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Anmerkung zu:BSG 12. Senat, Urteil vom 20.02.2024 - B 12 KR 3/22 R
Autor:Dr. Erich Koch
Erscheinungsdatum:25.07.2024
Quelle:juris Logo
Normen:Art 3 GG, § 75 SGG, § 6 SGB 5, § 70 GmbHG, § 15 HGB, § 5 SGB 5
Fundstelle:jurisPR-SozR 15/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Koch, jurisPR-SozR 15/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Krankenversicherungspflicht infolge möglicher abhängiger Beschäftigung eines Ex-Gesellschafter-Geschäftsführers einer in Liquidation befindlichen GmbH als „Assistent des Liquidators“



Orientierungssatz zur Anmerkung

Für die Abgrenzung von Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit ist bei Abberufung des Gesellschafter-Geschäftsführers einer GmbH mit 50 v.H. der Geschäftsanteile nicht die Eintragung in das Handelsregister maßgeblich. § 15 Abs. 1 HGB ist bei der sozialversicherungsrechtlichen Statusabgrenzung grundsätzlich nicht anzuwenden.



A.
Problemstellung
Das BSG hatte über die Frage der Krankenversicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V einer Person zu befinden, die neben mehreren am Tag der Liquidation bzw. danach formal begründeten Beschäftigungsverhältnissen zunächst weiterhin (bis zum 27.04.2017) als Gesellschafter-Geschäftsführer (mit 50 v.H. der Anteile) einer in Liquidation befindlichen GmbH im Handelsregister eingetragen war. Vor dem Hintergrund, dass der Kläger von 2006 bis Ende 2016 privat krankenversichert war, steht die Frage des unzulässigen Versuchs der manipulativen Erlangung des Schutzes der gesetzlichen Krankenversicherung im Raum. In diesem Zusammenhang war insbesondere die Bedeutung von § 15 Abs. 1 HGB bei der sozialversicherungsrechtlichen Statusabgrenzung zu klären.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Am 03.01.2017 beschlossen die beiden Gesellschafter die Liquidation der GmbH. Zum alleinvertretungsberechtigten Liquidator wurde der Bruder des Klägers bestellt. Am selben Tag schlossen die GmbH in Liquidation und der Kläger einen bis zum 31.12.2017 befristeten „Arbeitsvertrag“ über eine Tätigkeit des Klägers als „Assistent des Liquidators“. Der Kläger vollendete am 08.02.2017 sein 55. Lebensjahr und stellte mit Schreiben vom 10.02.2017 klar, er begehre die Aufnahme in die Pflichtversicherung. In Bezug auf zwei im März und im Mai 2017 eingegangene Beschäftigungsverhältnisse stellte die beklagte Krankenkasse jeweils die Versicherungsfreiheit fest. Hinsichtlich der Tätigkeit als Assistent des Liquidators der GmbH stellte sie dem gegenüber fest, dass in den Zweigen der Sozialversicherung keine Versicherungspflicht bestehe.
Das Sozialgericht hatte die auf Feststellung einer Pflichtmitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten ab 03.01.2017 gerichtete Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht hatte die Berufung unter Bezugnahme auf die Gründe des Sozialgerichts zurückgewiesen. Der Kläger habe nach wie vor die Hälfte der Geschäftsanteile der GmbH in Liquidation besessen und damit immer noch eine maßgebliche Einflussmöglichkeit auf den Inhalt der Gesellschafterbeschlüsse gehabt. Daher sei er dem neu bestellten Liquidator nicht weisungsunterworfen gewesen. Vielmehr seien Liquidatoren an die Weisungen der Gesellschafter, wozu nach wie vor auch der Kläger gezählt habe, gebunden. Zudem seien an eine Eintragung in das Handelsregister nach außen hin bestimmte Rechtsfolgen geknüpft. Daher sei nicht zu klären, ob es sich um ein nur zum Schein eingegangenes Arbeitsverhältnis gehandelt habe.
Mit seiner Revision rügte der Kläger die Verletzung von § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 1 SGB IV, Art. 3 Abs. 1 GG und § 15 HGB. Als Assistent des Liquidators sei er trotz seiner Gesellschafterstellung abhängig beschäftigt gewesen. Er allein habe dem Liquidator keine Weisungen erteilen können. Er sei mit Gesellschafterbeschluss vom 03.01.2017 mit sofortiger Wirkung als Geschäftsführer abberufen worden. Dass die entsprechende Eintragung in das Handelsregister erst am 27.04.2017 erfolgt sei, sei unerheblich.
Das BSG ist unter Hinweis auf § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG zum Ergebnis gekommen, die Sache sei bereits deshalb zurückzuverweisen, weil es das Landessozialgericht unterlassen habe, die (möglichen) Arbeitgeber des Klägers in seinen jeweiligen Tätigkeiten zum Verfahren notwendig beizuladen.
Ein entsprechender Verfahrensfehler sei im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachten (BSG, Urt. v. 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R). In einem Rechtsstreit zwischen Krankenkasse und Versicherten über das Bestehen oder Nichtbestehen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses sei der Arbeitgeber notwendig beizuladen, weil diese Frage auch im Verhältnis zum Arbeitgeber nur einheitlich entschieden werden könne (BSG, Urt. v. 18.08.1992 - 12 RK 35/92 Rn. 14).
