juris PraxisReporte

Anmerkung zu:SG Lüneburg 19. Kammer, Urteil vom 15.03.2024 - S 19 AS 38/21
Autor:Prof. Dr. Marc Sieper
Erscheinungsdatum:22.08.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 60 SGB 2, § 9 SGB 2, § 38 SGB 2, § 1303 BGB, § 104 BGB, § 1304 BGB, § 1307 BGB, § 20 SGB 2, § 421 BGB, § 7 SGB 2
Fundstelle:jurisPR-SozR 17/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Sieper, jurisPR-SozR 17/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft bei Dauer des Zusammenlebens von unter einem Jahr



Leitsatz

Von einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft kann auch bei einem Zusammenleben unter einem Jahr ausgegangen werden.



A.
Problemstellung
Das SG Lüneburg hat sich mit der Frage befasst, ob und wann bei einem Paar, welches noch kein Jahr zusammen in einer Wohnung lebt, von einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II ausgegangen werden kann. Das Gericht hat diese Frage im Ergebnis aufgrund einer Gesamtschau bejaht und den Grundsicherungsträger verpflichtet, über den Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen noch einmal zu entscheiden, sobald sich die andere Person der Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse erklärt hat, wozu diese nach § 60 Abs. 4 SGB II verpflichtet ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Streitig in dem vor dem SG Lüneburg geführten Verfahren waren Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, die der unter rechtlicher Betreuung stehende unverheiratete Kläger (Jahrgang 1991) unter dem 09.11.2020 beim zuständigen Träger beantragte. Dieser lehnte den Antrag mit Bescheid vom 08.01.2021 unter Verweis auf § 9 Abs. 2 SGB II ab. Ein Leistungsanspruch bestehe mangels Hilfebedürftigkeit nicht.
Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger Klage zum SG Lüneburg. Bereits bei Stellung des Antrags vom 09.11.2020 hatte der Kläger angegeben, seit dem 15.07.2020 mit einer „sonstigen Person“ zusammenzuwohnen. Bei dieser Person handle es sich um seine seinerzeitige Freundin, die er seit 2018 kenne und mit der er auch zeitlich vor dem Einzug in das gemeinsame Haus eine Beziehung geführt habe. Diesen Sachvortrag hielt der Kläger auch im Klageverfahren aufrecht und präzisierte diesen dahin gehend, dass der Mietvertrag von beiden gemeinsam unterzeichnet worden sei und die Alltagsaufgaben im Haushalt gemeinsam erledigt würden. Für das gemeinsam genutzte Haus sei zusammen die Küche vom Vormieter übernommen worden. Ferner erklärte der Kläger, dass er die Weihnachtstage, Geburtstage und seine Freizeit zusammen mit seiner Freundin verbringe und gemeinsam mit ihr verschiedene Versicherungen (Hausrat, Unfall und Rechtsschutz) abgeschlossen habe, die jährlich kündbar seien. Es gebe aber keine gemeinsamen Kinder oder Angehörige, die versorgt werden würden. Auch liegen keine Befugnisse hinsichtlich der Verfügung über das Einkommen oder das Vermögen vor. Nach Ansicht des Klägers habe der Grundsicherungsträger zu Unrecht aus den Gegebenheiten geschlossen, dass zwischen dem Kläger und seiner Freundin eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft bestehe, so dass die im Sozialverwaltungsverfahren erklärte Weigerung, Auskunft über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Freundin zu geben, nicht entscheidend sei und nicht auf eine fehlende Bedürftigkeit des Klägers geschlossen werden könne. Die Beziehung zu seiner Freundin sei im Übrigen zwischenzeitlich auch beendet.
Das SG Lüneburg hat zwar den Bescheid vom 08.01.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben, allerdings hat es den beklagten Grundsicherungsträger nicht zur Zahlung, sondern nur zur Neuberechnung des Leistungsanspruchs des Klägers verpflichtet.
