Zur Bestimmung der Betrugsschadenshöhe bei abgerechneten „Luftleistungen“ im Kontext von Corona- „Scheinimpfungen“Leitsätze 1. Greift die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde lediglich die Eröffnung des Hauptverfahrens vor einem Gericht niederer Ordnung an, unterliegt der Eröffnungsbeschluss nicht in vollem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht, es sei denn, die Beurteilung der sachlichen Zuständigkeit des Gerichts bedingt eine umfängliche Tatverdachtsprüfung. 2. Täuscht ein kassenärztlicher Vertragsarzt bei der quartalsweisen Sammelabrechnung über das Abrechnungssystem der kassenärztlichen Vereinigung über klar abgrenzbare Honorarbestandteile ärztlicher Leistungen (hier: Abrechnung nur zum Teil erbrachter Corona-Schutzimpfungen), ist für die Höhe des Betrugsschadens nur die Summe der abgerechneten „Luftleistungen“ maßgebend. - A.
Problemstellung Die Entscheidung betrifft die Frage, in welcher Weise sich einzelne „Luftleistungen“, welche ein im Übrigen zur Abrechnung befugter Vertragsarzt im Rahmen der quartalsweisen Sammelabrechnung geltend macht und vergütet erhält, auf die Schadensbestimmung nach § 263 Abs. 1 StGB auswirken.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Dem Beschluss des OLG Karlsruhe liegt ein Sachverhalt zugrunde, in welchem die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last legte, zwischen April 2021 und Mai 2022 als kassenärztlicher Vertragsarzt 37 Corona-Schutzimpfungen im Wege der quartalsweisen kassenärztlichen Sammelrechnung über das Abrechnungssystem der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) abgerechnet, aber nicht durchgeführt zu haben. Die Schutzimpfungen wurden gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 CoronaImpfV in der vom 01.09.2021 bis zum 15.11.2021 geltenden Fassung grundsätzlich mit jeweils 20,00 Euro, ab dem 16.11.2021 mit jeweils 28,00 Euro vergütet. In Wirklichkeit habe der Angeklagte seinen „Kunden“ gegen Zahlung eines jeweiligen Entgeltes i.H.v. 50,00 Euro in bar die angebliche Durchführung der Schutzimpfung in deren Impfpass bescheinigt. In ihrer Anklageschrift ging die Staatsanwaltschaft aufgrund der jeweils quartalsweise eingereichten Abrechnungsdateien samt Sammelerklärung in Papierform von je einer entsprechenden Betrugstat pro Quartal aus (insgesamt von 5 Betrugstaten). Bei der Berechnung des Vermögensschadens der fünf angeklagten Betrugstaten legte sie das gesamte durch die KVBW quartalsweise an den Angeklagten ausgezahlte Honorar zugrunde und errechnete so einen Gesamtschadensbetrag i.H.v. 1.199.004,52 Euro. Die Staatsanwaltschaft warf dem Angeklagten überdies den Besitz kinderpornografischer Inhalte in Tateinheit mit Besitz jugendpornografischer Inhalte vor. Die Anklage erhob die Staatsanwaltschaft zum LG Karlsruhe – Große Strafkammer. Das LG hat die Anklage unter Abänderung der Konkurrenzen zugelassen, das Hauptverfahren indes in Abweichung zum Antrag der Staatsanwaltschaft vor dem Amtsgericht – Schöffengericht – eröffnet. Die Zuständigkeit des LG ergebe sich weder aus der Straferwartung (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GVG) noch aus einem besonderen Umfang oder einer besonderen Bedeutung der Sache (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG). Die Staatsanwaltschaft griff diese Entscheidung des LG mittels sofortiger Beschwerde zum OLG an. Dieses erachtete die Beschwerde der Staatsanwaltschaft als zulässig, jedoch unbegründet. Insoweit sah sich das OLG im Rahmen seine Kompetenz zur Überprüfung der Entscheidung des LG darauf beschränkt, die Bezeichnung desjenigen Gerichts, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll, nachzuvollziehen. Etwas anderes gelte nur, wenn die Überprüfung des