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Anmerkung zu:BSG 12. Senat, Urteil vom 12.06.2024 - B 12 BA 8/22 R
Autor:Dr. Dr. Thomas Ruppel, RA und FA für Medizinrecht
Erscheinungsdatum:28.11.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 4 AsylbLG, § 130 SGB 4, § 36 IfSG, § 7 SGB 4, § 62 AsylVfG 1992, § 630a BGB
Fundstelle:jurisPR-MedizinR 11/2024 Anm. 1
Herausgeber:Möller und Partner - Kanzlei für Medizinrecht
Zitiervorschlag:Ruppel, jurisPR-MedizinR 11/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Sozialversicherungspflicht bei Tätigkeit als Arzt für die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE)



Orientierungssatz zur Anmerkung

Ein als Arzt für die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) tätiger Arzt, der dort Aufgaben im Bereich der Durchführung von Erstuntersuchungen bzw. der Beurteilung von Erstuntersuchungsbefunden übernommen hat, ist abhängig beschäftigt. Das Vorliegen eines Behandlungsvertrages gemäß § 630a BGB ist ohne Relevanz. Ein ärztliches Honorar von 75 Euro pro Stunde ist nicht als Ausübung eines Ehrenamtes anzusehen.



A.
Problemstellung
Die Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger, mithin sozialversicherungspflichtiger, ärztlicher Tätigkeit beschäftigt sowohl die vertragsgestaltenden Rechtsanwälte als auch die Sozialgerichte seit Jahren in verschiedenen Facetten, vom Honorararzt im Krankenhaus, über die Ärzte in KV-Notfallpraxen, als Praxisvertreter oder im Rettungsdienst. Nunmehr durfte sich das BSG mit der sozialversicherungsrechtlichen Einordnung von Ärzten, die in landeseigenen Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge tätig sind, befassen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Land Hessen als Betreiber von Erstaufnahmeeinrichtungen stellt in diesen das nicht-ärztliche Personal sowie Räume und Geräte für medizinische Untersuchungen bereit.
Das Land Hessen und der Arzt hatten in mehreren Vereinbarungen ihre Zusammenarbeit geregelt. Nach der ursprünglichen Vereinbarung war geregelt, dass der Arzt nicht in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung eingegliedert werde und seine Tätigkeit nicht der Sozialversicherungspflicht unterliege. Die Zuführung der Patienten sollte ausschließlich über das Land erfolgen. Die (Röntgen-)Untersuchungen sollten gemäß der vertraglichen Vereinbarung in den Räumlichkeiten des Landes nach einvernehmlicher, zeitlicher Absprache gegen ein Entgelt i.H.v. 50 Euro je Stunde erfolgen. Der Vertrag wurde befristet.
In der Folge schlossen das Land und der beigeladene Arzt einen befristeten Rahmenvertrag. In diesem verpflichtete sich der Arzt zur ambulanten medizinischen Versorgung von in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebrachten Personen nach Maßgabe des § 4 AsylbLG sowie zur Durchführung von Erstuntersuchungen nach § 62 AsylG, § 36 IfSG und weiterer Regelungen. Seine Tätigkeit erfolgte zeitlich nach Vereinbarung. Das Land Hessen verpflichtete sich zur kostenfreien Bereitstellung adäquater Räumlichkeiten, Geräte, Inventar, Verbrauchsmaterialien sowie Arzneimittel und zur Übernahme etwaiger Miet-, Instandhaltungs-, Energieversorgungs-, Müllentsorgungs- und Reinigungskosten. Auch das nicht-ärztliche Personal wurde gemäß den vertraglichen Regelungen vom Land bereitgehalten. Der Arzt sollte nunmehr 75 Euro pro Stunde erhalten. Zudem wurde vereinbart, dass die Tätigkeit des Arztes freiberuflich ausgeübt werde, nicht sozialversicherungspflichtig sei und der Arzt nicht in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung eingegliedert werde.
Trotz dieser Vereinbarungen stellte die Beklagte fest, dass es sich um eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit handle.
Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Sozialgericht hatte unter anderem ausgeführt, dass die „zur funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinerte Weisungsgebundenheit sich daraus ergebe, dass der Arzt verpflichtet gewesen sei, die vorgegebenen Befunde zu erheben und zu dokumentieren. Zudem sei er in der Wahl seiner Patienten nicht frei gewesen. Auch sei er vollständig fremdbestimmt, in den von der Erstaufnahmeeinrichtung vorgegebenen Betriebsablauf, eingegliedert und nicht berechtigt gewesen, die Untersuchungen an einem anderen Ort durchzuführen. Er habe, wie die angestellten Ärztinnen und Ärzte, die vorhandene Infrastruktur genutzt und dem nichtärztlichen Personal Anweisungen gegeben. Ein erhebliches unternehmerisches Risiko habe nicht bestanden.
Auch die Berufung war nicht erfolgreich. Das Landessozialgericht hat sich die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts zu eigen gemacht und zudem ausgeführt, dass auch aus dem Umkehrschluss des § 130 SGB IV, der die Beitragsfreiheit von Einnahmen aus Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in einem Impfzentrum anordne, ableitbar sei, dass grundsätzlich eine versicherungspflichtige Beschäftigung vorliege.
