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Anmerkung zu:LG Kiel 9. Große Strafkammer, Beschluss vom 01.06.2023 - 9 Qs 7/23
Autor:Dr. Andreas Grözinger, RA und FA für Strafrecht
Erscheinungsdatum:24.06.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 111e StPO, § 111b StPO, § 263 StGB, § 373 AO 1977, § 370 AO 1977, § 106 UrhG, § 108a UrhG, § 143 MarkenG, Art 14 GG
Fundstelle:jurisPR-StrafR 12/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Grözinger, jurisPR-StrafR 12/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Aufrechterhaltung des Vermögensarrestes in Strafsachen: Unverhältnismäßigkeit des Arrestes bei überlanger Verfahrensdauer



Leitsatz

Wird ein Verfahren über einen Zeitraum von drei Jahren nicht geführt, tritt das Sicherungsinteresse des Staats hinter dem Eigentumsrecht des Arrestschuldners zurück.



A.
Problemstellung
Mit dem Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.04.2017 wurde die ausdrückliche zeitliche Begrenzung aus § 111b Abs. 3 StPO a.F. zwecks Vereinfachung gestrichen. Ausweislich der Referentenbegründung soll der Schutz der Betroffenen vor nicht erforderlichen oder unverhältnismäßigen Sicherungsmaßnahmen durch die Vereinfachung nicht beeinträchtigt werden; die bisherige Rechtsprechung zur Dauer werde nicht berührt (BT-Drs. 18/9525, S. 49). Die zeitliche Begrenzung der vorläufigen Sicherungsmaßnahmen (§§ 111b und 111e StPO) ergebe sich qua Verfassung aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Jedoch divergieren die gerichtlichen Entscheidungen hinsichtlich der Frage, wann eine vorläufige Sicherstellung unverhältnismäßig wird. Da sich der Eingriff in das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG mit zunehmender Sicherungsdauer intensiviert, steigen die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit entsprechend.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Mit seinem Beschluss vom 01.06.2023 (9 Qs 7/23) hebt das LG Kiel den Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 06.05.2019 (43 Gs 2253/19) über die Anordnung eines Vermögensarrests i.H.v. 765.600 Euro nach circa vier Jahren Arrestdauer auf, da sich der Vermögensarrest aufgrund der langen Verfahrensdauer als nicht mehr verhältnismäßig erweise.
Dem Vermögensarrest vorangegangen waren mehrere Steuerstrafverfahren gegen Hersteller und Nutzer von Kassensystemen. Die Kassensysteme waren mit einer Vorrichtung manipuliert, mit der ordnungsgemäß erfasste Umsätze beleglos und von dem Nutzer selbst bestimmbar wieder storniert werden konnten.
Im Rahmen der Ermittlungen gegen die Geschäftsführer des Unternehmens, über die die manipulierten Kassensysteme verkauft worden sein sollen, sei eine Kundenliste sichergestellt worden, in welcher die Beschwerdeführerin aufgeführt sei. Eine Auswertung von Steuererklärungen der Beschwerdeführerin zur Umsatz-, Körperschafts- und Gewerbesteuer soll den dringenden Tatverdacht ergeben haben, dass der Betreiber des Restaurants und Geschäftsführer der Beschwerdeführerin in den einzelnen Veranlagungszeiträumen Umsätze der Beschwerdeführerin nicht bzw. nicht in zutreffender Höhe versteuert habe. In einer anschließenden Durchsuchung der Räumlichkeiten der Beschwerdeführerin war das Kassensystem sichergestellt worden.
Im Jahre 2019 sind Vollstreckungsmaßnahmen i.H.v. circa 50.000 Euro erlassen worden. Seit Dezember 2020 zahlte die Beschwerdeführerin 2.500 Euro monatlich auf die Arrestsumme.
Das Gericht stellt zunächst in der Begründung seiner Entscheidung fest, dass sich die zeitlichen Grenzen einer vorläufigen Sicherungsmaßnahme auch nach dem Wegfall der Fristenregelung des § 111b Abs. 3 StPO a.F. nach dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz richten. Erforderlich sei eine nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung des Sicherungsinteresses des Staates mit dem Eigentumsrecht des Arrestschuldners. Dabei seien unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls insbesondere der Grad des Tatverdachts und die Intensität und Dauer des Grundrechtseingriffs zu berücksichtigen.
