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Anmerkung zu:BSG 7. Senat, Urteil vom 17.07.2024 - B 7 AS 10/23 R
Autor:Dr. Stefan Meißner, Bereichsleiter
Erscheinungsdatum:20.02.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 48 SGB 10, § 11 SGB 1, § 2 SGB 2, § 22 SGB 2, § 11a SGB 2, § 103 SGG
Fundstelle:jurisPR-SozR 4/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Meißner, jurisPR-SozR 4/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Zur Berücksichtigung von Geldzuwendungen Dritter als Einkommen



Orientierungssatz zur Anmerkung

Geldzuwendungen Dritter zur Bedarfsdeckung im Sinne einer Kompensation stellen kein zu berücksichtigendes Einkommen dar.



A.
Problemstellung
Das BSG hat sich in seiner Entscheidung mit der Frage befasst, ob eine Geldzuwendung, die für eine Dachreparatur bestimmt ist und verwendet wurde, als Einkommen auf das Bürgergeld anzurechnen ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin stand im Bezug von Leistungen nach dem SGB II und bewohnt ein in ihrem Eigentum stehendes Einfamilienhaus, dessen Dach wegen erheblicher Defekte der aus Wellasbestplatten bestehenden Eindeckung einer vollständigen Neueindeckung bedarf, nachdem es an mehreren Stellen gleichzeitig zu einem massiven Wassereinbruch gekommen war. Für die Dachreparatur wurden 7.125,98 Euro in Rechnung gestellt. Von ihrer Mutter erhielt die Klägerin 7.130 Euro in bar als Geschenk zur „Verwendung für den Dachdecker“.
Nach Bekanntwerden dieses Sachverhaltes gelangte das Jobcenter zu dem Ergebnis, dass die Klägerin über keine Vermögenswerte verfüge, die belegten, dass sie die Arbeiten selbst finanzieren könne. Auf die Frage, wer die Dachdeckerarbeiten finanziert habe, habe die Klägerin nicht geantwortet. Mit dieser Begründung hob das Jobcenter die ergangenen Bewilligungsbescheide, gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X, wegen „Wegfall der Hilfebedürftigkeit“ ab dem 01.08.2017 auf. Widerspruch und Klage blieben in der 1. Instanz erfolglos.
Das Landessozialgericht hob den Bescheid mit der Begründung auf, die Zuwendung der Mutter sei wegen grober Unbilligkeit nicht als Einkommen zu berücksichtigen; auch habe die Zahlung die Lage der Klägerin nicht so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt seien.
Die hiergegen gerichtete Revision des Jobcenters blieb erfolglos.
Der angefochtene Aufhebungsbescheid sei materiell rechtswidrig, weil die Zuwendung der Mutter nicht als Einkommen berücksichtigt werden durfte.
Abgesehen davon, dass das Jobcenter die Kosten für die Dachsanierung dem Grunde nach als Bedarf für Unterkunft und Heizung hätte übernehmen müssen, habe die Zahlung der Mutter die Lage der Klägerin nicht i.S.v. § 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II günstig beeinflusst. Lediglich der die Dachdeckerkosten übersteigende Betrag (gewährter Skonto plus übersteigender Betrag der Zuwendung) sei als Einkommen zu berücksichtigen. Deshalb komme eine Anrechnung nur in dieser Höhe in Betracht.
Bei dem Geldgeschenk handle es sich um eine Einnahme i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Dem stehe auch eine Zweckvereinbarung zwischen der Klägerin und ihrer Mutter nicht entgegen. Soweit eine echte Zweckschenkung vereinbart gewesen sei, hätte sich die Klägerin zwar bei anderweitiger Verwendung der Mittel unter Umständen einem bereicherungsrechtlichen Anspruch wegen Zweckverfehlung ausgesetzt gesehen. Aus § 11a Abs. 3 SGB II ergebe sich jedoch, dass für zweckgerichtete Einnahmen eine generelle Freistellung allein für Zweckbestimmungen aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften geregelt werden sollte. Dies sei hier gerade nicht der Fall.
