Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die 1957 geborene Klägerin erwarb in 1997 gemeinsam mit ihrem Ehemann, von dem sie seit 2001 dauerhaft getrennt lebt, eine Eigentumswohnung in der M-Straße jeweils zur Hälfte. Der Preis der Wohnung betrug 220.000 DM und sie wurde mit einer Grundschuld i.H.v. 234.000 DM belastet. Seit 01.12.2019 bewohnt die Klägerin die Wohnung selbst.
Nachdem die Klägerin zunächst Arbeitslosengeld nach dem SGB III bezogen hatte, beantragte sie Ende 2004 die Gewährung von Arbeitslosengeld II (Alg II). Sie bewohnte seinerzeit gemeinsam mit den Kindern A. und V. eine Mietwohnung in der O-Straße. In ihrem Antrag gab sie u.a. an, dass ihr getrenntlebender Ehemann die Miete zahle und sie dafür keinen Kindesunterhalt erhalte. In der Anlage VM zur Feststellung des zu berücksichtigenden Vermögens nach § 12 SGB II beantwortete die Klägerin die Frage, ob sie oder eine im Haushalt lebende Person oder man gemeinsam Eigentümer bebauter Grundstücke und/oder Eigentumswohnungen sei, mit nein.
Daraufhin bewilligte ihr das beklagte Jobcenter von Januar bis Juni 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. circa 4.700 Euro – ohne Kosten der Unterkunft. Für die Folgezeiträume wurden ebenfalls Leistungen in etwa dieser Höhe bewilligt, gewisse Änderungen ergaben sich durch den Grundwehrdienst des Sohnes oder Einkommen der Tochter. Zudem stieg der Zahlbetrag im Laufe der Jahre an, zuletzt wurden der Klägerin vom Juli bis November 2018 Leistungen i.H.v. ca. 5.000 Euro bewilligt. In ihren Weiterbewilligungsanträgen hatte die Klägerin jeweils keine Änderung ihrer Vermögensverhältnisse angegeben.
Erstmals durch die am 04.06.2018 vorgelegte Anlage VM wurde dem Beklagten bekannt, dass die Klägerin zur Hälfte Eigentümerin der Eigentumswohnung in der M-Straße ist. Die daraufhin eingeleiteten Ermittlungen führten zur Vorlage zahlreicher Unterlagen, der von der Tochter der Klägerin, einer Immobilienkauffrau, für Januar 2019 ermittelte Marktwert der Wohnung lag bei 208.000 Euro. Nach Anhörung der Klägerin hob der Beklagte mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 11.09.2019 die Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.11.2018 auf und forderte die erbrachten Leistungen i.H.v. insgesamt fast 152.000 Euro zurück.
Zur Begründung ihres Widerspruchs führte die Klägerin an, nach der Trennung habe sich der Ehemann um die Wohnung gekümmert und sie habe damit nichts zu tun gehabt, der Wert der Wohnung habe damals circa 60.000 DM betragen, wovon ihr die Hälfte zugestanden habe. In der nach Zurückweisung des Widerspruchs erhobenen Klage wies die Klägerin außerdem auf Kreditzahlungen, Reparaturen und Instandhaltungskosten für die Wohnung hin.
Das Sozialgericht sah die angefochtenen Bescheide als formell rechtmäßig an, hob sie jedoch wegen Verstoßes gegen § 45 SGB X mit Urteil vom 05.04.2022 auf. Denn der Beklagte habe keine ausreichenden Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit der Klägerin für den betreffenden Zeitraum unter Berücksichtigung ihres Vermögens in Form des hälftigen Eigentums an der Wohnung unternommen. Diese Ermittlungen nachzuholen, sei nicht Aufgabe des Gerichts (Hinweis auf BSG, Urt. v. 25.06.2015 - B 14 AS 30/14 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 3).
Das LSG Stuttgart hat auf die von dem Beklagten eingelegte Berufung das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Klägerin sei in der strittigen Zeit nicht hilfebedürftig gemäß § 9 Abs. 1 SGB II gewesen. Denn sie habe in dieser Zeit aufgrund ihres (Mit-)Eigentums an der Wohnung über zu verwertendes Vermögen nach § 12 SGB II verfügt.