In der Sache folgte das SG Lüneburg der behördlichen Entscheidung des Grundsicherungsträgers, dass sich der Kläger mit seiner Freundin jedenfalls bis zu deren Trennung in einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II befunden habe, so dass bei der Frage der Bedürftigkeit des Klägers als Leistungsvoraussetzung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II nach § 9 Abs. 2 SGB II auch das Einkommen sowie das Vermögen der Freundin zu berücksichtigen sei. Hierüber müsse sie sich erklären, wozu sie nach § 60 Abs. 4 SGB II verpflichtet sei.
Soweit der Kläger darauf hingewiesen habe, dass er und seine Freundin zum Zeitpunkt der Beantragung der Grundsicherungsleistungen noch kein Jahr zusammengelebt haben, wies das Sozialgericht darauf hin, dass sich die Beiden bereits schon länger gekannt haben und auch schon länger vor dem gemeinsamen Einzug in das Haus ein Paar gewesen seien. Es müsse eine Gesamtschau aller sonstigen Umstände (gemeinsame Unterzeichnung des Mietvertrages, gemeinsame Übernahme der Küche, gemeinsame Versicherungen, partnerschaftliche Verteilung der Aufgaben im Haushalt) vorgenommen werden, die das SG Lüneburg im Ergebnis als für eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft kennzeichnend erachtete. Dieser Wertung könne der Umstand, dass die Partnerschaft erst seit kurzer Zeit bestanden habe und das Lebensalter der Beiden jung gewesen sei, nicht entgegengehalten werden. Es sei gerade für eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft kennzeichnend, dass diese einen Anfang habe, von welchem an man das Zusammenleben ausprobiere. Nach Ansicht des Sozialgerichts finde das Füreinander-Verantwortung-Übernehmen und das Füreinander-Einstehen hier seinen Beginn und fortan werde dies in der Partnerschaft erprobt. Gerade dieses Ausprobieren des Zusammenlebens, des gemeinsamen Wirtschaftens in Bezug auf Alltagsangelegenheiten, diene dem Erkenntnisgewinn, ob sich die Partnerschaft langfristig bewähre. Ohne eine solche Phase handle es sich nicht um eine Partnerschaft, sondern bloß um eine Wirtschaftsgemeinschaft, die aber weder vom Kläger noch von seiner Freundin gewollt gewesen sei. Nach Ansicht des SG Lüneburg hat ein gemeinsames Zusammenleben und die Partnerschaft auszuprobieren im Vordergrund gestanden.
Der Leistungsanspruch des Klägers müsse somit noch einmal unter Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Freundin berechnet werden.
Vor diesem Hintergrund wurde der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben und der klägerische Antrag zur Neubescheidung an den Grundsicherungsträger zurückgegeben. Das Urteil des SG Lüneburg ist rechtskräftig geworden.


C.
Kontext der Entscheidung
Im System der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist die Frage der Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 SGB II von entscheidender Bedeutung. Sie wirkt sich unmittelbar auf den Leistungsanspruch aus.
Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II erhalten auch diejenigen Personen, die mit einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenleben, Leistungen nach dem SGB II, selbst wenn diese Personen ihrerseits nicht die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen. Dies betrifft vor allem die unter 15jährigen Kinder, denen wegen Nichterreichens der in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II genannten Altersgrenze ein originärer Leistungsanspruch nach dem SGB II verwehrt ist und die von der Systematik her dann eigentlich Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII erhalten würden.