Die Einnahme sei aber nach § 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit die Kosten der Dachreparatur als Bedarfe i.S.d. § 22 Abs. 2 SGB II berücksichtigungsfähig gewesen wären. Die Mutter der Klägerin habe die Zuwendung erbracht, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht gehabt zu haben.
Für die Mutter habe eine sittliche Pflicht nicht bestanden, der Klägerin das Geld zukommen zu lassen. Eine sittliche Verpflichtung könne nur dann bejaht werden, wenn innerhalb der Beziehung des Zuwendenden zum Zuwendungsempfänger selbst besondere Umstände gegeben seien, die die Zuwendung oder Unterstützung als zwingend geboten erscheinen lassen. Indes sei eine Unterstützung nicht zwingend geboten, wenn das Kind auf die Unterstützungsleistung der Eltern nicht angewiesen sei, weil es Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe.
Eine Berücksichtigung der Zuwendung als Einkommen scheide aus, weil und soweit diese die Lage der Klägerin nicht so günstig beeinflusst habe, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht mehr gerechtfertigt wären (§ 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II). Zu prüfen sei hierbei, ob sich Zuwendung und Alg II gegenseitig – im Sinne einer Überkompensation der bestehenden Notlage – so verstärkten, dass nach der Lebenssituation zumindest ein Teil des Alg II nicht mehr benötigt werde, Leistungen nach dem SGB II also neben der Zuwendung zumindest zum Teil „nicht gerechtfertigt sind“. Erforderlich für diese Beurteilung sei eine wertende Entscheidung, ausgehend von der Höhe der Zuwendung und der für die Sicherung des Lebensunterhalts im Übrigen zur Verfügung stehenden bereiten Mittel. Diese habe sich daran zu orientieren, ob die Nichtberücksichtigung der Zuwendung angesichts ihrer Höhe dem Nachranggrundsatz der SGB II-Leistungen (§ 2 Abs 2 SGB II) zuwiderliefe.
Die Kosten der Dachreparatur stellten einen durch den Beklagten zu deckenden Bedarf der Klägerin nach § 22 Abs. 2 SGB II dar. Zu berücksichtigen seien Bedarfe von Eigentümern, die mit dem Erhalt der selbstbewohnten Immobilie durch Instandhaltungs- oder Reparaturarbeiten verbunden seien. Dem Grunde nach anerkannt werden als Bedarfe unabweisbare Aufwendungen für Instandhaltung und Reparatur bei selbst bewohntem Wohneigentum. Dies sei bei der Klägerin sowohl im Hinblick auf den Grund der Reparatur als auch auf die mit der Ausführung der Reparatur verbundene Höhe der Kosten von unabweisbaren Aufwendungen der Fall. Die einmalige Zahlung der Mutter diente im Wesentlichen der Begleichung der Rechnung und insoweit der Deckung eines einmaligen Bedarfs i.S.d. § 22 Abs. 2 SGB II, wie Zweckbindung und -verwendung belegten. Der Klägerin hätten gegen den Beklagten Zahlungen in (fast) gleicher Höhe zugestanden. Der Beklagte selbst habe den Bedarf der Klägerin nicht zeitgerecht gedeckt. Die Qualifizierung der Zuwendung und ihre Nichtberücksichtigung nach § 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II führe damit nicht zu einer Überkompensation des bei der Klägerin bestehenden Bedarfs, sondern nur zur Bedarfsdeckung im Sinne einer Kompensation. Durch die Nichtberücksichtigung des Geldgeschenks werde die Klägerin nicht anders gestellt als bei Zahlungen Dritter, die wegen einer rechtswidrigen Ablehnung von Bürgergeld unter dem Vorbehalt der Rückforderung erbracht würden und diese Leistungen bis zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes vorübergehend substituierten.
