juris PraxisReporte

Anmerkung zu:LSG Stuttgart 1. Senat, Urteil vom 29.04.2024 - L 1 U 2085/23
Autor:Tobias Schlaeger, Ass. iur.
Erscheinungsdatum:27.06.2024
Quelle:juris Logo
Norm:§ 8 SGB 7
Fundstelle:jurisPR-SozR 13/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Schlaeger, jurisPR-SozR 13/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Infektion mit dem Coronavirus (SARS-CoV-2) als Arbeitsunfall?



Leitsätze

1. Die Eingangsvoraussetzung für die Anerkennung einer Infektion mit dem Virus SARS-CoV-2 als Arbeitsunfall ist ein Kontakt mit einer Indexperson während einer versicherten, ggfs. betrieblichen Verrichtung.
2. Eine Indexperson ist eine Person, die nachweislich bereits vor dem Versicherten mit dem Virus SARS-CoV-2 infiziert war.
3. Eine solche vorhergehende Infektion kann in der Regel nur durch einen positiven PCR-Test, unter Umständen auch nur durch einen Schnelltest, nachgewiesen werden. Dass die vermeintliche Indexperson vor dem Kontakt unspezifische Symptome gezeigt hatte, reicht nicht aus.
4. Erst wenn ein solcher Kontakt mit einer Indexperson im Vollbeweis gesichert ist, muss auf zweiter Ebene ein Wahrscheinlichkeitszusammenhang zwischen diesem Kontakt und der späteren Infektion des Versicherten bestehen. Hier sind als Indizien unter Umständen die räumliche Nähe und die Dauer des Kontakts oder das Tragen von Schutzmitteln (FFP- oder medizinische Masken) relevant.



Orientierungssatz zur Anmerkung

Auch in Zeiten einer weltweiten Pandemie stellt die bloße Zusammenarbeit von Menschen für sich genommen kein Unfallereignis dar, auch wenn jeder menschliche Kontakt die potenzielle Möglichkeit einer Covid-19-Infektion birgt.