Eröffnungsbeschlusses in vollem Umfang – also auch mit Blick auf das Bestehen hinreichenden Tatverdachts – erforderlich sei, um die Eröffnungszuständigkeit zu bestimmen. Dies betreffe lediglich Fälle, in welchen das über die Eröffnung entscheidende Gericht den zugrunde liegenden Sachverhalt in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht anders beurteile als die Anklageschrift und dies für die Bewertung der Eröffnungszuständigkeit von Bedeutung sei. Ein solcher Ausnahmefall sei vorliegend nicht gegeben. Die Strafkammer sei lediglich – so ließe sich hinzufügen – bei der für die Bestimmung des sachlich zuständigen Gerichts maßgeblichen prognostischen Einschätzung der im Verurteilungsfalle zu erwartenden Strafhöhe zu einem von der Anklage abweichenden Ergebnis gelangt. Da das OLG – ebenso wie das LG – einen besonderen Umfang des Verfahrens oder eine besondere Bedeutung des Falles (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG) verneint hat, kam es in der Sache entscheidend darauf an, ob der Angeklagte eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten hatte (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG). Hier lag der Anknüpfungspunkt für die Ausführungen des OLG zur Bestimmung der Schadenshöhe der angeklagten Betrugstaten. Das OLG errechnete diese „nur“ anhand der dem Angeklagten für die Abrechnung der tatsächlich nicht durchgeführten Schutzimpfungen durch die KVBW gezahlten Honorare, welche sich auf ein Gesamthonorar von 804,00 Euro beschränkten. Aufgrund dieser erheblichen Abweichung zu dem von der Staatsanwaltschaft angenommenen Gesamtbetrugsschaden i.H.v. 1.199.004,52 Euro nahm das OLG an, dass trotz des ebenfalls angeklagten Verbrechens des Besitzes kinderpornografischer Inhalte in Tateinheit mit dem Besitz jugendpornographischer Inhalte nicht mit einer Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von über vier Jahren zu rechnen sei.
- C.
Kontext der Entscheidung Der materiell-rechtliche Kern der Entscheidung betrifft die Frage nach der Reichweite einer Anwendung der höchstrichterlichen Grundsätze zur Schadensbestimmung beim Abrechnungsbetrug anhand der sogenannten „streng formalen Betrachtungsweise“. Hierbei wird bei der Schadensbestimmung i.S.v. § 263 Abs. 1 StGB Bezug genommen auf die streng formale Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts (zur Sonderfrage nach der Geschädigteneigenschaft Dannecker/Bülte, NZWiSt 2012, 81). Danach entsteht kein Vergütungsanspruch für die in Rede stehende ärztliche Tätigkeit, sofern die sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Insoweit besteht auch keine Verbindlichkeit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gegenüber dem abrechnenden Arzt. Der jeweiligen KV ist daher bei der Zahlung eines zu Unrecht verlangten Honorars kein Vermögenswert zugeflossen, welcher in die zur Schadensfeststellung gemäß § 263 Abs. 1 StGB durchzuführende Gesamtsaldierung einzustellen wäre. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die jeweiligen KV-Mitarbeiter irrtumsbedingt auf eine nur angeblich bestehende, tatsächliche aber lediglich vorgetäuschte Verbindlichkeit in der Fehlvorstellung zahlen, die KV werde hierdurch von einer tatsächlichen Verbindlichkeit frei. Nach dieser Rechtsprechung soll auch der Wert einer etwaig zuvor – medizinisch indizierten und lege artis – durchgeführten ärztlichen Leistung nicht gegengerechnet werden können, da diese in dem entscheidenden Zeitpunkt der Abrechnung gegenüber der KV bereits erbracht gewesen ist. Als hypothetischer Verlauf müsse bei der Schadensberechnung ebenso außer Betracht bleiben, ob durch die KV insoweit Aufwendungen einer (späteren) Behandlung durch einen anderen Arzt erspart wurden. Strafrechtlich bemakelt sei nicht