Im Rahmen der vorzunehmenden Gerechtfertigkeitsprüfung sei es ohne Bedeutung, ob der Beklagte nach § 22 Abs. 2 Satz 1 SGB II den Bedarf zuschussweise oder – weil die unabweisbaren Aufwendungen unter Berücksichtigung der im laufenden und den darauffolgenden elf Kalendermonaten anfallenden Aufwendungen überstiegen hätten – ggf. nur durch darlehensweise Leistungen hätte erbringen müssen. Darauf könne es bei der gebotenen retrospektiven Betrachtung nach einem im Wege der Selbsthilfe gedeckten Bedarf nicht ankommen.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung betrifft eine in der Praxis immer wieder vorkommende Fallkonstellation, in der Familienangehörige einander etwas Gutes tun wollen und Geldbeträge überweisen. Das fällt natürlich bei Vorlage von Kontoauszügen auf und stellt einen Zufluss dar; es entbrennt dann die Diskussion, ob dieser Geldbetrag angerechnet werden darf oder ob eine Ausnahme nach § 11a SGB II vorliegt.
Bereits zuvor hatte das BSG entschieden, dass eine sittliche Verpflichtung i.S.d. § 11a Abs. 5 SGB II nur dann bejaht werden könne, wenn innerhalb der Beziehung des Zuwendenden zum Zuwendungsempfänger selbst besondere Umstände gegeben sind, die die Zuwendung oder Unterstützung als zwingend geboten erscheinen ließen. Dies sei typisierend im Verhältnis eines Gastes zu einer Servicekraft auszuschließen („Trinkgeld-Entscheidung“, BSG, Urt. v. 13.07.2022 - B 7/14 AS 75/20 R; krit. hierzu Hengelhaupt, jM 2023, 295; Meißner, jurisPR-SozR 5/2023 Anm. 1).
Bei dieser Geldzuwendung der Mutter für die Dachreparatur arbeitet das BSG heraus, warum die Voraussetzungen des § 11a SGB II gegeben sind. Insbesondere ist dabei von Bedeutung, dass die Zuwendung nur als Kompensation anzusehen sei für die ausgebliebene Bedarfsdeckung durch das Jobcenter.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung schafft Klarheit darüber, wann derartige Geldzuwendungen nach § 11a SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind. Derartige Streitfälle lassen sich indes leicht vermeiden, wenn man auf Überweisungen zugunsten des Leistungsbeziehers verzichtet. Hätte die Mutter die Rechnung direkt bezahlt, hätte es auf dem Konto der Klägerin keinen Geldeingang (Zufluss) gegeben. Sofern die Jobcenter derartige Geldeingänge feststellen, haben sie anhand des Vorbringens die Voraussetzungen des § 11a SGB II sorgfältig zu prüfen.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
So ganz nebenbei merkt der Senat an, dass wegen der regelhaft unklaren Bedarfslagen im Hinblick auf die Aufwendungen für Unterkunft in einem Eigenheim Leistungen nach dem SGB II nur vorläufig hätten bewilligt werden dürfen und verweist auf ein Urteil zur vorläufigen Bewilligung bei ungeklärtem leistungsrelevanten Sachverhalt (BSG, Urt. v. 14.12.2021 - B 14 AS 73/20 R Rn. 15 - SozR 4-4200 § 41a Nr 3).
Zum Prozessrecht hat der Senat ausgeführt, dass die Rüge der Verletzung von § 103 SGG nicht den Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge genüge. Notwendig hierfür wäre eine Darlegung gewesen, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber bilden zu können, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann. Der Revisionsführer müsse dafür nicht nur im Einzelnen die zu ermittelnden Tatsachen bezeichnen, sondern darüber hinaus darlegen, wann und in welcher Form er diese Tatsachen in der Berufungsinstanz so vorgebracht hat, dass sich das Landessozialgericht aufgrund des Berufungsvorbringens zu einer weiteren Tatsachenermittlung hätte gedrängt fühlen müssen. Zu den erforderlichen Darlegungen der Rüge gehöre es auch, konkrete Beweismittel zu benennen, deren Erhebung sich dem Landessozialgericht hätte aufdrängen müssen.



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