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Anmerkung zu:OVG Koblenz 8. Senat, Beschluss vom 10.09.2024 - 8 B 10731/24.OVG
Autor:Boris Wolnicki, Vors. RiOVG
Erscheinungsdatum:08.04.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 80a VwGO, § 80 VwGO, § 122 VwGO, § 34 BBauG, § 15 BauNVO, § 146 VwGO
Fundstelle:jurisPR-ÖffBauR 4/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Johannes Handschumacher, RA und FA für Bau- und Architektenrecht
Zitiervorschlag:Wolnicki, jurisPR-ÖffBauR 4/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme beim Maß der baulichen Nutzung



Leitsätze

1. Die gerichtliche Überprüfung eines Bebauungsplans ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler beschränkt. Im Falle der angenommenen Unwirksamkeit ist der Bebauungsplan für das weitere Eilrechtsschutzverfahren außer Betracht zu lassen.
2. An einen Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO in Gestalt des Umschlagens von Quantität in Qualität sind hohe Anforderungen zu stellen; der Widerspruch der hinzukommenden Bebauung zur Umgebungsbebauung muss sich bei objektiver Betrachtungsweise aufdrängen. Aus der bloßen Anzahl an Wohneinheiten, die ein Gebäude umfassen soll, kann für sich genommen regelmäßig noch nicht auf eine signifikante Abweichung von der Umgebungsbebauung geschlossen werden.
3. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO stellt nicht auf das Maß der baulichen Nutzung ab. Dieser Gesichtspunkt ist Regelungsgegenstand des § 34 Abs. 1 BauGB. Ein Angriff auf das Maß der baulichen Nutzung bleibt dem Nachbarn daher auch unter Heranziehung des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO verwehrt. Insoweit kann er allein die Beachtung des Rücksichtnahmegebots, also die Verhinderung einer erdrückenden oder einmauernden Wirkung, beanspruchen.



A.
Problemstellung
Kann sich der Nachbar, typischerweise Eigentümer eines Einfamilienhauses, gegen die Errichtung eines massiven Mehrfamilienhauses wenden, das ihm gleichsam vor die Nase gesetzt wird? Die Fallkonstellation macht, auch und gerade vor dem Hintergrund eines gewachsenen Siedlungsdrucks in den Ballungsräumen, einen erheblichen Anteil der Eilrechtsschutzanträge am Aufkommen in den Baukammern bzw. -senaten aus. Der zu besprechenden Beschwerdeentscheidung des OVG Koblenz kommt das Verdienst zu, den aktuellen Stand der Rechtsprechung – in Zusammenschau mit der lesenswerten, instruktiv abgefassten Ausgangsentscheidung des VG Mainz (Beschl. v. 21.06.2024 - 3 L 244/24.MZ) – zu dieser Fallkonstellation in greifbarer Kürze wiederzugeben. Nebenbei macht sie die Tücken des Beschwerderechts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – Stichwort: mehrere selbstständig tragende Gründe – deutlich. Außerdem stellt sie einen anschaulichen Beispielsfall für die Frage dar, nach welchen Maßstäben die Inzidentprüfung eines Bebauungsplans im Rahmen des Eilverfahrens nach den §§ 80, 80a VwGO vorzunehmen ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Die zugrunde liegende – geradezu klassische – Fallkonstellation lässt sich der Ausgangsentscheidung des VG Mainz wie folgt entnehmen: Der Antragsteller wendet sich gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit zehn Wohneinheiten und acht Stellplätzen für Kraftfahrzeuge. Bei dem Mehrfamilienhaus, das den nach der Landesbauordnung (§ 8 LBO RP) geforderten Abstand zum Antragstellergrundstück einhält, handelt es sich um ein dreigeschossiges Gebäude einschließlich eines Staffelgeschosses mit einer Gesamthöhe von 9,51 m. Das Antragstellergrundstück ist mit einem ein- oder 1½-geschossigen Wohngebäude bebaut, das eine Höhe von 7,93 m aufweist. Vorhabengrundstück und Antragstellergrundstück liegen im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der für den hier interessierenden Bereich ein reines Wohngebiet ausweist; der – undatierten – Ausfertigung des Bebauungsplans lässt sich nicht entnehmen, ob diese vor oder nach der Bekanntmachung des Bebauungsplans vorgenommen worden ist (VG Mainz, Beschl. v. 21.06.2024 - 3 L 244/24.MZ Rn. 1, 5, 7 u. 19).
Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag nach den §§ 80a, § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt und zur Begründung – hier in aller Kürze wiedergegeben – ausgeführt (VG Mainz, Beschl. v. 21.06.2024 - 3 L 244/24.MZ Rn. 4 ff.): Die Baugenehmigung verletze aller Voraussicht nach keine Rechte des Antragstellers als Grundstücksnachbar. Die Baugenehmigung sei nicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bebauungsplan zu prüfen, weil dieser mangels ordnungsgemäßer Ausfertigung unwirksam sei; abrundend sei auszuführen, dass auch bei einer Heranziehung des Bebauungsplans der Eilantrag keinen Erfolg hätte, weil ihm nicht zu entnehmen sei, dass dessen Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche nachbarschützende Wirkung zukommen solle. Das Vorhaben sei danach an § 34 BauGB zu messen. Hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung sei eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs zu verneinen; die mit dem Vorhaben verbundene höhere Anzahl von Wohnungen in dem bislang durch Ein- und Zweifamilienhäuser charakterisierten Teil des Wohngebiets sei nicht zu beanstanden, das BauGB und die BauNVO kennten keine Unterscheidung zwischen Wohnen in Einfamilienhäusern und Mehrfamilienhäusern, und ein Umschlagen von Quantität in Qualität sei nicht gegeben. Eine Verletzung von Vorschriften über das Maß der baulichen Nutzung – hier hinsichtlich der Ausmaße des Mehrfamilienhauses und der überbaubaren Grundstücksfläche – könne der Antragsteller nicht geltend machen, weil dies keinen dem Nachbarschutz dienenden Belang betreffe. Das dem Beigeladenen genehmigte Wohnbauvorhaben erweise sich dem Antragsteller gegenüber auch nicht als rücksichtslos. Das Vorhaben erzeuge hinsichtlich seiner Ausmaße weder eine erdrückende Wirkung noch einen den Antragsteller unzumutbar treffenden Abriegelungseffekt, ein Schutz vor Einsichtnahmemöglichkeiten durch die zahlreichen Fenster und Terrassen des Bauvorhabens verfange nicht und die Baugenehmigung verstoße auch nicht hinsichtlich der von ihr erfassten acht Stellplätze und ihrer Anordnung gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
II. Das OVG Koblenz hat die hiergegen erhobene Beschwerde des Antragstellers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die Gründe der angegriffenen Entscheidung Bezug genommen und im Übrigen im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen des Antragstellers im Wesentlichen ausgeführt:
1. Soweit dieser sich gegen die Wertung des Verwaltungsgerichts wende, wonach die angefochtene Baugenehmigung nicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bebauungsplan zu überprüfen sei, könne dies der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen. Das Verwaltungsgericht habe neben der von dem Antragsteller angegriffenen Wertung nämlich zusätzlich und selbstständig tragend darauf abgestellt, dass das Eilrechtsschutzbegehren des Antragstellers selbst bei Zugrundelegung des Bebauungsplans ohne Erfolg bliebe, da dieser keine nachbarschützenden Festsetzungen enthalte, die durch das streitgegenständliche Vorhaben berührt seien. Sofern das Verwaltungsgericht seine Entscheidung wie hier auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt habe, müsse das Beschwerdevorbringen die Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO hinsichtlich jeder dieser Gründe erfüllen. Daran fehle es hier, denn mit der begründeten Annahme des Verwaltungsgerichts, der Eilrechtsschutzantrag des Antragstellers müsse selbst bei Zugrundelegung des Bebauungsplans mangels Verletzung drittschützender Festsetzungen der Erfolg versagt bleiben, setze sich das Beschwerdevorbringen nicht substanziiert auseinander. Es fehle mithin an der gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO erforderlichen Darlegung, dass die von dem Antragsteller zur Begründung seines Beschwerdevorbringens geltend gemachte Maßgeblichkeit des Bebauungsplans zu einem von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts abweichenden Ergebnis führe.