Obwohl die Beschwerdeführerin nach Auffassung des Gerichts einer Steuerhinterziehung dringend verdächtig war und damit ein erhebliches Sicherungsinteresse des Staates angenommen wurde, gelangte das Gericht aufgrund der erheblichen Dauer der Maßnahme von etwa vier Jahren zum Ergebnis, dass der Vermögensarrest unverhältnismäßig war.
Die Unverhältnismäßigkeit begründet das Gericht damit, dass die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Beschwerdeführerin seit knapp vier Jahren in nicht unerheblicher Weise eingeschränkt sei. Die Kammer gehe davon aus, dass die Ratenzahlungsvereinbarung zwischen der Staatsanwaltschaft und der Beschwerdeführerin sich am pfändbaren Vermögen der Beschwerdeführerin abzüglich eines gewissen Sicherheitsabschlags orientiere, um weiteren Vollstreckungsmaßnahmen zu entgehen. Aufgrund der langen Verfahrensdauer sei eine solche das Eigentumsrecht beeinträchtigende Maßnahme nicht mehr zu rechtfertigen.
Schließlich befasst sich das Gericht mit der Frage, wem die lange Verfahrensdauer zuzurechnen sei. Nach Auffassung der Kammer sei die lange Verfahrensdauer durch eine ungenügende personelle Ausstattung der Ermittlungsbehörden und der Steuerfahndung bedingt, so dass sie überwiegend der Sphäre des Staates zuzurechnen sei. Die Kammer konnte nicht erkennen, welcher Ermittlungsaufwand aufgrund der vermeintlichen Manipulation durch den Beschuldigten diese lange Verfahrensdauer hätte rechtfertigen können, da der Staatsanwaltschaft seit September 2018 Informationen zur Funktionalität der Manipulationssoftware zur Verfügung standen und die Steuerfahndung im Juli 2022 auf wenigen Seiten die verfahrensgegenständlichen Manipulationen zusammengefasst hatte. Vielmehr zeige der Verfahrensgang, dass die Ermittlungen nach der Anordnung des Arrests jedenfalls in den letzten drei Jahren nicht ausreichend beschleunigt geführt worden seien und das Ermittlungsverfahren demnach nicht ausreichend gefördert worden sei.
Da der Staat die Durchsetzung des Sicherungsinteresses selbst in der Hand habe, wohingegen Geschädigte sich auf die Durchsetzung des Sicherungsinteresses durch den Staat verlassen müssten, sei trotz des erheblichen Sicherstellungsinteresses eine weitere Anordnung des Arrestes aufgrund der Verfahrensdauer von circa vier Jahren unverhältnismäßig.


C.
Kontext der Entscheidung
Auch nach Streichung der Befristungsregelung aus § 111b Abs. 3 StPO a.F. begrenzt der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Zulässigkeit der Sicherungsmaßnahmen bei fortlaufender Verfahrensdauer. Für die Frage der Verhältnismäßigkeit kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalls und insbesondere die Frage an, wem etwaige Verzögerungen zuzurechnen sind.
Die Maßnahme kann danach selbst dann unverhältnismäßig sein, wenn der Beschwerdeführer dringend verdächtigt ist und sich eine Einziehung folglich als überwiegend wahrscheinlich darstellt. Beruht die lange Verfahrensdauer auf fehlenden personellen Ressourcen der Ermittlungsbehörden, kann dies nicht zulasten der Betroffenen gehen.
Die Entscheidung reiht sich ein in eine Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen, die vorläufige Einziehungsmaßnahmen aufgrund der erheblichen Dauer der Maßnahme als unverhältnismäßig ansahen. Dabei spielen regelmäßig drei Gesichtspunkte eine Rolle:
(1) die Dauer des Arrestes selbst,
(2) die Länge des Zeitraumes, in dem die ordnungsgemäße Förderung des Verfahrens nicht mehr festgestellt werden kann sowie
(3) die Prognose über den Zeitraum, der anzusetzen ist, bis wieder mit der Förderung des Verfahrens gerechnet werden kann.
