Eine Diagnose macht noch keine Erwerbsminderung - entscheidend ist das individuelle LeistungsvermögenLeitsätze 1. Das Bestehen einer Gesundheitsstörung (hier: Morbus Crohn) ist für sich gesehen nicht hinreichend, um eine rentenrechtliche Erwerbsminderung zu begründen. 2. Nämliches gilt im Hinblick auf einen etwaigen ausgebliebenen Behandlungserfolg, mangelnde deutsche Sprachkenntnisse, psychosoziale bzw. lebensgeschichtliche Belastungen oder einer „Entwöhnung“ von beruflicher Arbeit (Anschluss an BSG, Urt. v. 09.05.2012 - B 5 R 68/11 R). - A.
Problemstellung Eine chronische Erkrankung wirkt sich oft sehr deutlich auf das Leben der Betroffenen aus. Bereits die Diagnose kann die Lebensqualität stark einschränken, auch wenn die Krankheit aus medizinischer Sicht (noch) nicht weit fortgeschritten sein sollte. In der sozialgerichtlichen Praxis kommt es daher – verständlicherweise – nicht selten vor, dass aus Sicht von Betroffenen das Vorhandensein einer bestimmten Krankheit oder Behinderung zwangsläufig eine Erwerbsminderung (oder einen bestimmten Grad der Behinderung - GdB) zur Folge haben müsse, insbesondere, wenn sich die Krankheit nicht erfolgreich behandeln lässt und das tägliche Leben negativ prägt. Ein solcher Fall lag dem Urteil des LSG Stuttgart zugrunde (wobei hier zudem die tatsächlichen Beschwerden in Zweifel standen).
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung In dem Verfahren ging es um eine italienische Mutter (Klägerin), die seit 1980 in Deutschland lebte und dort überwiegend geringfügige Beschäftigungen ausübte mit aufstockendem bzw. später alleinigem Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Die Klägerin hatte einen GdB von 50. Bei ihr wurde erstmals 2006 die chronische Darmkrankheit Morbus Crohn festgestellt. Hinzu kamen weitere Beschwerden, wie u.a. eine Kniearthrose, Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule, eine depressive Verstimmung und ein chronisches Schmerzsyndrom. Die Klägerin hatte bereits eine längere Krankheits- und Verfahrensgeschichte; in der Vergangenheit hatte sie wiederholt (erfolglos) einen Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente gestellt. Streitgegenständlich ist nun die letzte Ablehnung aus dem Jahr 2020. Vom SG Koblenz wurden in erster Instanz drei ärztliche Sachverständigengutachten eingeholt, und zwar auf psychiatrischem, internistisch-gastroenterologischem und orthopädischem Fachgebiet. Die Gutachten kamen allesamt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin zwar einige Leistungseinschränkungen habe, ihr Leistungsvermögen aber nicht auf unter sechs Stunden täglich gesunken sei. Nach Überzeugung des SG Koblenz lag damit keine Erwerbsminderung vor und die Klage wurde per Gerichtsbescheid (v. 17.05.2024 - S 9 R 2126/20) abgewiesen. Im Berufungsverfahren wurde insbesondere vorgetragen, dass die Klägerin seit vielen Jahren unheilbar an Morbus Crohn leide „für die eine zivilrechtliche Erwerbsunfähigkeit und in den schwersten Fällen auch eine zivilrechtliche Erwerbsunfähigkeitsrente oder eine ordentliche Erwerbsunfähigkeitsrente anerkannt“ werde. Das LSG Stuttgart hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Eine Erwerbsminderung liege nach den Feststellungen im Klageverfahren nicht vor. Das Gericht merkt hierzu „lediglich ergänzend“ (Rn. 27 ff.) an, das der pauschale Hinweis auf die Morbus-Crohn-Erkrankung nicht geeignet sei, eine Erwerbsminderung zu begründen. Entscheidend seien nicht Art oder Anzahl an Diagnosen, sondern allein der Einfluss auf das individuelle quantitative und qualitative Leistungsvermögen, wie es auf Basis nachvollziehbarer objektiv-klinischer Befunde festgestellt werde (mit Verweis u.a. auf BSG, Beschl. v. 28.02.2017 - B 13 R 37/16 BH). Weitreichende funktionelle Leistungseinschränkungen seien vorliegend von den Sachverständigen jedoch nicht objektiviert worden. Vielmehr deuten die Feststellungen der gerichtlich beauftragten Sachverständigen darauf hin, dass die angegebenen Beschwerden nicht mit den klinischen Befunden zusammengepasst haben und insofern auch vom Gericht als nicht authentisch angesehen wurden. Im Anschluss an die BSG-Rechtsprechung (BSG, Beschl. v. 31.10.2012 - B 13 R 107/12 B Rn. 15) hat das Landessozialgericht ferner darauf hingewiesen, dass auch eine bestehende Behandlungsbedürftigkeit oder häufigere Arbeitsunfähigkeit für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit keine Rolle spiele. Gleiches gelte für die Frage, ob von weiteren degenerativen Veränderungen auszugehen sei, da es eben nicht auf die Gesundheitsstörung an sich ankomme, sondern wie sich diese funktionell auf das Leistungsvermögen auswirke. Ebenso wenig entscheidend für die Begründung einer Erwerbsminderung sind nach dem Landessozialgericht mangelnde Sprachkenntnisse, psychosoziale Belastungen, die Möglichkeit zur Organisation des (familiären) Haushalts oder ob jemand vom Arbeiten „entwöhnt“ ist (teils mit Verweis auf BSG, Urt. v. 09.05.2012 - B 5 R 68/11 R Rn. 16). Ein GdB oder die Schwerbehinderteneigenschaft sagt ebenfalls nichts über die beruflichen Einsatzmöglichkeiten aus (BSG, Beschl. v. 17.09.2015 - B 13 R 290/15 B Rn. 5).
