholt, dass die Schonfristzahlung nur die auf den Zahlungsverzug gestützte fristlose Kündigung, nicht aber die ordentliche Kündigung unwirksam werden lässt (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB, § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB; § 573 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB). Die Regelung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB sei hier weder unmittelbar noch analog anwendbar. (Rn. 10)
Zu den in ihrer Begründung „im Wesentlichen deckungsgleichen“ Urteilen des Berufungsgerichts vom 30.03.2020 (66 S 293/19 - ZMR 2020, 504) und vom 01.07.2022 (66 S 200/21 - NJW-RR 2022, 1310) hat der BGH bereits in seinen Entscheidungen vom 13.10.2021 (VIII ZR 91/20 - NJW-RR 2022, 80) und vom 05.10.2022 (VIII ZR 307/21 - NJW-RR 2023, 20) ausführlich Stellung genommen. Auf die dortigen Ausführungen nimmt er nun „zur näheren Begründung ... umfassend Bezug“ (Rn. 11). Die Begründung des Berufungsurteils gibt dem BGH keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung als in dem Urteil vom 05.10.2022 dargelegt. Insbesondere die sehr kritischen Äußerungen des Berufungsgerichts zur Bewertung des Verhaltens des Gesetzgebers durch den BGH hat dieser mit wenigen Sätzen zurückgewiesen. (Rn. 12-14)
2. Keine „Rettung“ des Berufungsurteils aus anderen Gründen (§ 561 ZPO) – entsprechende Feststellungen fehlen bislang
Im Hinblick auf die Ausführungen der Revisionserwiderung (der Mieter) hat der BGH klargestellt, dass die ordentliche Kündigung nicht deshalb unwirksam sei, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Zahlungsrückstände zum Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist schon ausgeglichen waren. Ob die Pflichtverletzung als i.S.v. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht unerheblich anzusehen ist, sei im Rahmen einer Gesamtwürdigung durch das Tatgericht unter Berücksichtigung insbesondere der Dauer und Höhe des Zahlungsverzugs zu ermitteln. Hierzu habe das Berufungsgericht bislang keine Feststellungen getroffen. (Rn. 16)
Zuletzt: Ob der Umstand, dass die Vermieterin trotz der Tilgung des Zahlungsrückstandes die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung geltend macht, ausnahmsweise als treuwidrig anzusehen sei (§ 242 BGB), habe das Berufungsgericht nicht geprüft, weil es aus seiner Sicht darauf nicht ankam. (Rn. 17)
II. Ergebnis
Da das Berufungsurteil mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht bestehen bleiben kann und die für eine weitere rechtliche Würdigung (Gewicht der Pflichtverletzung; Treuwidrigkeit der Kündigung) notwendigen tatsächlichen Feststellungen fehlen, war das Urteil auszuheben und die Sache zur neuen Verhandlung an das Berufungsgericht – und zwar an eine andere Kammer (§ 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO) – zurückzuverweisen. (Rn. 18)


C.
Kontext der Entscheidung
I. Die Rechtsprechung der ZK 66 des LG Berlin zur „doppelten“ Kündigung – ein Fall an den Grenzen des Rechtsstaats?
Betrachtet man das Berufungsurteil vom 10.05.2023 und die vorliegende Entscheidung des VIII. Senats des BGH, dann drängen sich die verfassungsrechtlichen Fragen der Unabhängigkeit des Richters sowie der Aufgabe und Bedeutung des Instanzenzugs, insbesondere des Revisionsgerichts, fast von selbst auf. Die Antwort kann nur lauten: Die Unabhängigkeit des Richters findet ihre Grenzen in der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG). Und das Gesetz ist auszulegen – diese Aufgabe obliegt „in letzter Instanz“ (der ordentlichen Gerichtsbarkeit) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO) und nach festen Maßstäben dem BGH. Nicht zuletzt gewährleistet die einheitliche Auslegung des Gesetzes die Gleichbehandlung der Beteiligten, unabhängig vom „Standort“ der betroffenen Wohnung. Aus der Sicht eines ehemaligen Mitglieds des VIII. Senats des BGH ist es nicht hinzunehmen, dass ein Richter die gefestigte, umfangreich und sehr sorgfältig begründete einschlägige Rechtsprechung des Senats zu einer konkreten Rechtsfrage immer wieder nicht akzeptiert.