Zunächst sei das Landessozialgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger in seinen ab 20.03.2017 und 08.05.2017 ausgeübten Tätigkeiten nach § 6 Abs. 3a SGB V versicherungsfrei in der GKV war, wenn er nicht schon vor Vollendung seines 55. Lebensjahres am 08.02.2017 eine Beschäftigung aufgenommen hatte. In der jeweils maßgeblichen Rahmenfrist von fünf Jahren war der Kläger nicht gesetzlich krankenversichert, sondern durchweg privat krankenversichert. Für die Versicherungsfreiheit in den seit 20.03.2017 und 08.05.2017 ausgeübten Beschäftigungen komme es damit entscheidend darauf an, ob er bereits ab 03.01.2017 als Assistent des Liquidators versicherungspflichtig beschäftigt war. Dies wiederum hänge davon ab, ob der am 03.01.2017 signierte Arbeitsvertrag nur zum Schein geschlossen wurde.
Ob im Ergebnis die beklagte Krankenkasse mit den angegriffenen Bescheiden den krankenversicherungsrechtlichen Status des Klägers in der Sache zutreffend festgestellt hat, könne der Senat anhand der Feststellungen des Landessozialgerichts nicht abschließend beurteilen. Bevor er auf Aspekte der fehlenden Feststellung eingeht, nennt der Senat – das Landessozialgericht in wesentlichen Punkten korrigierend – die für die Statusbeurteilung in einem solchen Fall heranzuziehenden Maßstäbe. Nach diesen grundsätzlich am Gesellschaftsrecht orientierten Maßstäben stehe eine bloße Stellung als Gesellschafter mit 50 v.H. der Geschäftsanteile einer versicherungspflichtigen Beschäftigung des Klägers prinzipiell nicht entgegen. Denn die Rechtsstellung eines mitarbeitenden Gesellschafters entspreche nicht derjenigen eines Gesellschafter-Geschäftsführers, der mit einer Beteiligung von 50 v.H. regelmäßig als selbstständig gelte.
Trotz seines hälftigen Anteils am Stammkapital fehle dem mitarbeitenden Gesellschafter eine mit eigenen organschaftlichen Rechten ausgestattete Führungsfunktion, um die Geschicke des Unternehmens wesentlich mitzubestimmen (vgl. BSG, Urt. v. 13.03.2023 - B 12 R 6/21 R Rn. 16 ff.). Mit der Bestellung seines Bruders zum „gekorenen“ Liquidator war der Kläger nicht mehr Geschäftsführer. Stattdessen sind die Liquidatoren im Abwicklungsstadium nach § 70 GmbHG zwingend das geschäftsführende und vertretungsberechtigte Organ der GmbH.
Die beklagte Krankenkasse habe den Kläger nicht bis zur Löschung der Gesellschaft im Handelsregister am 27.04.2017 weiterhin als deren Gesellschafter-Geschäftsführer behandeln dürfen. Gesellschaftsrechtlich sei er ab 03.01.2017 nicht mehr Geschäftsführer gewesen. Der Senat habe zwar in bestimmten Konstellationen einer Eintragung in das Handelsregister aus Gründen der Transparenz und Rechtssicherheit eine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung beitragsrechtlicher Sachverhalte beigemessen. Allein der Schutz des Rechtsverkehrs vor noch nicht bekanntgemachten einzutragenden Vorgängen (negative Publizität, § 15 Abs. 1 HGB) begründe jedoch nicht die Fiktion einer fortbestehenden Rechtsmacht.
Für die Abgrenzung von Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit sei jedenfalls bei Abberufung des Gesellschafter-Geschäftsführers einer GmbH nicht die Eintragung in das Handelsregister maßgeblich. § 15 Abs. 1 HGB sei bei der sozialversicherungsrechtlichen Statusabgrenzung grundsätzlich nicht anzuwenden. Diese Vorschrift normiere einen Einwendungsausschluss hinsichtlich (noch) nicht in das Handelsregister eingetragener Tatsachen und schütze das Vertrauen eines redlichen Dritten im Rechtsverkehr. Ein Dritter könne sich deshalb auf den Schutz dieser Bestimmung nur berufen, soweit er eine Rechtsposition geltend macht, die er aufgrund oder im Zusammenhang mit einer rechtsgeschäftlichen Betätigung im Vertrauen auf die registerliche Verlautbarung erlangt hat (vgl. BGH, Urt. v. 26.10.1999 - BLw 3/99 Rn. 12). Handle es sich dagegen um gesetzlich entstandene Ansprüche ohne rechtsgeschäftlichen Bezug, finde die Vorschrift keine Anwendung (vgl. bereits RG, Urt. v. 08.07.1918 - VI 94/18 - RGZ 93, 238, 240; BFH, Urt. v. 13.04.1978 - V R 94/74 - BFHE 125, 124 Rn. 9). Jedenfalls sei hier der Anwendungsbereich von § 15 Abs. 1 HGB schon deshalb nicht eröffnet, weil die Versicherungspflicht in der GKV aufgrund Beschäftigung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV kraft Gesetzes entstehe, sobald der geregelte Tatbestand verwirklicht sei. Für die Anknüpfung an ein Vertrauen in die Registerpublizität bestehe kein normativer Ansatzpunkt.