Der Beklagte habe seine Entscheidung auf der Grundlage eines vollständig ermittelten Sachverhaltes getroffen, zumal das Sozialgericht in seinem Urteil an keiner Stelle ausgeführt habe, was der Beklagte noch hätte ermitteln können bzw. müssen. Der Beklagte habe insbesondere bei der Berechnung des zu berücksichtigenden Vermögens bezüglich der jeweiligen Bewilligungszeiträume jeweils den Marktwert der Wohnung unter Berücksichtigung der Entwicklung der Immobilienpreise von 2005 bis 2018, ausgehend von dem von der Tochter der Klägerin für Januar 2019 ermittelten Marktwert i.H.v. 208.000 Euro, abzüglich der sich jeweils aus den von der Klägerseite vorgelegten Jahreskontoauszügen ergebenden Darlehensverpflichtungen ermittelt und das hiervon hälftig auf die Klägerin entfallende, jeweils zu berücksichtigende Vermögen festgestellt.
Die Voraussetzungen des § 40 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2, Abs. 3 Sätze 1, 4 SGB III sowie § 335 Abs. 1, 2, 5 SGB III über die Erstattung von Beiträgen zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung und des § 45 SGB X seien erfüllt. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, da sämtliche Bewilligungsbescheide auf Angaben beruhten, die sie zumindest grob fahrlässig unvollständig gemacht habe.
Entgegen der klaren und unmissverständlichen Fragestellung in der Anlage VM beim ersten Antrag im Dezember 2004 habe sie die Frage, ob sie unter anderem Allein- oder Miteigentümerin einer Eigentumswohnung sei, mit „nein“ beantwortet und in der Folge auch die in jedem Weiterbewilligungsantrag ausdrücklich gestellte Frage nach Änderungen in den Vermögensverhältnissen jeweils mit „nein“ beantwortet bzw. das Kreuz bei „nein“ gesetzt. Soweit sie geltend mache, bei der Antragstellung habe die dortige Antragsannehmerin aufgrund der auf der Wohnung lastenden Schulden erklärt, im Hinblick darauf sei die Wohnung nicht zu berücksichtigen, weshalb die Frage mit „nein“ beantwortet wurde, sei dies nicht glaubhaft. Hierzu sei nämlich festzustellen, dass solche Äußerungen der Antragsannehmerin üblicherweise im Antragsformular mit einem in grüner Farbe angebrachten Vermerk hätten festgehalten werden müssen und auch worden wären, wie etwa bei den Kosten der Unterkunft geschehen.
Kontext der Entscheidung
Dem Urteil des LSG Stuttgart liegt eine Standardfallgestaltung nach dem SGB II zugrunde: Aufhebung und Rückforderung der erbrachten Leistungen wegen verschwiegenen Vermögens (vgl. nur BSG, Urt. v. 25.04.2018 - B 14 AS 15/17 R - BSGE 125, 301; LSG Essen, Urt. v. 09.01.2020 - L 7 AS 498/19; LSG Halle, Beschl. v. 20.07.2022 - L 2 AS 366/21; LSG Celle-Bremen, Urt. v. 20.04.2023 - L 11 AS 221/22). Dass solche Verfahren nicht einfach sind, belegt das Urteil ein weiteres Mal.
Etwas ungewöhnlich ist die Höhe des Erstattungsbetrags mit über 150.000 Euro. Wie eine Person, die von 2005 bis 2018 Alg II bezogen hat und nun zum Urteilszeitpunkt in 2024 kurz vor der Rente steht (vgl. zu ihrem Geburtsjahrgang 1957 nur § 7a SGB II), einen derartigen Betrag zurückzahlen soll, ist offen – vorbehaltlich eines größeren Erbes, anderer Zuwendungen oder der Verwertung der Wohnung. Ob die Wohnung nun, nachdem sie von der Klägerin bewohnt wird, nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB II bzw. § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII geschützt ist, kann dem Urteil nicht entnommen werden. (Was nicht zu kritisieren ist, weil dies nicht entscheidungserheblich war.)