die Art und Weise der Leistungserbringung, sondern lediglich deren Abrechnung unter Täuschung darüber, dass die sozialrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. In diesem Fall zahle die KV irrtumsbedingt ein nicht geschuldetes Honorar, ohne dadurch einen Gegenwert zu erhalten, was ihr Vermögen schädige. Ein Vertragsarzt, der Leistungen erbringt, ohne die sozialrechtlichen Voraussetzungen der kassenärztlichen Abrechnung zu erfüllen, handle letztlich außerhalb des vertragsärztlichen Abrechnungssystems auf eigenes wirtschaftliches Risiko (vgl. nur BGH, Urt. v. 19.08.2020 - 5 StR 558/19 - NJW 2021, 90, 94 f.; BGH, Beschl. v. 09.10.2019 - 1 StR 395/19 - NStZ-RR 2020, 110 jeweils m.w.N.; Hefendehl in: MünchKomm-StGB, 4. Aufl. 2022, § 263 Rn. 843 ff.). Das OLG arbeitet in der Entscheidung jedoch zutreffend heraus, dass einzelne Abrechnungsfehler nach der bisherigen strafrechtlichen Rechtsprechung nicht per se dazu führen, dass der Gesamtbetrag der jeweiligen Quartalsabrechnung als Betrugsschaden i.S.v. § 263 Abs. 1 StGB qualifiziert werden müsste. Dies sei lediglich bei sogenannten Qualifikationsmängeln der Fall, welche denknotwendig dazu führen, dass sämtliche Abrechnungsposten nicht abrechenbar seien. Beispiele aus der strafrechtlichen Rechtsprechung sind etwa die Abrechnung von Leistungen eines Arztes ohne Kassenzulassung über einen Strohmann (BGH, Urt. v. 19.08.2020 - 5 StR 558/19 - NJW 2021, 90; ähnl. OLG Koblenz, Beschl. v. 02.03.2000 - 2 Ws 92 - 94/00 u.a.) oder die Abrechnung von Pflegeleistungen, die vollständig durch Mitarbeiter erbracht werden, die nicht über die mit der Kranken- und Pflegekasse vertraglich vereinbarte Qualifikation verfügen (BGH, Beschl. v. 16.06.2014 - 4 StR 21/14 - NStZ 2014, 640 f.). Im Ergebnis zu Recht weist das OLG daraufhin, dass Sachverhalte wie derjenige, welcher der Entscheidung zugrunde lag, von derartigen Qualifikationsmängeln zu unterscheiden seien. Denn es rechne ein Arzt mit kassenärztlicher Zulassung ab. Dieser sei grundsätzlich berechtigt, an der durch die kassenärztliche Vereinigung erfolgenden Verteilung der von den Kassen bezahlten Honorare teilzunehmen. Die Abrechnung einzelner Leistungen, die für sich betrachtet ordnungsgemäß erbracht und abgerechnet sind, zusammen mit „Luftleistungen“ oder nicht ordnungsgemäß erbrachten Leistungen führe nicht dazu, dass sämtliche ausgewiesenen Leistungen insgesamt von einem bestimmten Formmangel erfasst seien. Auch bei streng formaler Betrachtung bestehe kein Anlass, den Vermögensschaden auf die Quartalsabrechnungen insgesamt „ausgreifen“ zu lassen. Vereinzelte, klar abgrenzbare „Luftleistungen“ führten auch bei Abrechnung im Rahmen einer Sammelerklärung nicht zu einer „Kontaminierung“ der ordnungsgemäß erbrachten Leistungen. Zur argumentativen Stützung verweist das OLG darauf, dass auch nach der Rechtsprechung des BSG in Fällen, in welchen in einem Quartal trotz vereinzelter und abgrenzbarer, fehlerhaft abgerechneter Leistungen im Übrigen tatsächlich und ordnungsgemäß erbrachte Leistungen abgerechnet wurden, eine Verpflichtung der KV bestehe, nach Aufhebung des unrichtigen Honorarbescheides, das dem Vertragsarzt für diese (ordnungsgemäßen) Leistungen zustehende Honorar neu festzusetzen (unter Verweis auf BSG, Urt. v. 17.09.1997 - 6 RKa 86/95 Rn. 23). Nach dem OLG ergebe dies aber allein vor dem Hintergrund nicht erloschener Vergütungsansprüche für die tatsächlich und ordnungsgemäß erbrachten Leistungen Sinn. Entsprechend – so ließe sich der Gedanke des OLG auf die zur Schadensermittlung durchzuführende Gesamtsaldierung vervollständigen – sollen wohl ebenjene nicht erloschenen Vergütungsansprüche des abrechnenden Arztes als Verbindlichkeiten im Gegenzug zur Zahlung durch die