A.
Problemstellung
Die weltweite Pandemie mit dem SARS-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2) als Erreger der Krankheit „Covid-19“ stellte auch die Gesetzliche Unfallversicherung vor größere Probleme. So wurden bis Ende März 2024 insgesamt rund 545.000 BK-Verdachtsanzeigen (BK-Nr. 3101) erstattet und ca. 80.000 potenzielle Arbeitsunfälle bei den Unfallversicherungsträgern angezeigt (Zahlen der DGUV, vgl. https://www.dguv.de/medien/inhalt/mediencenter/hintergrund/covid/dguv_zahlen_covid.pdf, zuletzt abgerufen am 18.06.2024). Angesichts dieses Fallvolumens ist die Zahl der bisherigen Sozialgerichtsurteile überschaubar (vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Schlaeger in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK SozR, Stand März 2024, § 218g SGB VII Rn. 19 ff.).
Das hier besprochene Urteil ist das erste LSG-Urteil zu der Frage, inwieweit eine Coronavirus-2-Infektion ein Arbeitsunfall (§ 8 Abs. 1 SGB VII) sein kann. Dass eine Pandemie mit jederzeitiger Ansteckungsmöglichkeit besondere Nachweisprobleme mit sich bringt, zeigt das vorliegende Urteil.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger war als Montierer in der Maschinenbau- und Betriebstechnik der M1 AG beschäftigt. Am 08.03.2021 wurde er mittels PCR-Test positiv auf Covid-19 getestet. Erste Symptome bestanden nach Angaben des Klägers ab 05.03.2021. Ein positiver Schnelltest wurde bereits am 06.03.2021 durchgeführt. Vom 08.03. bis 04.10.2021 bezog der Kläger Krankengeld, er litt an einem sog. Long-Covid-Syndrom. Nach weiteren Ermittlungen lehnte der zuständige Unfallversicherungsträger die Anerkennung der Infektion als Arbeitsunfall ab, da kein intensiver oder länger andauernder Kontakt zu einer sog. Indexperson (nachweislich infizierte Person) festgestellt werden konnte. Im Rahmen des Klageverfahrens wies der Kläger darauf hin, dass es zu einem massenhaften Ausbruch im Unternehmen gekommen sei. Nachdem das Sozialgericht u.a. eine Arbeitgeberauskunft dazu eingeholt und Zeugen vernommen hatte, wies es die Klage als unbegründet ab und stellte u.a. darauf ab, dass mangels konkreten Nachweises ebenso eine Ansteckung z.B. während einer „maskenlosen“ Frühstücks- oder Mittagspause im Pausenraum des Betriebs möglich gewesen sei.
Auch die Berufung des Klägers war erfolglos.
Nach Darlegung der allgemeinen rechtlichen Maßstäbe des Arbeitsunfalls und seines notwendigen Nachweises (vgl. Rn. 38 bis 40, auf die an dieser Stelle verwiesen wird), wird begründet, warum der Senat nicht feststellen konnte, dass sich der Unfall (Infektion mit dem Covid-19-Virus mit behandlungsbedürftigen Symptomen) bei der versicherten Tätigkeit und nicht im privaten Bereich ereignet habe.
Zwar handle es sich bei der Infektion mit dem Coronavirus um einen „Unfall“ im Sinne eines von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses innerhalb einer bestimmten, wenn auch nicht kalendermäßig bestimmbaren Arbeitsschicht. Denn auch eine bakterielle oder virale Infektion könne nach der Rechtsprechung unzweifelhaft ein Unfallereignis i.S.v. § 8 Abs. 1 Sätze 1, 2 SGB VII darstellen. Etwas anderes gelte auch nicht deswegen, weil es im Rahmen des weltweiten Pandemiegeschehenes zu massenweise Infektionen mit dem Covid-19-Virus gekommen sei. Das zusätzliche Risiko, eine Infektion am Arbeitsplatz zu erleiden, sei dennoch durch die gesetzliche Unfallversicherung geschützt (mit Hinweis auf SG Konstanz, Urt. v. 16.09.2022 - S 1 U 452/22 Rn. 28).
Die Anerkennung als Arbeitsunfall scheitere vorliegend aber daran, dass auch unter Berücksichtigung aller Aspekte des Einzelfalles nicht im Vollbeweis nachgewiesen sei, dass der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls, also in dem Moment, in dem er sich mit dem Coronavirus infiziert habe, einer Verrichtung nachgegangen sei, die der versicherten Tätigkeit zugerechnet werden könne. Eine im Vollbeweis gesicherte „Verrichtung zur Zeit des Unfalls“ sei nicht erwiesen, da es nicht ermittelbar sei, bei welchem Ereignis sich der Kläger mit Covid-19 infiziert habe. Unabdingbare Mindest- und Ausgangsvoraussetzung für ein feststellbares, konkretes „Unfallereignis“ im Sinne eines Arbeitsunfalls durch eine erlittene (bakterielle oder wie hier) virale Infektion sei, dass der Betroffene im Rahmen einer versicherten Verrichtung im engen zeitlichem Zusammenhang mit der Infektion persönlichen Kontakt mit einer/m nachweisbar zeitlich vor dem Betroffenen infizierten Person (sog. Indexperson) gehabt habe (u.a. mit Hinweis auf SG Speyer, Urt. v. 07.02.2024 - S 12 U 178/22 Rn. 26; SG Osnabrück, Urt. v. 23.03.2023 - S 17 U 220/21 Rn. 33). Dieser Kontakt müsse im Vollbeweis gesichert feststehen. Auch in Zeiten einer weltweiten Pandemie stelle die bloße Zusammenarbeit von Menschen für sich genommen kein Unfallereignis dar, auch wenn jeder menschliche Kontakt die potenzielle Möglichkeit einer Infektion berge.
Grundsätzlich sei ein intensiver persönlicher Kontakt innerhalb von etwa zwei Wochen vor dem Eintritt der Erkrankung mit einer mit dem Coronavirus infizierten Person (sog. Indexperson) geeignet, eine Infektion mit dem Coronavirus auszulösen (u.a. mit Hinweis auf Brandenburg/Woltjen, MedSach 2021, 113, 116). Als die beiden einzig möglichen Indexpersonen seien die Zeugen O1 und Z1 benannt worden, die jedoch im Ergebnis nicht als Indexperson in Betracht kämen. Z1 sei nachweislich erst nach dem Kläger erkrankt und O1 sei nach den Feststellungen zeitgleich mit dem Kläger erkrankt. Zwar habe der Kläger behauptet, O1 habe ab dem 02.03.2021 auf der Arbeit „herumgeschnupft“, was nicht bestätigt werden könne und selbst eine Unterstellung als „wahr“ würde nichts ändern. Denn der Vollbeweis einer Corona-Infektion könne frühestens durch einen positiven Schnelltest, der im Nachgang durch einen PCR-Test bestätigt werde, als erbracht angesehen werden. Unbestimmte Symptome, die auf eine Vielzahl möglicher Erkrankungen zurückzuführen seien, könnten selbst dann nicht als Vollbeweis einer bereits zu diesem Zeitpunkt bestehenden Infektion dienen, wenn sich der Betroffene zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich mit Corona infiziere. Im Übrigen seien nur mögliche weitere, aber nicht gesichert feststellbare Infektionswege als Grundlage einer Tatsachenfeststellung im Vollbeweis ungeeignet. Die vom Robert-Koch-Institut (RKI) und dem folgend die Handlungsempfehlung des Spitzenverbands „Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung“ (DGUV) entwickelten Maßstäbe zur Bestimmung von engen Kontaktpersonen mit erhöhtem Infektionsrisiko hätten in erster Linie eine präventive Funktion verfolgt, um weitere Infektionen möglichst im Vorfeld zu verhindern, sie seien hingegen nicht geeignet, um aus einer ex-post-Perspektive gesicherte Infektionsketten festzustellen.
Abschließend sei auch kein Raum für etwaige Beweiserleichterungen wie z.B. einen Anscheinsbeweis (prima-facie-Beweis), bei dem es sich um eine Tatsachenvermutung handele. Denn es fehle bereits an einem typischen Geschehensablauf, der die Infektion typischerweise einer betrieblichen Verrichtung (und einer außerbetrieblichen) zuordne. Auch im Rahmen einer Pandemie mit Maskenpflicht seien Maßnahmen, die der allgemeinen Aufrechterhaltung (oder Wiederherstellung) der Arbeitsfähigkeit dienten, prinzipiell eigenwirtschaftlich wie z.B. eine Frühstücks- oder Mittagspause mit Nahrungsaufnahme. Erst recht würde weder eine Beweislastumkehr noch ein Beweisnotstand zugunsten des Klägers bestehen.