Die Grundsätze für die Auslegung des Gesetzes hat der VIII. Senat gerade in seinen Entscheidungen zu den Urteilen der ZK 66 in einer – im positiven Sinn – geradezu „lehrbuchartigen“ Begründung dargelegt, und auf zwei dieser Entscheidungen hat er jetzt wieder mehrfach und „vollumfänglich“ Bezug genommen.
II. Zur Sache: Das in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überzeugende Ergebnis des VIII. Senats des BGH
Die Entscheidung des VIII. Senats zur eingeschränkten Wirkung einer Schonfristzahlung bei doppelter Kündigung wegen Zahlungsverzug ist einmal mehr überzeugend begründet – insbesondere durch die Bezugnahme auf seine einschlägige Rechtsprechung, zum anderen aber auch durch die (mögliche) Berücksichtig der tatsächlichen Umstände des konkreten Falles zugunsten des Mieters (Gewicht der Pflichtverletzung, Rn. 16; mögliche Treuwidrigkeit des Festhaltens an der ordentlichen Kündigung durch den Vermieter, Rn. 17).
III. Der Kern der aktuellen Entscheidung: Die Urteile vom 13.10.2021 und 05.10.2022
Wegen der mehrfachen „vollumfänglichen“ Bezugnahme des VIII. Senats auf seine einschlägige Rechtsprechung ist die Wiedergabe der grundsätzlichen Aussagen der beiden Entscheidungen zu dem Komplex „doppelte“ Kündigung wegen Zahlungsverzug und Wirkungen einer Schonfristzahlung sinnvoll.
1. Zum Urteil des BGH vom 13.10.2021 - VIII ZR 91/20
In seiner ersten einschlägigen Grundsatzentscheidung vom 16.02.2005 (VIII ZR 6/04 - NZM 2005, 334) hatte der VIII. Senat folgenden Leitsatz formuliert:
„Kündigt der Vermieter ein Wohnraummietverhältnis nach §§ 543 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a, 569 Abs. 3 Nr. 1 BGB wegen Zahlungsverzugs des Mieters fristlos und hilfsweise auch fristgemäß, lässt der nachträgliche Ausgleich der Rückstände innerhalb der Frist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB zwar die fristlose Kündigung unwirksam werden, nicht dagegen auch ohne weiteres die fristgemäße Kündigung. Die nachträgliche Zahlung ist jedoch bei der Prüfung, ob der Mieter seine vertraglichen Pflichten schuldhaft nicht unerheblich verletzt hat (§ 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB), zu berücksichtigen.“
An dieser Rechtsprechung hat er – mit einer Einschränkung hinsichtlich des zweiten Satzes – konsequent und mit überzeugender Begründung bis heute festgehalten – allerdings, was die ZK 66 des LG Berlin betrifft, ohne Erfolg. In dem Urteil vom 13.10.2021 hat der BGH seinen Standpunkt noch einmal mit aller Deutlichkeit und mit einer geradezu wissenschaftlichen, uneingeschränkt überzeugenden Begründung bekräftigt und folgende Grundsätze zur Auslegung eines Gesetzes festgehalten:
a) Der Wortlaut einer Norm als Ausgangspunkt jeder Gesetzesauslegung
Nach dem einleitenden Hinweis auf die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und ihrer Entstehungsgeschichte ist der BGH unmittelbar zum Ausgangspunkt jeder Gesetzesauslegung gekommen, dem Wortlaut einer Norm; er „steckt grundsätzlich die Grenzen ab, innerhalb derer ein vom Gesetz verwendeter Begriff überhaupt ausgelegt werden kann“. (Rn. 33 m.w.N.)