KV in Wegfall geraten und die dort eintretenden Vermögensminderungen insoweit kompensieren. Das OLG sieht sich ferner in seiner Argumentation durch die Rechtsprechung des BGH zur Möglichkeit einer Schadenshochrechnung im Bereich betrügerischer kassenärztlicher Abrechnungen bestärkt (BGH, Urt. v. 14.12.1989 - 4 StR 419/89 - NStZ 1990, 197 f.). Zutreffend weist das OLG darauf hin, dass der BGH auf Ausführungen zu Schadenshochrechnung hätte verzichten können, wenn bei Feststellung nur eines einzigen Abrechnungsfehlers pro Quartal durch „Kontaminierung“ jeweils die gesamte Quartalsabrechnung fehlerhaft und das gesamte Quartalshonorar an den Arzt als Schaden i.S.v. § 263 Abs. 1 StGB zu qualifizieren sei. Schließlich nimmt das OLG Stellung zu einer – im Beschwerdeverfahren durch die Staatsanwaltschaft angeführten – Entscheidung des LG Stuttgart (Beschl. v. 28.07.2022 - 6 Qs 4/22). Dort hatte das Gericht mit Blick auf die Abrechnung von Corona-Tests gegenüber der KV durch ein Unternehmen ebenfalls unter Verweis auf die streng formale Betrachtungsweise die Summe aller abgerechneten Tests als Schaden beziffert, wenngleich ein Teil wohl unstreitig ordnungsgemäß durchgeführt worden war. Das LG Stuttgart will die tatsächliche Durchführung entsprechender Tests bzw. ihren Wert lediglich auf Strafzumessungsebene zugunsten des Beschuldigten würdigen. Auch insoweit führt das OLG zurecht an, dass sich das LG Stuttgart erklärtermaßen nicht auf entsprechende höchstrichterliche Rechtsprechung in einer solchen Fallgestaltung stützen kann; die Einstufung sämtlicher Honorare eines Quartals als Betrugsschaden wird durch den BGH bislang – wie ausgeführt – nur in Fällen der erläuterten Qualifikationsmängel angenommen. Überdies sei die Abrechnung von Corona-Tests ohnehin unabhängig von der streng formalen Betrachtungsweise zu bewerten, wobei außer einem Verweis auf die diesbezügliche Kommentierung zu § 263 StGB im MünchKomm (dort Rn. 863) durch das OLG keine wirkliche Erläuterung gegeben wird.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Das Ergebnis der Entscheidung des OLG ist zweifelsohne richtig und zu begrüßen. Schon die eigentümliche Spannbreite des durch die Staatsanwaltschaft angenommenen Gesamtbetrugsschadens i.H.v. annähernd 1,2 Mio. Euro und der durch das LG sowie OLG getroffenen Bewertung, es liege lediglich ein Schaden i.H.v. etwas mehr als 800 Euro (!) vor, zeigt, dass die unbesehene Anwendung der sogenannten streng formalen Betrachtungsweise bisweilen schwer nachvollziehbare Ergebnisse zeitigen kann. Dies gilt umso mehr, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es sich bei dem Betrug um einen Straftatbestand handelt, der den Schutz des Rechtsgutes Vermögen und nicht die Sanktionierung der Verletzung sozialversicherungsrechtlicher Normen bezweckt (hierzu etwa Saliger in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. 2020, § 263 Rn. 251). Die Entscheidung zeigt auch, dass es sich in der Praxis für die Verteidigung immer lohnt, die vonseiten der Ermittlungsbehörden in Verfahren wegen Abrechnungsbetruges teils inflationär behauptete Anwendbarkeit der sogenannten streng formalen Betrachtungsweise kritisch zu hinterfragen. Nicht zu verkennen ist hierbei, dass diese Betrachtungsweise kombiniert mit der „Kontaminationsthese“ in Bezug auf die Gesamtbeträge der jeweiligen Quartalsabrechnungen nicht nur zu einer extremen Steigerung der behaupteten Schadenshöhen und hiermit einhergehend der auf den Beschuldigten einwirkenden Sanktionsdrohung führt. Mit der streng formalen Betrachtungsweise ist ebenso eine massive Reduzierung des Ermittlungsaufwandes bei dem Nachweis des Betrugsschadens und seiner Bezifferung verbunden. Auch vor diesem Hintergrund ist der Verweis