Ohne dass es hierauf noch entscheidungserheblich ankomme, verfingen die Ausführungen des Antragstellers zur Maßgeblichkeit des Bebauungsplans auch in der Sache nicht. Entscheidend sei allein, ob das Verwaltungsgericht bei der ihm obliegenden Überprüfung des Eilrechtsschutzbegehrens befugt und verpflichtet gewesen sei, die Wirksamkeit des Bebauungsplans zu überprüfen und diesen – wie geschehen – bei angenommener Unwirksamkeit außer Betracht zu lassen. Dies sei nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung zweifellos der Fall.
2. Das angegriffene Bauvorhaben verletze nicht den Gebietserhaltungsanspruch des Antragstellers. Der Gebietswahrungsanspruch umfasse zwar auch den Anspruch auf Aufrechterhaltung der typischen Prägung eines Baugebiets gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO. Ein Widerspruch zur Eigenart des Gebiets i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO liege dabei vor, wenn sich das Vorhaben wegen seines Umfangs signifikant von dem Vorhandenen abhebe. Wenn § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO bestimme, dass ein Vorhaben im Einzelfall auch unzulässig sei, wenn es wegen seines Umfangs der Eigenart eines bestimmten Baugebiets widerspreche, so gehe die Vorschrift davon aus, dass im Einzelfall Quantität in Qualität umschlagen könne, dass also der Umfang einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen könne. Da es sich bei der Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO um eine Ausnahmevorschrift handle, seien an das Vorliegen eines Widerspruchs zur Eigenart des Baugebiets strenge Anforderungen zu stellen. Der Widerspruch der hinzukommenden baulichen Anlage müsse sich daher bei objektiver Betrachtungsweise offensichtlich aufdrängen; dass das neue Vorhaben nicht in jeder Hinsicht mit der vorhandenen Bebauung „im Einklang“ stehe, genüge dafür nicht. Ausgehend von diesen Grundsätzen habe das Beschwerdevorbringen eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs nicht dargelegt. Soweit der Antragsteller im Hinblick auf ein etwaiges Umschlagen von Quantität in Qualität auf die gegenüber dem Bestand gestiegene Anzahl der geplanten Wohneinheiten verweise, könne aus der bloßen Menge an Wohneinheiten, die ein Gebäude umfassen solle, für sich genommen noch nicht auf eine signifikante Abweichung von der Umgebungsbebauung geschlossen werden. Allein die Anzahl der zukünftigen Bewohner sei für sich genommen keine geeignete Grundlage, um die baurechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens in Zweifel zu ziehen, da das Bauplanungsrecht keinen „Milieuschutz“ gewährleisten könne und solle.
Die Ausführungen des Antragstellers zur Überschreitung der in der näheren Umgebung vorhandenen Grundflächenzahl und des Volumens anderer Objekte griffen ebenfalls nicht durch. Die Ausmaße des angegriffenen Bauvorhabens seien für die Frage der Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs von vornherein unerheblich, denn § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO stelle nicht auf das Maß der baulichen Nutzung ab. Dieser Gesichtspunkt sei vielmehr Gegenstand des § 34 Abs. 1 BauGB und daher für die Frage eines etwaigen Widerspruchs gegen die Eigenart des Baugebiets ohne Belang. Bei der Anwendung der Figur des Umschlagens von Quantität in Qualität dürfe insoweit nämlich nicht aus dem Blick geraten, dass der Baunachbar im einem faktischen Baugebiet entsprechenden unbeplanten Innenbereich kraft seines Gebietserhaltungsanspruchs allein die Wahrung der Nutzungsart der näheren Umgebung beanspruchen könne. Dementsprechend schütze § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO die von dem Bauvorhaben betroffenen Grundstückseigentümer lediglich davor, dass durch den Umfang der in dem jeweiligen Gebiet an sich zulässigen Nutzungsart der Gebietscharakter im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung ausnahmsweise eine Änderung erfahre. Ein Angriff auf das Maß der baulichen Nutzung bleibe dem Baunachbarn hingegen auch unter Heranziehung des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO verwehrt. Insoweit könne er allein die Beachtung des Rücksichtnahmegebots beanspruchen.