C.
Kontext der Entscheidung
Das LSG Stuttgart hat den Fall sehr ausführlich und auf hohem juristischen Niveau geprüft. Es kommt zu vollständig nachvollziehbaren und daher „richtigen“ Ergebnissen, die auch nicht unbillig sind, wie das LSG Stuttgart zu Recht bemerkt. Denn es ist zu berücksichtigen, dass der jeweilige Krankenversicherungsschutz voll greift und die gesetzliche Unfallversicherung ein Sondersystem darstellt, dass spezifische Risiken aus dem konkreten Verantwortungsbereich der Unternehmer abdecken soll (so das LSG Stuttgart unter Hinweis auf Spellbrink, jM 2023, 23, 25). Dem ist nichts hinzuzufügen. Einzig die Nichtzulassung der Revision ist angesichts der Breitenwirkung für die eingangs referierte hohe Fallzahl an gemeldeten potenziellen Arbeitsunfällen „schade“, auch wenn die Nichtzulassung verfahrensrechtlich nachvollziehbar ist.
Laut der aktuellen AWMF-S1-Leitlinie „Post-/Long-COVID“ (abrufbar unter https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/020-027, Stand: 03/2023, zuletzt abgerufen am 18.06.2024) spricht man im Übrigen von Long-Covid als Erkrankung, wenn die Symptome länger als vier Wochen bestehen. Dauern sie länger als 12 Wochen an oder kommen neue Gesundheitsstörungen hinzu, die nicht anderweitig erklärt werden können, lautet die Diagnose Post-Covid-Syndrom. Mit den besonderen Herausforderungen einer neurologisch-psychiatrischen Begutachtung befassen sich u.a. Tegenthoff/Drechsel-Schlund/Widder (NervA 2022, 804). Aspekte der Rehabilitation beleuchten z.B. Platz/Dewey/Köllner/Schlitt (Rehabilitation 2022, 297) oder Schüring/Widera (Rehabilitation 2023, 331). Relevant ist auch die „S2k-Leitlinie SARS-CoV-2, COVID-19 und (Früh-)Rehabilitation“ der AWMF (vgl. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/080-008, Stand: 12/2023, zuletzt abgerufen am 18.06.2024).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil bestätigt die wesentlichen Grundsätze der Praxis und bietet für die verbliebenen noch offenen Fälle wichtige Hinweise.



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!