In der Revision rügte das Land Hessen eine Verletzung von § 7 SGB IV i.V.m. § 130 SGB IV, § 62 AsylG, § 36 Abs 4 IfSG und § 630a BGB. Der beigeladene Arzt sei selbstständig tätig gewesen, weil er über Inhalt, Zeit und Umfang seiner Tätigkeit frei habe bestimmen können. Zudem habe er eigenverantwortlich und weisungsfrei ärztliche Leistungen erbracht. Eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung im Sinne eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens komme nicht in Betracht, weil es sich bei dieser nicht um eine medizinische Einrichtung gehandelt habe. Gegen ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis spreche zudem, dass der Arzt gegenüber dem jeweiligen Flüchtling „Behandelnder“ i.S.d. § 630a BGB gewesen sei. Schließlich sei die Tätigkeit ehrenamtlich gewesen, weil sie im öffentlichen Interesse ausgeübt worden und einer Krisensituation geschuldet gewesen sei.
Auch in der Revision unterlag das Land Hessen. Das BSG hat die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts zurückgewiesen.
Maßstab für die Abgrenzung zwischen unselbstständiger und selbstständiger Tätigkeit i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB IV seien Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Das BSG hat dies dahin gehend konkretisiert, dass eine abhängige Beschäftigung dann vorliege, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig sei. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb sei dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliege. Diese Weisungsgebundenheit könne – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein. Demgegenüber sei, so das BSG, eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmensrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Die Abgrenzung erfolge nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nach dem Gesamtbild und hänge davon ab, welche Merkmale überwiegen.
Dabei betont das BSG, dass die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV genannten Anhaltspunkte der Weisungsgebundenheit und der Eingliederung weder in einem Rangverhältnis zueinander stehen noch immer kumulativ vorliegen müssen.
Das BSG betont in seiner Entscheidung, dass diese Abgrenzung nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder möglich sei und dass ein und derselbe Beruf – je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen der gelebten Praxis – entweder als Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt werden könne. Dies gelte ausdrücklich auch für die ärztliche Tätigkeit in Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge.
Keine rechtliche Bedeutung habe, dass die Erstaufnahmeeinrichtung keinen medizinischen Versorgungsauftrag im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens habe, denn das Land habe tatsächlich eine entsprechende Infrastruktur zur Bereitstellung von ärztlichen Leistungen geschaffen. Zudem sei das Land gesetzlich hierzu verpflichtet gewesen (etwa durch § 62 AsylG).
Eine deutliche Absage erteilte das BSG der Argumentation des Landes Hessen, trotz der Vergütung von 50 Euro, später 75 Euro pro Stunde handle es sich um eine ehrenamtliche Tätigkeit.
Das BSG verweist zudem auf seine ständige Rechtsprechung, wonach bei der Übernahme von Einzeltätigkeiten, ohne dass es sich um Abrufarbeit handle, die Frage der Versicherungspflicht allein nach den Verhältnissen zu beurteilen sei, die während der Ausführung der jeweiligen Einzelaufträge bestehen.
Die Frage der Weisungsgebundenheit des Arztes konnte das Gericht offenlassen, weil er zumindest in den Betrieb der Erstaufnahmeeinrichtung eingegliedert gewesen sei. Dies ergebe sich sowohl aus den vertraglichen Vereinbarungen als auch der gelebten Wirklichkeit. Der Arzt habe in arbeitsteiligem Zusammenwirken mit deren Personal und unter Rückgriff auf die Betriebsmittel der Erstaufnahmeeinrichtung gewirkt; die Patienten seien – was nach der Rechtsprechung des BSG Indizwirkung habe – nicht von ihm ausgesucht worden. Sämtliche Arbeitsmittel von Räumen über Gerätschaften bis zu Verbrauchsmaterialien seien ihm gestellt worden. Auch die Abrechnung erfolgte nicht im Verhältnis ihm gegenüber.
Maßgeblich sei auch, dass der Arzt keinen unternehmerischen Einfluss habe nehmen können. Einem nennenswerten Unternehmerrisiko sei der Arzt nicht ausgesetzt gewesen, er habe keine Vorhaltekosten tragen müssen, habe keinen Verdienstausfall zu befürchten und einen festen Lohn für geleistete Einsatzstunden erhalten. Auch für die bereitgestellten Betriebsmittel habe er kein Nutzungsentgelt entrichten müssen. Auch habe für ihn keine Chance bestanden, durch unternehmerisches Geschick seine Arbeit so effizient zu gestalten, dass er das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu seinen Gunsten entscheidend hätte beeinflussen können.
Es komme mithin auch nicht darauf an, ob und mit wem ein Behandlungsvertrag gemäß § 630a BGB bestehe.