Die Dauer des Arrestes als erster Bezugspunkt bewegt sich in den Entscheidungen zwischen knapp eineinhalb und fünf Jahren, wobei eine klare Konzentration im Bereich von zwei bis drei Jahren erkennbar ist. Der Zeitraum, in dem eine ordnungsgemäße Förderung bzw. Betreibung des Verfahrens nicht mehr festgestellt werden kann, bewegt sich in einem Bereich von sieben Monaten bis drei Jahren. Die Zeiträume, die anzusetzen sind, bis wieder mit der Förderung des Verfahrens gerechnet werden kann, bewegen sich zwischen sechs und 22 Monaten, soweit sie konkret benannt werden. Ein Großteil der Urteile stellt zudem schlicht auf die nicht mögliche Prognostizierbarkeit ab.
So entschied das OLG Frankfurt mit Beschluss vom 15.02.2022 (3 Ws 34/22) in einem Verfahren mit dem Vorwurf des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie der Steuerhinterziehung, dass ein seit zwei Jahren und acht Monate existierender Vermögensarrest aufgrund einer fehlenden Verfahrensförderung über einen Zeitraum von 14 Monaten aufzuheben sei.
Das OLG Nürnberg stellte mit Beschluss vom 31.08.2021 (Ws 718/21) die Unverhältnismäßigkeit des Arrestes in das Vermögen eines Angeklagten i.H.v. 2.974.557,27 Euro fest, der wegen vorsätzlichen Inverkehrbringens von bedenklichen Arzneimitteln in fünf tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Der Vermögensarrest dauerte mehr als drei Jahre an, wobei das Verfahren seit mehr als 16 Monaten nicht mehr betrieben wurde und eine Terminierung und damit ein Abschluss des Verfahrens nicht absehbar war.
Für das OLG Celle genügt ausweislich des Beschlusses vom 20.04.2015 (1 Ws 426/14) bereits eine Verfahrensverzögerung von sieben Monaten, um eine Unverhältnismäßigkeit anzunehmen.
Das OLG Köln entschied mit Beschluss vom 02.09.2013 (III-2 Ws 311/13), dass mehrere Arrestbeschlüsse in das Vermögen der betroffenen Angeschuldigten und in das Vermögen einer GmbH i.H.v. 4.215.000 Euro aufgrund einer Verfahrensverzögerung von über neun Monaten aufzuheben seien. Es prognostizierte, dass mit einer Förderung des Verfahrens weder im Jahre 2013 noch im Jahre 2014 zu rechnen sei und eine Förderung des Verfahrens durch eine Verbindung des Verfahrens mit einem weiteren Verfahren ungewiss sei. Die früheste Arrestanordnung bestand zum Entscheidungszeitpunkt circa 2,5 Jahre.
In einer weiteren Entscheidung hob das OLG Köln trotz rechtskräftiger Verurteilung des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 26.11.2018 (III-2 Ws 685/18, 2 Ws 685/18) einen dinglichen Arrest nach über vier Jahren auf, da die Verfahrensverzögerung dem Staat zuzurechnen sei. Das Verfahren wurde wegen des Verdachts des schweren Bandendiebstahls geführt.
Obwohl die Anklage wegen Nichtabführen von Sozialversicherungsbeiträgen alsbald erhoben werden sollte, hielt das OLG Frankfurt mit seinem Beschluss vom 14.06.2018 (3 Ws 425/17) eine seit drei Jahren und einem Monat bestehende Arrestanordnung für unverhältnismäßig, insbesondere weil das Verfahren seit zwei Jahren nicht ausreichend gefördert wurde und auch bei Anklageerhebung der Beginn des Hauptverfahrens nicht absehbar sei.