3. Das Vorhaben des Beigeladenen verletze auch nicht das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme. Das Gebot der Rücksichtnahme sei aus tatsächlichen Gründen im Regelfall nicht verletzt, wenn das Bauvorhaben die landesrechtlichen Abstandsvorschriften wahre. Aus den Bauantragsunterlagen gehe hervor, dass das Vorhaben in Richtung des Grundstücks des Antragstellers unter Beachtung der erforderlichen Abstandsflächen errichtet werden solle; Entgegenstehendes sei weder dargetan noch sonst ersichtlich. Zwar seien auch nach der ständigen Rechtsprechung des Senats Fallgestaltungen möglich, bei denen trotz Beachtung des Abstandsflächenrechts eine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens gegenüber benachbarten Grundstücken bestehen könne. Hierbei handle es sich jedoch um seltene Ausnahmefälle. So könne eine Bebauung wegen ihrer optisch bedrängenden Wirkung auf Nachbargebäude gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn die baulichen Dimensionen des „erdrückenden“ Gebäudes derart übermächtig seien, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch überwiegend wie eine von einem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen werde oder das Bauvorhaben das Nachbargrundstück regelrecht abriegele, d.h. dort ein Gefühl des Eingemauertseins oder einer Gefängnishofsituation hervorrufe. Dass diese Voraussetzungen hier vorlägen, zeige das Beschwerdevorbringen jedoch nicht auf (wird ausgeführt, Rn. 21 ff.).
Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots folge schließlich auch nicht aus der Genehmigung von insgesamt 8 Stellplätzen bzw. dem durch das Vorhaben hervorgerufenen An- und Abfahrtsverkehr (wird ausgeführt, Rn. 24 ff.). Die von der Frage der reinen Stellplatznutzung zu differenzierende Fragestellung nach einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots infolge des durch das Vorhaben ausgelösten allgemeinen An- und Abfahrtsverkehrs sei zulasten des Antragstellers ebenfalls zu verneinen (wird ausgeführt, Rn. 27).


C.
Kontext der Entscheidung
I. 1. Soweit es zunächst die Relevanz des vorliegend aufgestellten Bebauungsplans für die bauplanungsrechtlichen Grundlagen betrifft, macht das OVG Koblenz auf eine Tücke des Beschwerderechts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 146 Abs. 4 VwGO aufmerksam, die alles andere als neu ist, aber in allerhand Wendungen verkleidet für den Beschwerdeführer immer wieder zur Stolperfalle wird: Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass die Baugenehmigung für das Wohnbauvorhaben nicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bebauungsplan zu prüfen sei, weil dieser mangels ordnungsgemäßer Ausfertigung unwirksam sei (VG Mainz, Beschl. v. 21.06.2024 - 3 L 244/24.MZ Rn. 4). Aber auch im Falle der Wirksamkeit des Bebauungsplans – so hat es das Verwaltungsgericht „abrundend“ ausgeführt (VG Mainz, Beschl. v. 21.06.2024 - 3 L 244/24.MZ Rn. 7) – ergebe sich hinsichtlich dessen Festsetzungen des reinen Wohngebiets, der Eingeschossigkeit der Bebauung und von Baufenstern keine Verletzung von Rechten des antragstellenden Grundstücksnachbarn; weder die Begründung des Bebauungsplans noch die Aufstellungsunterlagen böten Anhaltspunkte dafür, dass den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche – und sei es nur angesichts der besonderen Gebietsausgestaltung (Hinweis auf die Wannsee-Entscheidung des BVerwG, Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7/17 Rn. 20 f.) – nachbarschützende Wirkung zukommen solle. Auch bei Heranziehung des Bebauungsplans würde daher der Eilantrag des Antragstellers keinen Erfolg haben. Diese „abrundenden“ Ausführungen des Verwaltungsgerichts stellen nicht mehr und nicht weniger als einen selbstständig tragenden Entscheidungsgrund dar. Denn nun kann man sich die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans aufgrund der fehlerhaften Ausfertigung wegdenken, ohne dass sich am Ausgang des Verfahrens etwas ändern würde. Die in § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO enthaltenen Darlegungsanforderungen verlangen indessen nicht nur eine Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung, sondern auch die Darlegung von Gründen, „aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist“. Hat also das Verwaltungsgericht seine Entscheidung (kumulativ) auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt, kann die Beschwerde nur Erfolg haben, wenn hinsichtlich jeder der tragenden Begründungen den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechend Gründe dargelegt werden, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 06.04.2021 - OVG 10 S 3/21 Rn. 27; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.03.2019 - OVG 10 S 14.19 Rn. 3; VGH München, Beschl. v. 07.05.2020 - 10 CS 20.842 Rn. 4; OVG Bautzen, Beschl. v. 28.08.2017 - 4 B 214/16 Ls. 2 u. Rn. 9). Daran hat es vorliegend gemangelt: Mit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Eilrechtsschutzantrag des Antragstellers müsse selbst bei Zugrundelegung des Bebauungsplans mangels Verletzung drittschützender Festsetzungen der Erfolg versagt bleiben, hat sich das Beschwerdevorbringen nicht substanziiert auseinandergesetzt; mithin hat es an der gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO erforderlichen Darlegung gefehlt, dass die von dem Antragsteller zur Begründung seines Beschwerdevorbringens geltend gemachte Maßgeblichkeit des Bebauungsplans zu einem von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts abweichenden Ergebnis geführt hätte.