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung des LSG Stuttgart liegt auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung (Nachweise vgl. zuvor). Bei der Rentenbegutachtung kommt es „nicht auf die festgestellten Diagnosen, sondern auf die Einschränkungen des Leistungsvermögens (Funktionsbegutachtung) [an]“ (LSG Erfurt, Urt. v. 30.06.2015 - L 6 R 166/08 ZVW Rn. 64; so auch BSG, Beschl. v. 28.02.2017 - B 13 R 37/16 BH Rn. 15: „Die Rentenbegutachtung ist in diesem Sinne im Wesentlichen eine ‚Funktionsbegutachtung‘“). Sozialmedizinisch betrachtet, könne selbst bei der Notwendigkeit eines künstlichen Darmausgangs infolge einer Erkrankung an Morbus Crohn nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass keine Leistungsfähigkeit mehr bestehe (Krauß in: Münchener Anwaltshandbuch SozR, 6. Aufl. 2024, § 22 Rn. 47). Komme es dagegen zu Komplikationen und/oder zusätzlichen psychischen Belastungen, die häufig mit dieser Krankheit verbunden sind, kann sich ein anderes Bild ergeben (Krauß in: Münchener Anwaltshandbuch SozR, 6. Aufl. 2024, § 22 Rn. 48; von der Decken, Fachdienst Sozialversicherungsrecht 2021, 436952). Wie andere Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, kann eine Erkrankung an Morbus Crohn im Einzelfall aber durchaus eine Erwerbsminderungsrente (mit)begründen. Das LSG Stuttgart hatte in einer früheren Entscheidung (Urt. v. 17.12.2020 - L 7 R 3817/19) aufgrund von Morbus Crohn die fehlende Wegefähigkeit einer Rentenantragstellerin festgestellt: „Leidet der Versicherte wegen einer chronischen Darmerkrankung unter häufigen und unkontrollierbaren Darmentleerungen, die es erforderlich machen, sich stets in der Nähe einer Toilette aufzuhalten, so kann er nicht auf die Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel (Busse, Straßenbahnen, U-Bahn im öffentlichen Personennahverkehr) verwiesen werden.“ (2. Leitsatz zu LSG Stuttgart, Urt. v. 17.12.2020 - L 7 R 3817/19). Im Übrigen hängt auch die Feststellung des Einzel-GdB bei Morbus Crohn individuell davon ab, wie schwer die Auswirkungen der Krankheit sind (vgl. Anlage zu § 2, Teil B, Abschnitt 10.2.1 der Versorgungsmedizin-Verordnung).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Der Versuch, eine Erwerbsminderung allein mit dem Bestehen einer bestimmten Erkrankung oder einem bestimmten GdB zu begründen, war und wird wohl nicht von Erfolg gekrönt sein. Entscheidend sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 43 SGB VI, der eine objektivierbare Leistungseinschränkung fordert. Zwar ist durchaus vorstellbar, dass einzelne Krankheiten weitere Sachverhaltsermittlungen nach sich ziehen können – argumentiert werden müsste hier aber (zusätzlich) mit bestehenden Einschränkungen des Leistungsvermögens. So hatte das BSG jedenfalls zur Schwerbehinderteneigenschaft ausgeführt, dass diese allein keine Aussagekraft für die Frage einer Erwerbsminderung habe (BSG, Beschl. v. 17.09.2015 - B 13 R 290/15 B Rn. 5).
- E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung In der Entscheidung zeigte sich zudem ein weiteres gelegentlich auftretendes Problem. In den eingeholten medizinischen Stellungnahmen wurde teils angegeben, dass das Leistungsvermögen der Klägerin „nicht länger als sechs Stunden“ (Rn. 29) sei oder eine „über sechsstündige Tätigkeit“ (Rn. 30) nicht mehr möglich sei. Eine Erwerbsminderung liegt hingegen nach § 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI nur vor, wenn nicht mehr mindestens sechs Stunden täglich gearbeitet werden kann. Sofern nach den Feststellungen noch (einschließlich) sechs Stunden gearbeitet werden könne, scheidet eine Erwerbsminderung insofern aus. Hier wäre eine bessere Sensibilisierung bzw. Aufklärung der beauftragten Sachverständigen wünschenswert.
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