aa) Der Wortlaut des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB: der Begriff „Kündigung“
Das Berufungsgericht hat den Wortlaut weder hinreichend erfasst noch mit dem ihm gebotenen (eigenständigen) Gewicht bei der Prüfung von Inhalt und Reichweite der Norm des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB berücksichtigt. Der Begriff der „Kündigung“ ist hier nicht als Oberbegriff, sondern nur als „fristlose Kündigung“ gemeint. Das folgt bereits aus der eindeutigen amtlichen Überschrift des § 569 BGB und zusätzlich aus der Konkretisierung des wichtigen Grundes (§ 543 Abs. 1 BGB) für die Wohnraummiete in § 569 Abs. 3 BGB („ergänzend“). Auch der besondere Tatbestand des § 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB nennt ausdrücklich die „außerordentliche fristlose Kündigung“ (Rn. 39-41).
bb) Die Gesetzesbegründung für § 569 BGB (Mietrechtsreformgesetz 2001)
Die Auslegung des § 569 BGB nach seinem Wortlaut wird ergänzt und bestätigt durch die Begründung in dem Entwurf des Mietrechtsreformgesetzes (BT-Drs. 14/4553, S. 64):
„Die Vorschrift ergänzt § 543 Entwurf und enthält besondere Regelungen zum außerordentlichen fristlosen Kündigungsrecht aus wichtigem Grund bei Wohnraummietverhältnissen.“ (Rn. 42)
b) Systematische Stellung der Regelung zur Schonfristzahlung: Regel-Ausnahme-Verhältnis
Ein weiteres gewichtiges Argument ist das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen der Schonfristregelung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB und § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB, der einen Zahlungsverzug in einer bestimmten Höhe als wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung definiert. Als Ausnahme von diesem Grundsatz hat der Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB für den Fall der vollständigen Tilgung des Zahlungsrückstandes innerhalb einer bestimmten Frist eine Regelung geschaffen, die dem besonderen Schutzbedürfnis des Wohnungsmieters Rechnung trägt. Bei der Auslegung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB greift deshalb der „eherne“ Grundsatz ein, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind – konkret: Durch die nachträgliche Befriedigung des Vermieters gilt allein die durch die wirksam erklärte fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzugs (...) bewirkte Beendigung des Mietverhältnisses rückwirkend als nicht eingetreten. (Rn. 46 m.w.N.)
Dass die mit der Einführung des § 569 Abs. 3 BGB verbundene Änderung der Systematik des Mietrechts an diesem Ergebnis nichts ändert, begründet der BGH mit einer ausführlichen Darstellung der Motive des Gesetzgebers (Rn. 49 ff), wie sie u.a. in der Begründung zu § 543 BGB (BT-Drs. 14/4553, S. 44) zum Ausdruck kommt; wörtlich heißt es dort: „Die Sonderregelung für die Wohnraummiete (bisher § 554 Abs. 2 BGB) wird entsprechend der neuen Systematik in den 2. Untertitel ‚Mietverhältnisse über Wohnraum‘ als § 569 Abs. 3 Entwurf aufgenommen.“
c) Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Schonfristregelung
aa) Der Sinn und Zweck der Schonfristregelung als weiteres Kriterium für die Auslegung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB ist die Vermeidung der Obdachlosigkeit. (Rn. 56) Auch wenn sich bei einer fristlosen Kündigung wegen der Dauer eines gerichtlichen Verfahrens die Gefahr einer sofortigen Obdachlosigkeit in der Regel nicht verwirklicht, ändert dies nichts daran, dass bei der ordentlichen Kündigung mit der mindestens dreimonatigen Kündigungsfrist eine Obdachlosigkeit in geringerem Maß droht als bei der sofortigen Beendigung des Mietverhältnisses aufgrund einer fristlosen Kündigung.
