Auch eine mehrmonatige Freiheitsstrafe kann bei „Schwarzfahren“ verfassungsgemäß seinOrientierungssätze 1. Aktuelle rechtspolitische Bestrebungen über die Entkriminalisierung eines bislang strafbaren Verhaltens (hier: § 265a Abs. 1 StGB) führen nicht zur Verfassungswidrigkeit von hierauf gestützten Strafurteilen. Die Gültigkeit der Strafvorschrift und die Bindung der Justiz hieran (Art. 20 Abs. 3 GG) bleiben durch das Reformvorhaben des Gesetzgebers unberührt. 2. Wurde eine strafprozessuale Berufung - wie hier - auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt und haben die Rechtsmittelgerichte den Schuldspruch daher nicht in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überprüft, so fehlt es im Verfassungsbeschwerdeverfahren bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des angewandten Straftatbestandes an der Rechtswegerschöpfung i.S.d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. 3. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen gerechten Schuldausgleich und die Beachtung des Übermaßverbotes siehe etwa BVerfG, Urt. v. 19.03-2013 - 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 - BVerfGE 133, 168, 197 f. Rn. 54 sowie BVerfG, Beschl. v. 26.02.2008 - 2 BvR 392/07 - BVerfGE 120, 224, 254. 4. Hier: Erfolglose Verfassungsbeschwerde bzgl. einer Verurteilung wegen „Schwarzfahrens“. Eine Verletzung von Rechten i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG ist nicht dargelegt. Dies gilt u.a. auch - mit Blick auf einschlägige Vorstrafen und offene Bewährung - hinsichtlich der gegen den Beschwerdeführer verhängten und zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von vier Monaten (wird ausgeführt). - A.
Problemstellung Die Rechtsprechung tut sich teilweise schwer, bei Bagatellkriminalität (kurzzeitige) Freiheitsstrafen zu verhängen. Hintergrund sind das Schuldprinzip und das Übermaßverbot. Mit einem Fall der Verhängung einer (zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe wegen sog „Schwarzfahrens“ (§ 265a StGB) befasst sich der vorliegende Nichtannahmebeschluss des BVerfG.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Das Amtsgericht hatte den Beschwerdeführer zu einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe wegen Leistungserschleichung verurteilt [Anm. d. Verf.: Der angegriffenen Revisionsentscheidung des OLG Koblenz vom 22.01.2024 - 2 ORs 4 Ss 120/23 lässt sich entnehmen, dass das Amtsgericht eine Freiheitsstrafe von vier Monaten ohne Bewährung verhängt hatte). Seine Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil hatte der Beschwerdeführer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Am Ende wurde – nachdem auch das Revisionsverfahren erfolglos durchgeführt worden war – eine Bewährungsstrafe von vier Monaten rechtskräftig. Gegen die Entscheidungen aller Instanzen erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde. Diese wurde von der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Die Kammer führt aus, dass die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich des amtsgerichtlichen Urteils wegen prozessualer Überholung überholt sei, weil durch die Berufungsentscheidung der Rechtsfolgenausspruch abgeändert worden sei. Im Übrigen sei sie nicht hinreichend substanziiert. Die Strafvorschrift des § 265a StGB greife der Beschwerdeführer selbst nicht an und ihre Gültigkeit werde bloß dadurch, dass der Gesetzgeber eine Entkriminalisierung in Erwägung gezogen habe (Eckpunkte des BMJ zur Modernisierung des Strafgesetzbuches aus November 2023 und Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke u.a., BT-Drs. 20/2081) nicht infrage gestellt. Auch habe sich der Beschwerdeführer den Rechtsweg zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Norm durch die Rechtsmittelbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch selbst verschlossen. Die Kammer führt sodann aus, dass die Verfassungsbeschwerde auch nicht durchgreifend aufzeige, dass die viermonatige Bewährungsstrafe – auch in Ansehung des geringen Schadens – die Schuld des Beschwerdeführers übersteige und damit den Anforderungen an einen gerechten Schuldausgleich und der Beachtung des Übermaßverbots nicht mehr gerecht werde. Nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip dürfe die Strafe die Schuld des Täters nicht übersteigen. Die Strafzumessung sei aber Sache des Tatrichters und das BVerfG könne nur eingreifen, wenn sich die Strafzumessung so weit vom Gedanken eines gerechten Schuldausgleichs entfernt, dass sie sich als objektiv willkürlich erweist. Es könne nur prüfen, ob dem Schuldgrundsatz überhaupt Rechnung getragen oder ob seine Tragweite bei Auslegung und Anwendung des Strafrechts grundlegend verkannt worden sei. Vor diesem Hintergrund begegne die Anwendung des § 47 Abs. 1 StGB im vorliegenden Fall keinen Bedenken. Aus dem Gebot schuldangemessenen Strafens ergebe sich nicht, dass die Verhängung einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht komme. Hier sei die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe nachvollziehbar und damit jedenfalls nicht sachfremd oder objektiv willkürlich. Der Beschwerdeführer sei vielfach einschlägig vorverurteilt gewesen. Wegen einer einschlägigen Vorstrafe habe er bereits eine zweimonatige Freiheitsstrafe verbüßt. Zum Tatzeitpunkt habe er aufgrund einer sechs Monate zuvor rechtskräftig gewordenen Verurteilung unter Bewährung gestanden. Den Gründen der angegriffenen Entscheidungen lasse sich auch entnehmen, dass sich die Fachgerichte der Problematik des Übermaßverbotes bewusst gewesen sei. Es sei berücksichtigt worden, dass der Schaden gering, ja sogar im untersten Bereich der Bagatellkriminalität gelegen habe. Es habe – jedenfalls im Rahmen der Bewährungsentscheidung – eine umfassende Auseinandersetzung mit den sozialen und finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers stattgefunden und bei der Strafzumessung sei die sich aus seinen finanziellen Verhältnissen und seiner Betäubungsmittelabhängigkeit ergebende Zwangslage strafmildernd berücksichtigt und (anders als vom Amtsgericht) eine Bewährungsstrafe verhängt worden.