des OLG auf die Entscheidung des BGH zu den Grenzen der Schadenshochrechnung im Bereich des ärztlichen Abrechnungsbetruges sehr berechtigt. Dessen ungeachtet überzeugt die Inbezugnahme der Rechtsprechung des BSG zur Neufestsetzung des berechtigterweise durch den Vertragsarzt zu beanspruchenden Honorars unter dem Gesichtspunkt der Betrugsdogmatik nicht. Denn ebenjene Rechtsprechung geht ausdrücklich davon aus, dass die Abgabe einer (ordnungsgemäßen) Abrechnungssammelerklärung eine „eigenständige Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs eines Kassen- bzw. Vertragsarztes auf Vergütung der von ihm erbrachten Leistungen“ ist (BSG, Urt. v. 17.09.1997 - 6 RKa 86/95 - MedR 1998, 338). Die im Sozialversicherungsrecht nachvollziehbare Erklärung für diese tatsächlich sehr formale Betrachtungsweise ist, dass im Vertragsarztrecht die Beziehungen bei der Leistungserbringung (Verhältnis Arzt zum Patienten) und der Vergütung (Arzt zur KV) auseinanderfallen. Wie das BSG ausführt, ist aufgrund der damit einhergehenden Kontrolldefizite der Garantiefunktion der Sammelerklärung „als Korrelat für das Recht des Arztes, allein aufgrund eigener Erklärungen über Inhalt und Umfang der von ihm erbrachten Leistungen einen Honoraranspruch zu erwerben“ (BSG Urt. v. 17.09.1997 - 6 RKa 86/95 - MedR 1998, 338) besondere Bedeutung beizumessen. Das Abrechnungssystem beruht im Wesentlichen auf Vertrauen. Die Abrechnungssammelerklärung ist nach sozialversicherungsrechtlicher Einstufung als Ganzes bereits dann unrichtig, wenn nur ein einziger, mit ihr erfasster Behandlungsausweis eine unrichtige Angabe über erbrachte Leistungen enthält. Dies gilt jedenfalls bei der Einbeziehung vorsätzlich falsch abgerechneter Luftleistungen. Anders als durch das OLG formuliert („… dies ergibt … allein vor dem Hintergrund nicht erloschener Vergütungsansprüche für die tatsächlich und ordnungsgemäß erbrachten Leistungen Sinn …“), dürfte auch die Neufestsetzung des Honorars insoweit nicht weiterhelfen. Die entsprechenden Formulierungen des BSG sind in diesem Zusammenhang nicht eindeutig: „… Der Wegfall der Garantiefunktion der Abrechnungs-Sammelerklärung bei Vorliegen schon einer einzelnen grob fahrlässig falschen Angabe auf einem Behandlungsausweis – mit der Folge, dass der Honorarbescheid für das Quartal im Ganzen rechtswidrig ist – unterliegt keinen Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit. Denn das bedeutet nicht, dass dem Arzt überhaupt kein Anspruch auf Vergütung für die im Quartal erbrachten Leistungen zusteht. Soweit davon auszugehen ist, dass Leistungen tatsächlich und ordnungsgemäß erbracht wurden, hat die KÄV nach Aufhebung des unrichtigen Honorarbescheides das dem Vertragsarzt für diese Leistungen zustehende Honorar neu festzusetzen. Bei der Neufestsetzung hat sie allerdings ein weites Schätzungsermessen. In aller Regel ist es nicht zu beanstanden, wenn die KÄV in den Fällen, in denen die vom Arzt geltend gemachte Quartalsvergütung bezogen auf den Fallwert wesentlich über dem Durchschnitt seiner Fachgruppe liegt, deutliche Abschläge gegenüber der ursprünglich geltend gemachten Honorarforderung vornimmt und sich im Wege pauschalierender Schätzung damit begnügt, ihm ein Honorar z.B. in Höhe des Fachgruppendurchschnitts – oder in Krankenversicherungsbezirken mit hohen Fallwerten evtl. niedriger – zuzuerkennen. …“ (BSG, Urt. v. 17.09.1997 - 6 RKa 86/95 - MedR 1998, 339). In dem per neuer Festsetzung durch die KV erst noch zu ermittelnden, eigentlichen Vergütungsanspruch bzw. in dessen Erlöschen einen als (Teil-)Kompensation in die Gesamtsaldierung einstellbaren Vermögenszuwachs aufseiten der KV zu erblicken, scheint aus verschiedenen Gründen zweifelhaft: Erstens passt es nicht zu der