2. Klarstellend, dass es nach dem Vorgesagten darauf nicht mehr entscheidungserheblich angekommen ist, hat das OVG Koblenz – und darin liegt der zweite erwähnenswerte prozessuale Aspekt seiner Entscheidung – noch einen Hinweis auf den anzulegenden Maßstab für die Inzidentkontrolle eines Bebauungsplans im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegeben: Das VG sei bei der ihm obliegenden Überprüfung des Eilrechtsschutzbegehrens befugt und verpflichtet gewesen, die Wirksamkeit des Bebauungsplans zu überprüfen und diesen außer Betracht zu lassen. Dazu hat es unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung in seinem Leitsatz 1 klargestellt, dass die gerichtliche Überprüfung in solchen Fällen auf das Vorliegen offensichtlicher Fehler beschränkt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 09.01.2024 - 1 CS 23.2032 Rn. 12; OVG Münster, Beschl. v. 13.07.2023 - 7 B 503/23 Rn. 5 f., jeweils m.w.N.). Die vorliegende Konstellation stellt einen geradezu schulmäßigen Anwendungsfall für einen solchen offensichtlichen Fehler dar: Die – undatierte – Ausfertigung des vorliegenden Bebauungsplans ließ nicht erkennen, ob die Ausfertigung vor oder nach der Bekanntgabe vorgenommen worden war, was die Unwirksamkeit der Ausfertigung nach sich zog (vgl. zum Erfordernis der Datierung der Ausfertigung OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.11.2022 - OVG 10 S 34/22 Rn. 28). Anzumerken ist freilich, dass die Offensichtlichkeitsprüfung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nicht nur auf formale Mängel des Bebauungsplans beschränkt sein muss, sondern durchaus auch etwa Fragen der Abwägung betreffen kann (vgl. etwa OVG Schleswig, Beschl. v. 26.05.2023 - 1 MB 13/22 Rn. 37 ff., 43).
II. 1. In der Sache hat das OVG Koblenz im Ergebnis eine Verletzung des Gebietsgewährleistungsanspruchs zum Nachteil des Antragstellers zutreffend abgelehnt. Die Reichweite des Gebietsgewährleistungsanspruchs kann als geklärt gelten und hat dem Antragsteller hier nicht helfen können: Die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan hat nachbarschützende Funktion zugunsten der Grundstückseigentümer im jeweiligen Gebiet. Jeder Planbetroffene im Baugebiet soll das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28/91 Rn. 12; BVerwG, Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13/94 Rn. 49 ff.). Ein identischer Nachbarschutz gilt im faktischen Baugebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28/91 Rn. 13). Kraft des Gebietsgewährleistungsanspruchs kann ein Grundstückseigentümer nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung folgende Vorhaben abwehren: (1) Vorhaben, die nach der Art der baulichen Nutzung weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig sind, (2) Vorhaben, die nicht gebietsverträglich sind, und (3) ausnahmsweise zulässige Vorhaben, deren Zulassung das Regel-Ausnahme-Verhältnis beseitigt (vgl. zum Ganzen Külpmann, jurisPR-BVerwG 17/2022 Anm. 1). Dass ein Mehrfamilienhaus nach der Zweckbestimmung eines Wohngebiets (generell) nicht gebietsverträglich wäre, weil es aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirken würde (vgl. zu diesen Kriterien BVerwG, Urt. v. 21.03.2002 - 4 C 1/02 Rn. 11; BVerwG, Urt. v. 13.05.2002 - 4 B 86/01 Rn. 9, 11; BVerwG, Urt. v. 29.03.2022 - 4 C 6/20 Rn. 13; zur Gebietsverträglichkeit im vorgenannten Sinne erhellend auch Ramsauer, JuS 2020, 385, 389: keine neue Rechtsfigur des Nachbarschutzes, und OVG Bautzen, Beschl. v. 08.06.2020 - 1 B 78/20 Rn. 11: dem § 15 Abs. 1 BauNVO vorgelagert), kann nicht ernsthaft angenommen werden. Mehr gibt der Gebietsgewährleistungsanspruch freilich nicht her.