Die Gesetzgebung geht darüber hinaus davon aus, dass innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft von den beiden dort zusammenlebenden Partnern bzw. Partnerinnen Synergieeffekte genutzt werden können, weil bedingt durch das Zusammenleben anders gewirtschaftet werden kann, z.B. Anschaffungen nicht doppelt getätigt werden müssen oder anders eingekauft werden kann. Soweit es die Leistungsansprüche von volljährigen Partnern und Partnerinnen in einer Bedarfsgemeinschaft angeht, führt dies dazu, dass der Regelbedarf dann nicht nach der Regelbedarfsstufe 1 für Alleinstehende nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II (2024: 563 Euro), sondern nach der Regelbedarfsstufe 2 nach § 20 Abs. 4 SGB II (2024: 506 Euro) berechnet wird. Die Regelbedarfsstufe 2 entspricht stets 90% der Regelbedarfsstufe 1 (BVerfG, Beschl. v. 27.07.2016 - 1 BvR 371/11; Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 20 Rn. 110; Saitzek in: Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 20 Rn. 32; Krauß in: Hauck/Noftz, SGB II, Erg.-Lfg. 2/16, Stand II/16, § 20 Rn. 33).
Aber auch in Bezug auf die Frage der Hilfebedürftigkeit ist die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft relevant. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind Einkommen und Vermögen der jeweils anderen Partnerin bzw. des jeweils anderen Partners bei der Frage der Hilfebedürftigkeit zu berücksichtigen. Dies kann dazu führen, dass der antragstellenden Person selbst dann, wenn sie selbst weder über Einkommen noch Vermögen verfügt, ein Leistungsanspruch versagt bleibt, wenn die Partnerin bzw. der Partner aufgrund ihrer bzw. seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse in der Lage ist, den Bedarf beider Personen zu decken. Die wirtschaftlich stärkere Person ist dann verpflichtet, finanzielle Mittel auch zur Deckung des Bedarfs der anderen Person zu verwenden. Diese ist dann nicht (mehr) hilfsbedürftig i.S.d. § 9 Abs. 1 SGB II.
Bei einer Bedarfsgemeinschaft handelt es sich um eine Wirtschafts- und Wohngemeinschaft der in § 7 Abs. 3 SGB II genannten Personen, die zusammen in einem gemeinsamen Haushalt leben bzw. bei denen es kein dauerhaftes Getrenntleben gibt und die zueinander in einer bestimmten Beziehungskonstellation stehen. Es genügt somit nicht, nur zusammen in einer gemeinsamen Wohnung zu wohnen, z.B. wenn sich mehrere Personen eine gemeinsame Wohnung teilen (Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Erg.-Lfg. 2/24, Stand III/24, § 7 Rn. 217; G. Becker in: Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 7 Rn. 116). Erforderlich ist ein Zusammenleben, was mehr ist als ein Zusammenwohnen.
Welche Personen zu einer Bedarfsgemeinschaft gehören, ergibt sich aus § 7 Abs. 3 SGB II. Es muss nach § 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II mindestens eine leistungsberechtigte erwerbsfähige Person in der Bedarfsgemeinschaft vorhanden sein, die alle Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllt (sog. Ankerperson, vgl. Groth, jurisPR-SozR 18/2017 Anm. 1; auch Hauptleistungsberechtigte/r oder primär Leistungsberechtigte/r, vgl. Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 193). Bedarfsgemeinschaften können aus mehreren Personen, aber auch aus nur einer einzelnen Person bestehen, sog. Einpersonenbedarfsgemeinschaft (Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 195, 196). Die Ankerperson vertritt nach § 38 SGB II die Bedarfsgemeinschaft im Antragsverfahren und kann für alle ihre Mitglieder Erklärungen abgeben. Sodann gehören nach § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils zur Bedarfsgemeinschaft, nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in § 7 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 SGB II genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Als Partner oder Partnerin der Ankerperson gehören dann nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. a SGB II die Ehefrau oder der Ehemann oder im Falle einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem LPartG nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b SGB II die jeweilige Partnerin oder der jeweilige Partner zur Bedarfsgemeinschaft.
Die Zuordnung einer der vorgenannten Personen zu einer Bedarfsgemeinschaft lässt sich aus Sicht des Grundsicherungsträgers stets zweifelsfrei und ohne größere Anstrengungen ermitteln. In allen Fällen gibt es einen behördlichen Akt sowie ein hierauf ergangenes behördliches Dokument, aus dem sich die erforderliche Beziehungskonstellation eindeutig ergibt, z.B. eine Geburts- oder eine Heiratsurkunde.
