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Anmerkung zu:LSG Berlin-Potsdam 32. Senat, Beschluss vom 06.03.2024 - L 32 AS 39/24 B ER
Autor:Claudia Theesfeld-Betten, Ass. jur.
Erscheinungsdatum:15.08.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 19 SGB 2, § 22 SGB 2, § 134 BGB, § 117 BGB
Fundstelle:jurisPR-MietR 16/2024 Anm. 1
Herausgeber:Norbert Eisenschmid, RA
Zitiervorschlag:Theesfeld-Betten, jurisPR-MietR 16/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Keine grundsätzliche Nichtigkeit von Mietverträgen unter nahen Angehörigen



Leitsätze

1. Geht das Gericht von einem besonders starken Anordnungsanspruch aus, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund - jedenfalls bei einer Regelungsanordnung für die Zukunft - sehr gering. Allein eine drohende ordentliche Kündigung wegen der noch bestehenden Mietschulden genügt im Hinblick auf die vom BVerfG gesehene besondere grundrechtliche Bedeutung der Unterkunftssicherung als drohender wesentlicher Nachteil.
2. Personen dürfen sich gerade in einer Situation, in der sich ihre Hilfebedürftigkeit erhöht, an den Grundsicherungsträger mit einem Antrag wenden, ohne dass ihnen dies nachteilig ausgelegt wird.



Orientierungssatz zur Anmerkung

Ein Mietvertrag zwischen Eltern und ihrem Sohn kann Rechtsgrundlage für die Anerkennung von tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung als Bedarfe sein, wenn ein entsprechender rechtlicher Bindungswille besteht und es sich nicht um ein Scheingeschäft handelt, was unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist.