- C.
Kontext der Entscheidung Die (obergerichtliche) Rechtsprechung ist seit langer Zeit gespalten, wenn es um die Frage geht, ob eine kurzzeitige Freiheitsstrafe (also eine solche von unter sechs Monaten, vgl. § 47 StGB) bei im unteren Bereich der Bagatellkriminalität liegenden Straftaten (bei Eigentums- und Vermögensdelikten: Straftaten mit Bagatellschaden) „unerlässlich“ sein kann. Obwohl von den gleichen rechtlichen Grundsätzen ausgehend, kommen die Gerichte zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. So heißt es etwa in der Entscheidung des OLG Stuttgart vom 09.02.2006 (1 Ss 575/05 - NJW 2006, 1222): „Die Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und Tatunrecht ist bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro – ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit eines Angeklagten – unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar.“ Ähnlich hat sich auch das OLG Oldenburg in seinem Beschl. v. 28.07.2008 (Ss 266/08) geäußert (vgl. auch OLG Oldenburg, Beschl. v. 05.06.2008 - Ss 187/08 (I 96) m. Anm. Peglau, jurisPR-StrafR 14/2008 Anm. 1). Andere halten die Verhängung einer (vollstreckbaren) Freiheitsstrafe im Bereich der untersten Bagatellkriminalität zwar grundsätzlich für angängig, erheben aber Bedenken, wenn die verhängte Freiheitsstrafe höher als das gesetzliche Mindestmaß von einem Monat ist (etwa: OLG Hamm, Urt. v. 21.10.2014 - 1 RVs 82/14; ähnlich: OLG Köln, Beschl. v. 23.03.2018 - 1 RVs 54/18; anders: OLG Hamm, Beschl. v. 06.12.2022 - 5 RVs 103/22). Manche Obergerichte erheben hingegen keine grundsätzlichen Bedenken, wenn es darum geht, Taten mit Bagatellschaden bei Vorliegen entsprechender anderer Strafschärfungsgründe auch mit längeren vollstreckbaren Freiheitsstrafen zu ahnden (etwa: OLG Köln, Beschl. v. 03.11.2015 - III-1 RVs 166/15; vgl. auch: OLG Celle, Beschl. v. 18.08.2003 - 22 Ss 101/03). Auch das BVerfG vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die Verhängung einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe nicht erst ab einer bestimmten Mindestschadenshöhe in Betracht kommt (BVerfG, Beschl. v. 09.06.1994 - 2 BvR 710/94). Es hat auf die Bedeutung der Rückfälligkeit bei der Frage der Verhängung einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe schon früh hingewiesen (BVerfG, Beschl. v. 17.01.1979 - 2 BvL 12/77). Seine Rechtsprechung setzt das BVerfG mit der hier zu besprechenden Entscheidung fort. Grundsätzlich kommt auch bei Straftaten mit Schäden im unteren Bagatellbereich die Verhängung einer Freiheitsstrafe (auch oberhalb des gesetzlichen Mindestmaßes von einem Monat) in Betracht. Die Gerichte müssen allerdings erkennen lassen, dass sie den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot bei ihrer Entscheidung berücksichtigt haben und alle relevanten Gesichtspunkte in ihre Überlegung einstellen. Hierbei ist insbesondere relevant: Zugunsten: - •
niedriger objektiver Schaden (unterster Bereich der Bagatellkriminalität) - •
kritische finanzielle und soziale Verhältnisse des Täters - •
Zwangslage des Täters (hier: wegen Sucht und Armut).
Zulasten: - •
(einschlägige) Vorstrafen - •
Hafterfahrung wegen (einschlägiger) Vorverurteilung - •
Tat unter laufender Bewährung - •
Tatbegehung kurz nach letzter Vorverurteilung.
Ähnliches gilt auch etwa im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, wenn es um den Besitz geringer Drogenmengen geht (vgl. BGH, Beschl. v. 02.10.2024 - 3 StR 386/24).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Auch bei Straftaten mit bagatellhaften, im untersten Bereich liegenden Schäden ist die Verhängung einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das Gericht muss aber erkennen lassen, dass es sich des Schuldgrundsatzes und des Übermaßverbots bewusst war und im Rahmen einer besonders sorgfältigen Abwägung die Unerlässlichkeit einer (kurzzeitigen) Freiheitsstrafe i.S.v. § 47 StGB begründen.
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