Hieran fehlt es bei der letzten Beziehungskonstellation, die zum Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft führt. Hierbei handelt es sich um die sog. Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II. Mangels Anknüpfung an einen behördlichen Vorgang gestaltet sich die Zuordnung zu dieser Beziehungskonstellation in der Praxis nicht selten schwierig. Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II liegt eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft vor, wenn die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person mit einer anderen Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Die Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II ist mit Wirkung zum 01.08.2006 durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl I 2006, 1706) an die Stelle der früheren „eheähnlichen Lebensgemeinschaft“ getreten und umfasst auch gleichgeschlechtliche, nicht zwingend sexuelle Beziehungen. Ob eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II vorliegt, muss der Grundsicherungsträger prüfen, ggf. auch durch Hausbesuche.
Es gibt objektiv feststellbare Kriterien, namentlich die rechtliche Möglichkeit des Vorliegens einer Partnerschaft und das Zusammenleben in einer Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Dass diese Voraussetzungen vorliegen, kann und muss der Grundsicherungsträger konkret nachweisen und hierfür trägt er auch die Beweislast.
Von dem Bestehen einer Partnerschaft ist auszugehen, wenn eine gewisse Ausschließlichkeit (Treue) gegeben ist, die keine vergleichbare Lebensgemeinschaft daneben zulässt (BSG, Urt. v. 23.08.2012 - B 4 AS 34/12 R; SG Aachen, Urt. v. 18.02.2014 - S 14 AS 444/13: „Zweitfrau nach islamischem Recht“; G. Becker in: Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 7 Rn. 116; Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 222). Insoweit wird vom Gesetz ein „monogamer Charakter einer Beziehung“ unterstellt (Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 222). Eine derart intensive Beziehung wie die Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft kann folglich nur mit einer anderen Person begründet werden und ist demnach in auf Pluralität ausgelegte polyamore Beziehungsmodelle nicht denkbar. Zudem muss zwischen der erwerbsfähigen hilfebedürftigen Person und der anderen Person die grundsätzlich rechtlich zulässige Möglichkeit einer Heirat bestehen (BSG, Urt. v. 23.08.2012 - B 4 AS 34/12 R; Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 7 Rn. 214; Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 222: „Daumenregel“).
Es darf somit kein rechtliches Ehehindernis bestehen, wobei von den in der Bundesrepublik Deutschland aktuell bestehenden Ehehindernisse ausgegangen werden muss. Irrelevant ist demnach, ob nach dem Recht eines anderen Staates, dem die leistungsberechtigte Person oder die zweite Person angehört, die Eingehung der Ehe rechtlich zulässig wäre (Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O. zur „Zweitfrau nach islamischem Recht“). Somit kann seit der Änderung von § 1303 BGB zum 22.07.2017 in der Bundesrepublik Deutschland mit einer minderjährigen Person keine Ehe mehr eingegangen werden, so dass von diesem Zeitpunkt an auch keine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II mit einer minderjährigen Person denkbar ist. Dem steht auch nicht die in § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II genannte Konstellation für die Zubilligung der Regelbedarfsstufe 1, wenn der Partner bzw. die Partnerin der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person minderjährig ist, entgegen. Diese Regelung mag sich aktuell auf wenige Fälle, in denen nach dem Recht eines anderen Staates wirksam die Ehe mit einer minderjährigen Person begründet wurde, beziehen und im Übrigen aus Sicht des deutschen Rechts nur noch für eine geringe, zwischenzeitlich abgelaufene faktische Übergangszeit Bedeutung gehabt haben. Ausgehend von den Wertungen des § 1303 BGB muss eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft mit einer minderjährigen Person aktuell abgelehnt werden.