BSG-Formulierung, die ordnungsgemäße Abrechnungs-Sammelerklärung sei eigenständige Voraussetzung einer Entstehung des Vergütungsanspruchs, wenn dieser trotz fehlerhafter Abrechnungs-Sammelerklärung zumindest teilweise trotzdem entstehen könnte. Eine solche Entstehung aber wäre Voraussetzung dafür, dass der Vergütungsanspruch in der Terminologie des OLG trotz fehlerhafter Abrechnungs-Sammelerklärung „nicht erloschen“ sein könnte, um überhaupt im Rahmen einer Gesamtsaldierung noch „zur Verfügung“ stehen zu können. Der insoweit durch Gierok im Zusammenhang mit einer Entscheidung des LG Nürnberg-Fürth (Urt. v. 25.09.2023 - 12 KLs 572 Js 178731/17) zu einem ähnlich gelagerten Fall geäußerte Einwand, die Begrifflichkeit des vertragsärztlichen „Vergütungsanspruches“ sei unpräzise, ist zwar zutreffend (Gierok, ZWH 2023, 342, 345). Unter Verweis auf Steinhilper (in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 3. Aufl. 2017, § 16 Rn. 8; ferner BSG, Urt. v. 24.09.2003 - B 6 KA 41/02 R - NZS 2004, 553) bestehe eine Anwartschaft des Vertragsarztes auf Teilhabe an der Honorarverteilung, die sich durch die Abrechnung seiner Leistungen über die Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung zu einem konkreten Vergütungs- oder Honoraranspruch verdichte. Jedoch bedingen genau diese zeitlichen Entwicklungsstadien des Vergütungsanspruchs, dass in Fällen wie dem vorliegenden im Rahmen der Schadensbestimmung mit einer Verpflichtung der KV, bei einer zunächst falschen Abrechnungs-Sammelrechnung zu einem späteren Zeitpunkt den korrekten Honoraranspruch des Arztes festsetzen zu müssen, nichts gewonnen ist. Denn bis zu ebenjener Festsetzung handelt es sich offensichtlich lediglich um eine Anwartschaft, die durch die oben wiedergegebenen Schätzungsbefugnisse der KV ihrerseits auch der Höhe nach mit Unsicherheiten behaftet sein wird. Es dürfte damit zumindest fraglich sein, ob es sich insoweit schon um eine derart hinreichend konkretisierte Exspektanz i.S.d. strafrechtlichen Schadensdogmatik (vgl. etwa Heger in: Leipziger Komm., 30. Auflage 2023, § 263 Rn. 34 m.w.N.) handelt, dass diese bereits im Zeitpunkt der Zahlung der KV an den Arzt – und auf diesen Zeitpunkt kommt es entscheidend an – in die Gesamtsaldierung eingestellt werden könnte. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass der Versuch, zum einen an der streng formalen Betrachtungsweise im Sozialversicherungsrecht bzw. einer sozialversicherungsrechtsakzessorischen Betrachtung bei der Schadensbestimmung nach § 263 Abs. 1 StGB festzuhalten, zum anderen indes Fallgestaltungen, die sich bei einer derartigen Betrachtungsweise allzu sehr von dem Vermögensschutz als dem Zweck des Betrugsstraftatbestandes entfernen, auszusondern, zu argumentativen Friktionen führen kann. Auch wenn dem OLG – wie bereits mehrfach betont – im Ergebnis uneingeschränkt beizupflichten ist, wäre es konsequenter, in Übereinstimmung mit der bereits seit Langem im Schrifttum geäußerten Kritik an der streng formalen Betrachtungsweise (vgl. statt vieler nur Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 263 Rn. 112b) in erster Linie eine wirtschaftliche Betrachtung zwischen der durch den Arzt erbrachten Leistung und der erlangten Vergütung anzustellen. Letztlich dürfte dies in Fällen des Abrechnungsbetruges insgesamt zu sachgerechteren und vorhersehbareren Lösungen führen. Jedenfalls wäre man so in dem vorliegenden Fall ohne Weiteres zu dem zutreffenden Ergebnis gelangt, dass der Schaden lediglich 804,- Euro und nicht 1,2 Mio. Euro betragen haben kann. Nur insoweit wurde durch den Angeklagten keine werthaltige ärztliche Leistung erbracht, obgleich er hierfür von der KVBW vergütet wurde.
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