C.
Kontext der Entscheidung
Auch wenn das BSG deutlich gemacht hat, dass seine Entscheidungen zur (Schein-)Selbstständigkeit immer nur für den Einzelfall gelten und sogar bei der hier gegenständigen ärztlichen Tätigkeit in Erstaufnahmeeinrichtungen abweichen könnten, besteht doch fast kein Raum mehr für die selbstständige ärztliche Tätigkeit in von Dritten bereitgestellten ärztlichen Einrichtungen.
Das BSG wiederholt seine ständige Rechtsprechung zu den Kriterien der Eingliederung einer Person in betriebliche Abläufe (vgl. etwa BSG, Urt. v. 07.06.2019 - B 12 R 6/18 R; BSG, Urt. v. 28.06.2022 - B 12 R 3/20 R; zuletzt für die Ärzte in der SAPV unter Zugrundelegung dieser Kriterien etwa LSG Stuttgart, Urt. v. 26.03.2024 - L 11 BA 1883/21), die hier klar vorlagen. Zu Recht weist das Gericht daher darauf hin, dass auch von Anwälten gern genutzte Klauseln, wonach eine Zusammenarbeit nicht sozialversicherungspflichtig sein soll, ohne Bedeutung sind.
Eher abseitig erscheint die Argumentation des klagenden Landes, eine Vergütung von 50 Euro bzw. 75 Euro pro Stunde sei noch als Ausübung eines Ehrenamtes anzusehen – das BSG ist diesem Ansinnen dann auch nicht gefolgt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Trotz Gelegenheit zu einem obiter dictum hat das BSG keine Ausführungen zur Bedeutung des Vertragspartners des Patienten gemacht.
Begrüßenswert ist die Klarstellung, dass es bei der Frage der sozialversicherungspflichtigen Anstellung eines Arztes nicht darauf ankomme, welche Funktion die Einrichtung im System der öffentlichen Gesundheitsvorsorge (oder etwa des Sozialrechts) habe – solange eben dort ärztliche Tätigkeiten wahrgenommen würden.



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