Darüber hinaus kann eine Ehe nicht mit einer geschäftsunfähigen Person oder zwischen geschäftsunfähigen Personen i.S.d. § 104 Nr. 2 BGB (vgl. § 1304 BGB), Verwandten gerader Linie (vgl. § 1307 BGB) sowie Geschwistern und Halbgeschwistern (vgl. § 1307 BGB) begründet werden, so dass auch in diesen Beziehungskonstellationen Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaften ausscheiden. Soweit die Eheverbote überwindbar sind, z.B. durch eine Ehescheidung, stehen diese der Annahme einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft nicht entgegen, so dass eine solche auch dann gegeben ist, wenn eine noch verheiratete Person mit einer anderen Person in „eheähnlicher Gemeinschaft“ in einem Haushalt zusammenlebt (LSG Essen, Urt. v. 17.01.2018 - L 12 AS 213/17; Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 7 Rn. 14; zum SGB XII: BSG, Urt. v. 05.09.2019 - B 8 SO 14/18 R; Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl. 2024, § 20 Rn. 24).
Das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt erfordert das Bestehen einer „Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft“ und verlangt zwei Elemente, nämlich das Zusammenleben und kumulativ das „Wirtschaften aus einem Topf“ (BSG, Urt. v. 12.10.2016 - B 4 AS 60/15 R; BSG, Urt. v. 23.08.2012 - B 4 AS 34/12 R; G. Becker in: Harich/Luik, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 7 Rn. 117; Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 223). Diese objektiven Kriterien lassen sich im Zweifelfall eindeutig bejahen oder verneinen. Die hierdurch erzielten Ersparnisse in der Lebensführung rechtfertigen letztlich auch den im Verhältnis zum Zusammenleben zweier alleinstehender Personen niedrigeren Regelbedarf der Regelbedarfsstufe 2 nach § 20 Abs. 4 SGB II (BSG, Urt. v. 15.02.2023 - B 4 AS 2/22 R; Krauß in: Hauck/Noftz, SGB II, Erg.-Lfg. 2/16, Stand II/16, § 20 Rn. 33).
Problematischer ist allerdings das subjektive Kriterium einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II. Bei den beiden Partnerinnen bzw. Partnern muss nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen sein, dass sie Verantwortung füreinander tragen und füreinander einstehen, wobei sich dieser Wille auf die Einstandsbereitschaft für sämtliche Not- und Wechselfälle des Lebens beziehen muss (Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 7 Rn. 197). Hierbei handelt es sich um „innere Tatsachen“, die für außenstehende Personen nur schwer ergründbar sind. Der Wille muss auch wechselseitig sein, so dass es nicht genügt, wenn dieser bei der einen der beiden Personen vorhanden ist und bei der anderen Person nicht, insbesondere wenn diese einen solchen bedeutsamen Willen gerade wegen der damit verbundenen Verantwortung ausdrücklich ablehnt.
Wegen all der Schwierigkeiten im Nachweis greift zugunsten des Grundsicherungsträgers eine Beweiserleichterung ein, welche diesen aber im Ergebnis nicht von der Darlegungs- und Beweislast entpflichtet. Nach § 7 Abs. 3a SGB II kann sich der Grundsicherungsträger auf eine Vermutung berufen, wenn jedenfalls eines der dort genannten Indizien vorliegt. Die leistungsberechtigte Person kann diese Vermutung ihrerseits aber widerlegen. Die Anforderungen hierfür sind allerdings nicht sehr hoch. Es bedarf eines „substantiierten Vortrags“ (Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 235), so dass es genügt, wenn „plausible Gründe“ (G. Becker in: Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 7 Rn. 121) bzw. „konkrete Umstände“ (Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 7 Rn. 219) dargelegt werden, die ähnlich gewichtig wie die positiven Hinweistatsachen und geeignet sind, deren Indizienkraft zu zerstören. Schweigt sich die leistungsberechtigte Person jedoch aus und tritt den Feststellungen des Grundsicherungsträgers nicht entgegen, gilt eine aufgezeigte Vermutung als nicht erschüttert.
Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II einzustehen, wird nach § 7 Abs. 3a SGB II dann vermutet, wenn die beiden Partnerinnen bzw. Partner länger als ein Jahr zusammenleben (Nr. 1), mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben (Nr. 2), Kinder oder Angehörige des anderen Partners bzw. der anderen Partnerin im Haushalt versorgen (Nr. 3) oder befugt sind, über Einkommen oder Vermögen der anderen Person zu verfügen (Nr. 4). Auch wenn die Gesetzgebung mit § 7 Abs. 3a SGB II einen Katalog an möglichen Vermutungen vorgibt, muss bedacht werden, dass es sich nicht um die einzigen Umstände handelt, aufgrund derer auf einen Einstehenswillen i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II geschlossen werden kann, sondern dass es auf die Gesamtumstände des Einzelfalls ankommt.
Hiervon geht auch die Entscheidung des SG Lüneburg aus. Der dortige Kläger hatte sich in seiner Argumentation zu sehr darauf versteift, dass er bei Antragstellung im November 2020 mit seiner seinerzeitigen Freundin noch kein Jahr in einem gemeinsamen Hausstand zusammenlebte und alle anderen Umstände, die für das Vorliegen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft sprachen, ausgeblendet. Richtig dürfte aber seine Ansicht gewesen sein, dass die Tatsache, dass die beiden noch kein volles Jahr zusammengelebt haben, erst einmal gegen das Bestehen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft gesprochen hatte (so auch: LSG Hamburg, Beschl. v. 08.02.2007 - L 5 B 21/07 ER AS). Es bedurfte dann „beachtlicher Gründe“, die in einem solchen Fall die Annahme einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft rechtfertigten (Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 7 Rn. 222 m.w.N.; Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 227: „besondere Umstände“).
Diese hat das SG Lüneburg im konkreten Fall auch gesehen. Das Gericht hat hier eine Gesamtschau aller Umstände dieses Einzelfalls vorgenommen und insbesondere zu Recht darauf abgestellt, dass sich der Kläger und seine seinerzeitige Freundin schon länger kannten und auch schon vor dem Zusammenziehen eine Beziehung führten. Gerade dem Umstand, dass beide Personen gemeinsame Versicherungen (Haftpflicht, Unfall und Rechtsschutz) vorgehalten hatten, ist im Hinblick auf die Frage, ob die beiden Personen den Willen hatten, Sorge und Verantwortung füreinander zu übernehmen, besonderes Gewicht beizumessen. Diese wechselseitige Absicherung ist für den sich eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft begründenden Einstandswillen charakteristisch (im Ergebnis so auch: Leopold in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 7 Rn. 229; Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 7 Rn. 198: Hausrats- und Haftpflichtversicherung). Beide Personen haben auch gleich zu Beginn ihres Zusammenziehens mit der Übernahme der im Haus vorhandenen Küche vom Vormieter Vermögensdispositionen vorgenommen, die auf ein längerfristiges Zusammenleben gerichtet sind (allg. hierzu auch: Valgolio in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 7 Rn. 198: gemeinsame Investitionen). Auch die Unterzeichnung eines gemeinsamen Mietvertrages spricht hierfür. Auch wenn sich die Entscheidung des SG Lüneburg nicht hierzu verhält, dürfte davon ausgegangen werden, dass sicherlich im Rahmen dieses Mietvertrages aufseiten der mietenden Partei zwischen den beiden Personen eine Gesamtschuld i.S.d. § 421 BGB begründet worden ist. Diese hätte selbst bei einer internen Verteilung der Miete auf die beiden Mitmietparteien zur Folge, dass die Vermieterin bzw. der Vermieter berechtigt wäre, bei Ausfall der einen Partei den gesamten Mietzins von der anderen Mitmietpartei zu verlangen. Hierbei handelt es sich zwar (noch) nicht um eine Verfügung über das Einkommen bzw. das Vermögen der jeweils anderen Person i.S.d. § 7 Abs. 3a Nr. 4 SGB II, würde aber eindeutig den Einstehenswillen in Hinblick auf den Mietanteil der anderen Mitmietpartei bekunden.