Dass aus der Höhe des Erstattungsbetrags selbst nichts hergeleitet werden kann, ist in der Rechtsprechung des BSG geklärt (BSG, Urt. v. 25.04.2018 - B 14 AS 15/17 R - BSGE 125, 301): Ist die Rücknahme einer Alg II-Bewilligung wegen verschwiegenen Vermögens vom Alg II-Empfänger zu vertreten, kommt es auf das Verhältnis zwischen dem zu erstattenden Betrag – in diesem Verfahren über 17.000 Euro – und dem ursprünglich einzusetzenden Vermögenswert – in diesem Verfahren gut 5.000 Euro – nicht an. Ebenfalls unbeachtlich ist, ob das verschwiegene Vermögen zur Deckung der Bedarfe über den gesamten Rücknahmezeitraum ausgereicht hätte.
Ein zweiter Aspekt des Urteils des Landessozialgerichts betrifft den Umfang der anzustellenden Ermittlungen seitens der Verwaltung bzw. des Gerichts. Das Sozialgericht hatte zur Begründung seines für die Klägerin positiven Urteils ausgeführt, der Beklagte habe keine ausreichenden Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit der Klägerin für den betreffenden Zeitraum unter Berücksichtigung ihres Vermögens aufgrund des hälftigen Eigentums an der Wohnung unternommen und diese Ermittlungen nachzuholen, sei nach dem Urteil des BSG vom 25.06.2015 (B 14 AS 30/14 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 3) nicht Aufgabe des Gerichts. Das LSG Stuttgart ist dem mit dem Argument entgegengetreten, das Sozialgericht habe in seinem Urteil an keiner Stelle ausgeführt, was der Beklagte noch hätte ermitteln können bzw. müssen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass in dem angeführten Verfahren des BSG sehr viel für einen Versuch der Verlagerung der eigenen Amtsermittlungspflicht des Beklagten auf das Gericht sprach. Dafür spricht vorliegend nach den insgesamt überzeugenden Ausführungen des Landessozialgerichts nichts.
Auswirkungen für die Praxis
Die Höhe des Erstattungsbetrags muss allen deutlich vor Augen führen, dass solche Verfahren – die es in ähnlicher Konstellation trotz erhöhter Vermögensfreibeträge nach wie vor im SGB II und im SGB XII geben kann – möglichst zu vermeiden sind.
Denn wenn die betreffende Person wieder leistungsberechtigt nach dem SGB II wird, kommt es zu Aufrechnungen nach § 43 SGB II von bis zu 30% des Regelbedarfs (vgl. zum SGB XII die §§ 103 f. SGB XII Kostenersatz sowie die allgemeinen Vorschriften zur Aufrechnung usw. in den §§ 51 ff. SGB I). Eine Fortdauer des Konflikts und weitere Gerichtsverfahren sind also vorprogrammiert.
Die Lösung Forderungserlass nach § 44 SGB II (Veränderung von Ansprüchen) mag zwar seitens der betreffenden Person erstrebenswert sein, stößt jedoch bei den betroffenen Behörden auf größte Zurückhaltung und dürfte eher zu einem weiteren Verfahren führen (vgl. dazu BSG, Urt. v. 25.04.2018 - B 14 AS 15/17 R Rn. 28 ff. - BSGE 125, 301; Becker, Veränderung von Ansprüchen durch Stundung, Niederschlagung und Erlass, SGb 2018, 129).
Zur Vermeidung solcher Verfahren kann nur an alle Rechtsberatenden und an die Mitarbeitenden der Behörden appelliert werden, gerade bei der Stellung eines Erstantrags den Betroffenen die Bedeutung und Folgen unrichtiger oder unvollständiger Angaben klar vor Augen zu führen. Denn eine beim Erstantrag „vergessene“ Angabe später richtigzustellen, erfordert zumeist eine gewisse Überwindung. Aber je früher dies erfolgt, umso besser ist es im Hinblick auf die Höhe des Erstattungsbetrags.
Und die Hoffnung, dass die „vergessene“ Angabe auf Dauer unentdeckt bleibt, ist angesichts der nach § 52 SGB II zulässigen automatisierten Datenabgleiche (vgl. im SGB XII § 118) eher trügerisch.