Auch Verfahrensverzögerungen nach Anklageerhebung können eine Unverhältnismäßigkeit der Arrestanordnung zur Folge haben. So stellte das OLG Rostock in einem Steuerstrafverfahren mit seinem Beschluss vom 07.06.2018 (20 Ws 42/18) heraus, dass der dingliche Arrest i.H.v. 22.427.626,60 Euro trotz erheblichem Verdachtsgrad aufgrund einer Fortdauer des Arrestes von 3,5 Jahren aufzuheben sei. Zwar sei es im Rahmen der Ermittlungen zu keiner Verfahrensverzögerung gekommen, jedoch seien seit Anklageerhebung bereits drei Jahre verstrichen, ohne dass abzusehen sei, wann mit einer Eröffnung des Hauptverfahrens zu rechnen sei.
Auch das Brandenburgische OLG entschied mit Beschluss vom 16.12.2016 (1 Ws 165/16) in einem Verfahren, bei dem es unter anderem um den Tatvorwurf des banden- und gewerbsmäßigen Betruges (§ 263 Abs. 5 StGB) und des gewerbsmäßigen, gewaltsamen und bandenmäßigen Schmuggels (§ 373 AO) in der Variante der bandenmäßigen fortgesetzten Hinterziehung von Einfuhrabgaben und des bandenmäßigen fortgesetzten Bannbruchs (§ 373 Abs. 2 Nr. 3 AO, hier auch i.V.m. den §§ 373 Abs. 3, 370 Abs. 6 Satz 1, Abs. 7 AO) ging, dass ein Zeitablauf von dreieinhalb Jahren nach Anklageerhebung bzw. zwei Jahren und zwei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens der Sphäre des Staates zuzurechnen sei.
Das OLG Koblenz stellte mit Beschluss vom 15.01.2014 (2 Ws 609/13) die Unverhältnismäßigkeit eines dinglichen Arrests i.H.v. 130.791,18 Euro aufgrund eines nahezu zweijährigen Stillstands des Hauptsacheverfahrens fest. Der Vorwurf bezog sich auf die gewerbsmäßige unerlaubte Verwertung urheberrechtlich geschützter Werke (§§ 106, 108a UrhG) und gewerbsmäßige strafbare Kennzeichenverletzung (§ 143 Abs. 1, Abs. 2 MarkenG).
Mit Beschluss vom 22.04.2008 (3 Ws 372/08) beschäftigte sich das OLG Frankfurt mit Vorwürfen der Steuerhinterziehung und gewerbsmäßigen Betruges. Da die Arrestanordnung bereits knapp 1,5 Jahre bestand und mit der Hauptverhandlung neun Monate nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht begonnen wurde, stellte das Gericht die Unverhältnismäßigkeit des Arrestes fest.
Das OLG Düsseldorf stellt neben der Dauer der Arrestanordnungen auch auf die fehlende Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen durch Geschädigte in beachtlichem Umfang ab, als es mit Beschluss vom 20.02.2002 (2 Ws 375 - 377/01) die Aufhebung der Arrestbeschlüsse durch die Vorinstanz bestätigte.
Die Entscheidungen verdeutlichen, dass die Gerichte zwar unterschiedliche zeitliche Maßstäbe für die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit anwenden, sich jedoch bestimmte Zeitspannen herausbilden lassen, bei denen eine Unverhältnismäßigkeit zumindest im Raume steht. Eines haben die Entscheidungen jedoch gemein: Mit zunehmender Sicherungsdauer steigen die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und somit auch die Wahrscheinlichkeit der gerichtlichen Aufhebung der Arrestanordnung.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung verdeutlicht, dass selbst bei einem erheblichen Sicherungsinteresse des Staates die Beeinträchtigung des Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG durch fortdauernde Vermögensarreste überwiegen können und sie demnach aufzuheben sind. Betrachtet man die Rechtsprechung zu dieser Thematik, zeichnet sich ab, dass die Aufrechterhaltung eines Vermögensarrests über einen Zeitraum von vier Jahren kaum zu rechtfertigen ist.
Strafverfolgungsbehörden können sich zudem nicht pauschal damit verteidigen, dass der Verfahrensstoff komplex und demnach ursächlich für die Verfahrensverzögerung gewesen sei oder dass personelle Ressourcen für eine zügigere Bearbeitung der Sache fehlten.



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