Insgesamt wertete das SG Lüneburg die noch nicht ein Jahr andauernde Zeit des Zusammenlebens des Klägers mit seiner seinerzeitigen Freundin als eine Zeit des „Ausprobierens des Zusammenlebens“ mit dem Ziel der Erkenntnisgewinnung, ob sich die Partnerschaft langfristig bewährt. Somit kann der für eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II erforderliche Einstehenswille bei Ernsthaftigkeit der Absicht auf ein langfristiges Zusammenleben folglich bereits am ersten Tag bestehen. Dann begründen die Partner bzw. Partnerinnen eine „Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft auf Probe“, die zwar erst einmal testweise angelegt, aber bereits mit allen Elementen einer „richtigen“ Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft ausgestattet war. Die hierfür erforderliche Ernsthaftigkeit und der Wille, längerfristig zusammenzuleben und füreinander einzustehen und Verantwortung zu übernehmen, lag eindeutig vor.
Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht auf die „ex-post“-Sicht an, ob sich das Zusammenleben der Personen bewährt hat. Der Kläger hatte ausweislich der Entscheidung des SG Lüneburg in der mündlichen Verhandlung am 15.03.2024 ausgeführt, dass sich das Paar vor rund anderthalb Jahren getrennt habe, was im September 2022 gewesen sein muss. Auf das schlussendliche Scheitern kommt es aber nicht an, zumal ausgehend von einem gemeinsamen Einzug im Juli 2020 die zwischen dem Kläger und seiner seinerzeitigen Freundin bestehenden Beziehung mit etwas mehr als zwei Jahren die in § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II genannte Jahresfrist jedenfalls überdauert hätte. Aber auch eine zeitlich frühere Trennung der beiden hätte auf die gut begründete Entscheidung des SG Lüneburg keine Auswirkungen haben dürfen. Eine „zur Probe“ begründete Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft ist eine Einstehens- und Verwaltungsgemeinschaft.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft im System der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ist aus Sicht der leistungsberechtigten Personen von entscheidender Bedeutung und wirkt sich zwischen Partnerinnen und Partnern sowohl auf die Frage der Bedürftigkeit als auch auf die Leistungshöhe aus. In der Praxis können die allermeisten der in § 7 Abs. 3 SGB II genannten Beziehungskonstellationen, die eine Bedarfsgemeinschaft begründen, eindeutig und unproblematisch eingeordnet werden. Einzig die Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II kann in der Prüfung Schwierigkeiten bereiten, weil es an einem formellen behördlichen Akt, der die Beziehungskonstellation begründet, fehlt. Hier kommt es neben der grundsätzlichen Möglichkeit der Begründung einer Ehe nach deutschem Recht und einem „Wirtschaften aus einem Topf“ auf die Umstände des Einzelfalls an, ob ein wechselseitiger Wille, füreinander einzustehen und für füreinander Verantwortung zu übernehmen, gegeben sein kann. Die Gründe, die hierfür sprechen, sind mannigfaltig und von der Gesetzgebung nicht abschließend geregelt. § 7 Abs. 3a SGB II nennt hier nur widerlegbare Indizien. Die Verneinung der für das Vorliegen dieses Einstehenswillens in § 7 Abs. 3a SGB II genannten Indizien darf die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nicht dazu verleiten, eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II abzulehnen. Insbesondere sollte man nicht pauschal nur darauf abstellen, dass man mit seiner Partnerin bzw. seinem Partner noch nicht ein Jahr lang zusammenlebt.
Das SG Lüneburg hat nachvollziehbar begründet, dass die Intensität der Beziehung, die man von einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft i.S.d § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II erwartet, bereits auch schon ab dem ersten Tag bestehen kann (so auch: LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 21.06.2006 - L 29 B 314/06 AS ER).



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