Ob ein darüber hinausgehender, aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO (hier i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB) hergeleiteter Anspruch auf Aufrechterhaltung der typischen Prägung eines Baugebiets anerkannt werden kann, ist schon im Ansatz lebhaft umstritten (zum Streitstand insoweit VGH München, Beschl. v. 15.10.2019 - 15 ZB 19.1221 Rn. 9 m. umfass. Nachw.). Denn § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist nach allgemeiner Auffassung nur auf Umstände anwendbar, die sich auf die Art der Nutzung beziehen, nicht jedoch auf Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.06.2017 - OVG 10 B 10.15 Rn. 47). Deswegen können über einen solchen Anspruch die grundsätzlich nicht nachbarschützenden Regelungen bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche – mit den trefflich formulierten Worten des OVG Bautzen – nicht quasi „durch die Hintertür“ mittels § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO in die nachbarschützende Art der baulichen Nutzung hineingelesen werden (OVG Bautzen, Beschl. v. 08.06.2020 - 1 B 78/20 Rn. 10). Im Ergebnis zutreffend hat das OVG Koblenz denn auch entschieden, dass der Antragsteller hier aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO (i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB) für sich nichts herleiten kann, und dabei auf den – hier wohl auch vom Antragsteller und Beschwerdeführer bemühten – Topos des Umschlagens von Quantität in Qualität, den das BVerwG 1995 geprägt hat, zurückgegriffen: Wenn § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO bestimmt, dass ein Vorhaben im Einzelfall auch unzulässig ist, wenn es wegen seines Umfangs der Eigenart eines bestimmten Baugebiets widerspricht, so geht die Vorschrift davon aus, dass im Einzelfall Quantität in Qualität umschlagen kann, dass also der Umfang einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.03.1995 - 4 C 3/94 Rn. 17). Ein solches – nur in Ausnahmefällen anzuerkennendes – Umschlagen von Quantität in Qualität hat das OVG Koblenz hier überzeugend verneint: Aus der bloßen Menge an Wohneinheiten, die ein Gebäude umfassen solle, könne für sich genommen noch nicht auf eine signifikante Abweichung von der Umgebungsbebauung geschlossen werden; allein die Anzahl der zukünftigen Bewohner sei für sich genommen keine geeignete Grundlage, um die baurechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens in Zweifel zu ziehen, da das Bauplanungsrecht keinen „Milieuschutz“ gewährleisten könne und solle (zum letztgenannten Aspekt vgl. BVerwG, Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13/94 Rn. 72). Ein aus dem Leben gegriffenes Argument für diese Betrachtungsweise liefert auch die Ausgangsentscheidung des VG Mainz: Die Zahl der Bewohner eines Wohngebäudes hänge maßgeblich auch von deren jeweiligen Familienverhältnissen ab und wandle sich beständig; so könne in einem Einfamilienhaus bzw. einer Wohnung z.B. entweder eine alleinstehende Person oder eine Familie mit zahlreichen Kindern wohnen (VG Mainz, Beschl. v. 21.06.2024 - 3 L 244/24.MZ Rn. 10). Es bleibt also dabei, egal, ob das Wohnen in einem Mehrfamilienhaus oder im Ein- oder Zweifamilienhaus stattfindet: Wohnen ist Wohnen.
Abschließend hat das OVG Koblenz festgestellt, dass auch die Ausführungen des Antragstellers zu einer Überschreitung der Ausmaße des angegriffenen Vorhabens im Hinblick auf Grundflächenzahl und Volumen nicht zum Erfolg der Beschwerde führen; dem Baunachbarn bleibe ein Angriff auf das Maß der baulichen Nutzung auch unter Heranziehung des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO verwehrt. Insoweit könne er allein die Beachtung des Rücksichtnahmegebots, also die Verhinderung einer erdrückenden oder einmauernden Wirkung, beanspruchen. Auch dies ist nach wie vor Stand der Dinge in der Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.06.1995 - 4 B 52/95 Rn. 3 f.; BVerwG, Beschl. v. 19.10.1995 - 4 B 215/95 Rn. 3; BVerwG, Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7/17 Rn. 13).