A.
Problemstellung
Mietverhältnisse unter Verwandten werden von den Transferleistungsträgern immer wieder angezweifelt. Häufig wird unter Berufung auf das Vorliegen eines Scheingeschäftes (§ 117 BGB) die Gewährung von Unterkunftskosten verweigert. Das LSG Berlin hatte sich im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens mit der Frage der Ernsthaftigkeit eines Mietvertrages zwischen Eltern und ihrem auf Leistungen nach dem SGB II angewiesenen Sohn auseinanderzusetzen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Antragsteller bezieht Bürgergeld und wohnt seit August 2022 in einer im Eigentum seiner Eltern stehenden Wohnung. Nachdem er dort zunächst mietfrei wohnte, legte er dem Jobcenter einen ab 01.10.2022 mit seinen Eltern geschlossenen Mietvertrag vor, wonach er eine Nettokaltmiete von 300 Euro und für die Betriebskosten monatlich 100 Euro zu zahlen hatte.
Das Jobcenter bewilligte Leistungen nach dem Bürgergeldgesetz in Höhe des Regelbedarfs sowie Heizkosten i.H.v. 137,99 Euro. Weitere Unterkunftskosten erkannte der Antragsgegner nicht an. Eine ernsthafte Verpflichtung aus dem mit den Eltern geschlossenen Mietvertrag sah das Jobcenter nicht als gegeben an.
Gegen den Bewilligungsbescheid wurde Widerspruch eingelegt. Zudem stellte der Antragsteller beim Sozialgericht einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit dem Begehren, ihm die laut Mietvertrag geschuldeten Unterkunftskosten zu gewähren. Beigefügt war dem Antrag ein mit „Fristlose Kündigung des Mietverhältnisses“ überschriebenes Schreiben der Eltern vom 10.11.2023.
Das Sozialgericht hatte mit Beschluss vom 14.12.2023 den Antrag hinsichtlich der Kosten der Unterkunft abgelehnt. Bedarfe für die Unterkunft seien nur insofern zu berücksichtigen, als diese vom Antragsteller auch getragen würden. Es sei nicht ersichtlich, dass der Mietvertrag des Antragstellers mit seiner Mutter gelebt würde oder die ausgesprochene Kündigung weiterbetrieben werde. Die weitere Sachaufklärung zu den Bedarfen für die Unterkunft könne einem etwaigen Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Mit seiner Beschwerde vor dem Landessozialgericht verfolgte der Antragsteller sein Begehren weiter.
Das LSG Berlin-Brandenburg verpflichtete das Jobcenter, ab Antragstellung die laufenden monatlichen Unterkunftskosten zu gewähren.
Nach den §§ 19 Abs. 1 Satz 3, 22 Abs. 1 SGB II umfassen Bürgergeldleistungen auch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Entscheidend sei allein, dass Aufwendungen für die Unterkunft tatsächlich entstanden und der Betroffene einem ernsthaften Zahlungsbegehren ausgesetzt sei.
Davon sei im vorliegenden Fall auszugehen. Der Senat sei davon überzeugt, dass der Mietvertrag wirksam geschlossen und ernst gemeint sei. Als Mietvertrag sei ein Standardvertragsvordruck verwendet worden, der den Gegebenheiten der Beteiligten angepasst worden sei. Der Senat halte insbesondere der Vortrag der Mutter für glaubhaft, soweit sie aus ihrer Sicht das Zustandekommen des Vertrages und den von der Seite der Eltern des Antragstellers bestehenden Willen für eine vertragliche Bindung in der vorliegenden Gestalt geschildert habe. Nachvollziehbar sei, dass sie das gesamte Grundstück mit beiden Wohnungen für die Altersvorsorge angeschafft hatten. Nachvollziehbar sei auch, dass sie deshalb die einzig derzeit bewohnbaren Wohnräume vermieten wollten, um daraus Einnahmen zu erzielen, um diese für ihre Altersvorsorge bzw. die weiteren erforderlichen Rekonstruktionsarbeiten am Haus zur Verfügung zu haben. Ebenso plausibel sei, dass sie nach Ablauf der Übergangsmonate August und September 2022 keine kostenlose Überlassung der Wohnung an den Sohn mehr hinnehmen wollten. Aus Sicht des Senats sei der Bindungswille der Eltern und auch des Antragstellers hinreichend „bewiesen“ bzw. glaubhaft gemacht. Auch das Verhalten der Beteiligten spreche für ein ernsthaft gewolltes Mietverhältnis zu den vereinbarten Bedingungen. Dass der Vertrag niemals erfüllt worden sei, sei anhand der für Oktober 2023 gezahlten vollständigen Miete widerlegt. Zudem habe der Antragsteller, nachdem ihm Leistungen über den Bereich des absolut Unerlässlichen hinaus erbracht worden seien, mit der Tilgung der Mietschulden begonnen, zunächst die Nebenkosten, sodann auch die Bruttokaltmieten. Der Antragsgegner setze sich in Widerspruch, wenn er einerseits dem Leistungsbedürftigen die notwendigen Leistungen verweigere und ihm dann andererseits entgegenhalte, dieser erfülle seine mietvertraglichen Pflichten nicht, weshalb der Mietvertrag nicht ernst gemeint sein könne.
Die Behauptung des Antragsgegners, die Zahlungen nach dem Erörterungstermin seien lediglich zum Zwecke der Demonstration nach außen hin erfolgt, sei nicht mehr als eine Vermutung ins Blaue hinein. Die vom Antragsgegner aufgestellte Vermutung des Vorliegens eines Scheingeschäfts teile der Senat daher nicht. Es stehe fest, dass die vereinbarte Bruttokaltmiete ernsthaft geschuldet sei und damit einen existenzsichernden Bedarf des Antragstellers darstelle. Insoweit bestehe auch ein Anordnungsgrund, weil der Antragsteller dieser Mittel für sein menschenwürdiges Existenzminimum bedürfe.