bb) Sehr deutlich wird der Senat bei dem Einwand des Berufungsgerichts, die vom BGH geforderte Einzelfallprüfung (§ 242 BGB) sei nicht „praxistauglich“. Damit verkennt das Berufungsgericht, dass „im Rechtsstaat des Grundgesetzes das Recht die Praxis bestimmt und nicht die Praxis das Recht.“ (Rn. 63 unter Bezugnahme auf BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 - BVerfGE 133, 168, 235; näher dazu Rn. 88)
d) Keine Bedeutung des Sozialgesetzbuches für die Auslegung des Mietrechts
aa) Sozialrechtlicher Schutz des Mieters begründet keine erweiterte Anwendung der Schonfristregelung
Schließlich rechtfertigt auch die vom Berufungsgericht angenommene „enge Verzahnung“ der mietrechtlichen Bestimmungen des BGB mit den Vorschriften über das Eintreten der Sozialbehörden bei Mietschulden (§ 22 SGB II, § 36 SGB XII) nicht eine erweiterte Auslegung des § 569 BGB. Diese Regelungen – der Interessenausgleich zwischen Vermieter und Mieter einerseits und die allein dem Schutz eines bedürftigen Mieters mithilfe staatlicher Leistungen dienenden Vorschriften des Sozialgesetzbuchs andererseits – verfolgen einen ganz unterschiedlichen Zweck. (Rn. 72-74)
bb) Insbesondere: Berücksichtigung des Grundes eines Zahlungsverzugs
Diese Aussage wird mit den Fakten des vorliegenden Falles untermauert. Denn der Mieter ist nicht etwa wegen einer finanziellen Notlage, also dem typischen Fall des Einschreitens eines Sozialhilfeträgers, in Zahlungsverzug geraten, sondern weil er die Zahlungen wegen eines Mangels eingestellt hatte. Dass er den Zahlungsrückstand i.H.v. 2.600 Euro innerhalb von zwei Tagen begleichen konnte (Rn. 3), macht deutlich, dass das „sozialrechtliche“ Argument des Berufungsgerichts eine über den Regelungszweck hinausgehende Anwendung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB nicht zu begründen vermag. (Rn. 75, 76)
cc) Zuletzt: Kündigung treuwidrig bei Ausgleich der Mietrückstände?
Mit dem kurzen, aber sehr wichtigen Hinweis auf die in der Regel gebotene Prüfung, ob die Kündigung bei einem Ausgleich der Mietrückstände als treuwidrig (§ 242 BGB) anzusehen ist, hat der BGH diesen Teil seiner Entscheidungsgründe abgeschlossen. (Rn. 83)
e) Der aktuelle Wille des Gesetzgebers – ein zusätzliches Kriterium für die Auslegung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB durch den BGH
Im letzten Abschnitt hat der BGH – konkret und mit entsprechenden Zitaten – auf „die jüngere Gesetzgebungsgeschichte verwiesen, die das Berufungsgericht in Gänze außer Betracht lässt“, die aber (erneut) unmissverständlich deutlich macht, dass der Gesetzgeber eine Erstreckung der Schonfristzahlung auf die ordentliche Kündigung ablehnt (Rn. 84-86). Diese eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers „darf der an Gesetz und Recht gebundene Richter (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war“. (Rn. 87)
2. Zum Urteil des BGH vom 05.10.2022 - VIII ZR 307/21
In seiner Entscheidung vom 05.10.2022 hat der BGH noch einmal seine bisherige Rechtsprechung in vollem Umfang bestätigt, im Hinblick auf die Begründung des neuen Urteils der ZK 66 des LG Berlin vom 20.08.2021 (66 S 98/20) aber einige Punkte besonders betont und darüber hinaus das Berufungsurteil erneut zum Anlass genommen, auf die (verfassungsrechtliche) Bindung des Richters an Gesetz und Recht hinzuweisen. Das Berufungsurteil ist nicht veröffentlicht; seine Begründung ist jedoch, wie der BGH einleitend klargestellt hat (Rn. 13), identisch mit dem Urteil der ZK 66 vom 30.03.2020 (66 S 293/19 - ZMR 2020, 504), das Gegenstand der Grundsatzentscheidung des BGH vom 13.10.2021 (oben unter C., III., 1) war, auf die der BGH jetzt Bezug genommen hat.
a) Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung; ergänzende Anmerkungen
Mit einigen wenigen Sätzen hat der BGH zunächst seine Rechtsprechung bestätigt, dass eine auf den zum Kündigungszeitpunkt bestehenden Mietrückstand neben der fristlosen Kündigung zugleich gestützte ordentliche Kündigung nach § 573 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB von der Schonfristzahlung unberührt bleibt. Anlass zu ergänzenden Anmerkungen gebe es lediglich im Hinblick auf ein – nach der Grundsatzentscheidung vom 13.10.2021 – verkündetes Urteil der ZK 66 des LG Berlin vom 01.07.2022 (66 S 200/21 - NJW-RR 2022, 1310), in dem die Kammer mit im Wesentlichen unveränderter Begründung an ihrer Ansicht zur Wirkung der Schonfristzahlung festgehalten hat.
b) Leitsatz des Urteils vom 05.10.2022
„1. Ein innerhalb der Schonfrist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB erfolgter Ausgleich des Mietrückstands bzw. eine entsprechende Verpflichtung einer öffentlichen Stelle hat lediglich Folgen für die auf § 543 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 BGB gestützte fristlose, nicht jedoch für eine aufgrund desselben Mietrückstands hilfsweise auf § 573 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB gestützte ordentliche Kündigung (Bestätigung von BGH, Urt. v. 13.10.2021 - VIII ZR 91/20 - NZM 2022, 49 Rn. 29 ff. m.w.N.).
2. Diese (beschränkte) Wirkung des Nachholrechts des Mieters entspricht dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers, so dass der an Gesetz und Recht gebundene Richter (Art. 20 Abs. 3 GG) diese Entscheidung nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen darf, die so im Gesetzgebungsverfahren (bisher) nicht erreichbar war (im Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233/81 und BVerfG, Beschl. v. 03.04.1990 - 1 BvR 1186/89 - BVerfGE 82, 6, 12 f.; Bestätigung von BGH, Urt. v. 13.10.2021 - VIII ZR 91/20 - NZM 2022, 49 Rn. 87).“
Im zweiten Leitsatz hat der BGH mit einer nicht zu überbietenden Deutlichkeit ausgesprochen, dass der ständige Widerspruch der ZK 66 des LG Berlin gegen die gefestigte Rechtsprechung des BGH mit der Bindung des Richters an Gesetz und Recht nicht mehr zu vereinbaren ist und die Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit damit überschritten sind. Es geht hier nicht um das einmalige, bewusste oder unbewusste Abweichen von einer höchstrichterlichen Entscheidung, sondern um den kontinuierlichen Widerspruch gegen eine äußerst sorgfältig und mit der eingehenden, überzeugenden Darlegung des Willens des Gesetzgebers begründete Auslegung des Gesetzes. Auch die ZK 66 des LG Berlin muss anerkennen, dass es eine Grenze der richterlichen Unabhängigkeit gibt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Neue Auswirkungen für die Praxis ergeben sich aus dem Urteilen vom 13.10.2021, vom 05.10.2022 und vom 23.10.2024 naturgemäß nicht, aber die Bestätigung der bisherigen BGH-Rechtsprechung zu den Wirkungen einer Schonfristzahlung nach „doppelter“ Kündigung wegen Zahlungsverzuges kann für die Praxis in allen Bereichen (Immobilienverbände, Mietervereine, Rechtsanwälte) vernünftigerweise nur die Umsetzung dieser gefestigten Rechtsprechung bedeuten. Ein Vermieter kann stets davon ausgehen, dass er in einem einschlägigen Fall letztlich Erfolg haben wird, wenn er in der Berufungsinstanz unterliegt und – sei es nach Zulassung der Revision oder im Wege der Nichtzulassungsbeschwerde – den Weg zum BGH geht, und der Mieter sollte dies akzeptieren. Zuletzt bleibt für den konkreten Einzelfall immer noch die vom BGH häufig erwähnte „Fußnote“ des § 242 BGB.



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