2. Auch das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme führt in Fällen wie dem vorliegenden nur sehr selten zum Erfolg. Es ist ein situationsbezogenes, auf Zumutbarkeitserwägungen gestütztes Korrektiv zu den typisierenden Zulässigkeitsmaßstäben (Petz, ZfBR 2015, 644), das nur im Ausnahmefall greift. Es ist im Regelfall aus tatsächlichen Gründen nicht verletzt, wenn das Bauvorhaben die landesrechtlichen Abstandsvorschriften wahrt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.11.1984 - 4 B 244/84 Ls. 1 und Rn. 4; BVerwG, Beschl. v. 27.03.2018 - 4 B 50/17 Rn. 4). Hierauf hat im vorliegenden Fall auch das OVG Koblenz abgestellt. Eine in vergleichbaren Fällen diskutierte „erdrückende Wirkung“ bzw. einen „Einmauerungseffekt“ des Bauvorhabens auf das Grundstück des Antragstellers hat es unter Würdigung der Einzelfallumstände – insbesondere nur unwesentlicher Höhenunterschied der Gebäude von 2,91 m, Freibleiben des Antragstellergrundstücks von grenznaher Bebauung in nördlicher, östlicher und westlicher Richtung – abgelehnt. Dies entspricht der gängigen Argumentation in der obergerichtlichen Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.06.2023 - OVG 10 S 17/23 Rn. 13; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.07.2024 - OVG 10 S 18/24 Rn. 39, jeweils m.w.N.). Zu dem zweiten, in derlei Fällen typischerweise diskutierten Gesichtspunkt der „unzumutbaren Einsichtsmöglichkeiten“ hatte bereits das VG Mainz in seiner Ausgangsentscheidung darauf hingewiesen, dass weder das Bauplanungsrecht im Allgemeinen noch das Gebot der Rücksichtnahme im Speziellen einen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken in bebauten Ortslagen vermittle (VG Mainz, Beschl. v. 21.06.2024 - 3 L 244/24.MZ Rn. 20). Auch das entspricht der Argumentation in der obergerichtlichen Rechtsprechung; danach sind verstärkte Einsichtsmöglichkeiten in bebauten innerstädtischen Wohngebieten grundsätzlich hinzunehmen (vgl. etwa OVG Bautzen, Beschl. v. 25.07.2016 - 1 B 91/16 Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.12.2020 - OVG 10 S 65/20 Rn. 16; OVG Bremen, Beschl. v. 11.10.2023 - 1 B 104/23 Rn. 20).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Der Fall bietet – neben hilfreichen Hinweisen zu den Darlegungsanforderungen der Beschwerde nach § 146 Abs. 4 VwGO bei mehreren selbstständig tragenden Gründen und zu den Maßstäben der Inzidentkontrolle eines Bebauungsplans im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – eine schulmäßige Behandlung der sich stellenden Fragen, wenn sich der Nachbar im faktischen reinen oder allgemeinen Wohngebiet gegen die Errichtung eines (in der Regel massiven) Mehrfamilienhauses wendet. Die Entscheidung des OVG Koblenz kann insoweit Orientierung bieten. Schlagwortartig zusammengefasst folgt aus ihr: Wohnen ist Wohnen, Regelungen über das Maß der baulichen Nutzung sind nicht drittschützend, und das Gebot der Rücksichtnahme hilft, von absoluten Ausnahmefällen abgesehen, ebenfalls nicht weiter, weil bauliche Verdichtung, zumal in innerstädtischen Bereichen, grundsätzlich hinzunehmen ist. Wie dem knappen Hinweis des VG Mainz in seiner kumulativen Begründung für den Fall der Wirksamkeit des Bebauungsplans zu entnehmen ist, können die Dinge natürlich anders liegen, wenn den fraglichen Maßfestsetzungen des Bebauungsplans nach dem Willen des Plangebers nachbarschützende Wirkung zukommen soll.



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