C.
Kontext der Entscheidung
Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit sie angemessen sind. Bereits aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich eindeutig, dass der Leistungsträger nur solche Kosten zu übernehmen hat, die dem Hilfebedürftigen tatsächlich entstanden sind und für deren Deckung ein Bedarf besteht. Dies sind vorrangig Kosten, die durch Mietvertrag entstehen. „Tatsächliche Aufwendungen“ für eine Wohnung liegen allerdings nicht nur dann vor, wenn der Hilfebedürftige die Miete bereits gezahlt hat und nunmehr deren Erstattung verlangt. Vielmehr reicht es aus, dass der Hilfebedürftige im jeweiligen Leistungszeitraum einer wirksamen und nicht dauerhaft gestundeten Mietzinsforderung ausgesetzt ist (vgl. BSG, Urt. v. 03.03.2009 - B 4 AS 37/08 R; BSG, Urt. v. 07.05.2009 - B 14 AS 31/07 R).
Ausgangspunkt für die Frage, ob eine wirksame Mietzinsverpflichtung des Hilfebedürftigen vorliegt, ist damit in erster Linie der Mietvertrag, mit dem der geschuldete Mietzins vertraglich vereinbart worden ist. Bei Mietverträgen zwischen Verwandten kann nicht schematisch auf die Elemente eines „Fremdvergleichs“, den der BFH im Steuerrecht entwickelt hat (vgl. BFH, Urt. v. 05.02.1988 - III R 234/84), zurückgegriffen werden (vgl. BSG, Urt. v. 03.03.2009 - B 4 AS 37/08 R). Allerdings spielt der in der Entscheidung des BFH ebenfalls enthaltene Gesichtspunkt des tatsächlichen Vollzugs des Vertragsinhalts, also insbesondere die Feststellung, ob die Absicht bestand oder besteht, den vereinbarten Mietzins zu zahlen, auch in Fällen nach dem SGB II oder SGB XII eine Rolle. Denn auch vertragliche Vereinbarungen zwischen nahen Verwandten sind im Rechtsverkehr grundsätzlich verbindlich. Zwar sind an ihren Nachweis wegen der aufgrund der engen familiären Bindung in Betracht zu ziehenden Gefahr kollusiven Zusammenwirkens zum Nachteil Dritter grundsätzlich inhaltlich gleiche Anforderungen wie zwischen nicht verbundenen Beteiligten zu stellen, lediglich formale Anforderungen können nach den Umständen reduziert sein. Zudem muss das hiernach als fremdüblich vereinbart zugrunde Gelegte auch tatsächlich wie vereinbart zwischen den Beteiligten vollzogen worden sein.
Mietvertragliche Verpflichtungen müssen somit wirksam sein, um als Kosten für Unterkunft und Heizung berücksichtigt werden zu können (vgl. BSG, Urt. v. 19.02.2009 - B 4 AS 48/08 R; BSG, Urt. v. 24.11.2011 - B 14 AS 15/11 R); bloß freiwillige Zahlungen reichen nicht aus. Ein entsprechender Vertrag muss daher zum einen wirksam geschlossen worden sein und darf zum anderen nicht etwa wegen Verstoßes gegen ein Gesetz nichtig sein (§ 134 BGB). Das Vorliegen eines Vertragsschlusses – einschließlich etwa der Frage, ob ein Scheingeschäft (§ 117 BGB) vorliegt – ist von den SGB II-Leistungsträgern und ggf. den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in jedem Fall zu prüfen. Liegt die Nichtigkeit aber nicht auf der Hand, ist Vorsicht mit Mutmaßungen geboten, was auch der vom LSG Berlin-Brandenburg beurteilte Fall zeigt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Auch Mietverträge unter Verwandten sind unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen und können von den Jobcentern nicht per se als Scheinmietverträge abgetan werden. Ein wirksamer Mietvertrag zwischen Verwandten liegt nur dann nicht vor, wenn der Betroffene keiner ernsthaften Mietzahlungsverpflichtung ausgesetzt ist. Hierfür sind sämtliche Indizien, die für das Vorliegen eines Scheinmietvertrages sprechen können, vom Leistungsträger heranzuziehen und zu würdigen. Eine „Faustformel“ gibt es für die Praxis nicht, wie so oft ist dies eine Frage des Einzelfalls.



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