C.
Kontext der Entscheidung
In der Entscheidung wird klargestellt, dass die Rechtsprechung des BSG in bestimmten Sonderkonstellationen, wonach eine Eintragung in das Handelsregister entgegen den gesellschaftsrechtlichen Wertungen im Sozialversicherungsrecht konstitutive Wirkung entfaltet oder eine in das Handelsregister aufgenommene Gesellschafterliste entsprechend den gesellschaftsrechtlichen Wertungen sich ggf. auch gegenüber der wahren Berechtigung durchsetzt, nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar ist. Für Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft (AG) hat das BSG der Eintragung der AG sowie des Vorstandsmitglieds in das Handelsregister konstitutive Wirkung für die Versicherungsfreiheit beigemessen (BSG, Urt. v. 09.08.2006 - B 12 KR 3/06 R; BSG, Urt. v. 05.03.2014 - B 12 KR 1/12 R).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Zur Frage, unter welchen Umständen in derartigen Fällen ein Beschäftigungsverhältnis mit den entsprechenden sozialversicherungsrechtlichen Folgen möglich ist, greift das BSG über die klarstellenden generellen Ausführungen hinausgehend fallbezogen praktische Aspekte auf. Diese dürften verallgemeinerungsfähig sein. Für das Vorliegen eines (nichtigen) Scheinarbeitsverhältnisses könnten demnach trotz der vom Sozialrecht grundsätzlich nachzuvollziehenden gesellschaftsrechtlichen Wertung auch folgende Umstände sprechen: Das Arbeitsentgelt ist vor und nach der (vermeintlichen) Statusänderung gleich hoch geblieben; es liegen keine konkreten lebenspraktischen Sachverhalte vor, die für das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses glaubhaft gemacht werden; der Betroffene geriert sich im Außenverhältnis weiterhin als Geschäftsführer. Insofern wird es auf Tatsachenfeststellungen ankommen.



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