juris PraxisReporte

Anmerkung zu:LSG Halle (Saale) 6. Senat, Urteil vom 28.05.2024 - L 6 U 48/22
Autor:Prof. Dr. Peter Becker, Vors. RiBSG a. D.
Erscheinungsdatum:05.09.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 8 SGB 7, § 2 SGB 7, § 3 SGB 7, § 6 SGB 7, § 160 SGG
Fundstelle:jurisPR-SozR 18/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Becker, jurisPR-SozR 18/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Quadrizepssehnenriss als Unfallfolge



Leitsätze

1. Naturwissenschaftliche Ursächlichkeit der versicherten Verrichtung für den Schaden liegt vor, wenn der Schaden in dem konkreten Ablauf ohne sie nicht eingetreten wäre.
2. Die Ursache ist wesentlich, wenn weitere Ursachen in ihrer Gesamtheit ihr gegenüber nicht von überragender Bedeutung sind.



A.
Problemstellung
Umstritten ist die „Anerkennung“ eines Ereignisses als Arbeitsunfall, konkret von Quadrizepssehnenrissen beiderseits als Unfallfolge.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der 1955 geborene Kläger, der u.a. an Diabetes mellitus Typ 2 sowie Bluthochdruck litt, stolperte am 16.06.2019 als ehrenamtlicher Helfer beim Abbau eines Podests nach einem Konzert in einer Kirche, fiel hin und konnte nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen. Intraoperativ zeigten sich rechts ein vollständiger und links ein hälftiger Quadrizepssehnenriss.
Nach weiteren Angaben des Klägers zu dem Geschehen, wie Hängenbleiben der Füße und Sturz nach hinten, sowie ärztlichen Aussagen zu einer Sehnenverkalkung und zu frischen Unterblutungen ohne wesentliche degenerative Veränderungen der rechten Sehne, während links reparative Umbauvorgänge sowie eine chondroide Metaplasie auszumachen seien, lehnte die beklagte Trägerin der Unfallversicherung die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab. Die Quadrizepssehnenrupturen seien nicht auf dieses Ereignis zurückzuführen, sondern auf die festgestellte Verkalkung (Bescheid vom 22.08.2019).
Der eingelegte Widerspruch wurde nach Einholung weiterer ärztlicher Stellungnahmen, in denen partiell nekrotisches Gewebe der Rupturzone, Texturstörungen sowie scholligen Verkalkungen diagnostiziert wurden, zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 26.05.2020).
Das angerufene Sozialgericht holte ein orthopädisch-unfallchirurgische Gutachten von D. ein und wies die Klage mit Urteil vom 26.07.2022 ab. Selbst wenn von der letzten Schilderung des Geschehens durch den Kläger ausgegangen werde, sei ein wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen dem Sturz und den Quadrizepssehnenrupturen entsprechend den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen angesichts der degenerativen Vorschäden, der die Rupturen begünstigenden Stoffwechselerkrankungen sowie des Alters des Klägers nicht hinreichend wahrscheinlich.
Das LSG Halle hat im Berufungsverfahren eine ergänzende Stellungnahme von D. eingeholt und diesen in der mündlichen Verhandlung gehört. In der Sache hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Ein Arbeitsunfall sei nicht feststellbar, weil die als Erstschaden geltend gemachten Quadrizepssehnenrisse nicht wesentlich durch die versicherte Verrichtung verursacht worden seien.
Nach § 8 Abs. 1 Sätze 1, 2 SGB VII seien Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit); Unfälle seien zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die – hier allein zu prüfen – zu einem Gesundheitsschaden führen. Für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall sei danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls seiner versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei (sachlicher bzw. innerer Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt habe und dieses Unfallereignis einen Gesundheits(erst)schaden des Versicherten verursacht habe (Hinweis auf BSG, Urt. v. 04.09.2007 - B 2 U 24/06 R; BSG, Urt. v. 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R). Für den Nachweis der Ursachenzusammenhänge genüge die hinreichende Wahrscheinlichkeit (Hinweis auf BSG, Urt. v. 02.04.2009 - B 2 U 30/07 R; BSG, Urt. v. 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R). Sie bestehe, wenn mehr für als gegen eine Verursachung spreche und ernste Zweifel daran ausscheiden. Erst wenn feststehe, dass ein bestimmtes Ereignis (hier vom 16.06.2019) eine naturwissenschaftliche Ursache für einen Erfolg (die Quadrizepssehnenrupturen) sei, stelle sich in einem zweiten Schritt die Frage nach einer wesentlichen Verursachung des Erfolgs durch das Ereignis.
Zwar sei der Kläger im Rahmen einer nach § 2 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b SGB VII versicherten Tätigkeit gestürzt und seien bei ihm intraoperativ Quadrizepssehnen(teil)rupturen beiderseits belegt. Es liege jedoch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass diese Rupturen durch den Sturz verursacht worden seien.
Für den Teilriss der linken Quadrizepssehne nehme das Gericht aufgrund der Angabe des Klägers zu dessen Gunsten an, dass dieser im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang des Sturzes erfolgt sei. Für den vollständigen Riss im rechten Knie gehe das Gericht von der naturwissenschaftlichen Kausalität aus, weil dafür neben den Angaben des Klägers zum Schmerzverlauf sehr deutlich die in der feingeweblichen Untersuchung nachgewiesenen Spuren frischer Blutungen sprechen.
Die Unterbrechung der Schrittfolge des Klägers durch das Anstoßen an der Treppenstufe mit Kontrollverlust über die weitere Fortbewegung sei im Sinne naturwissenschaftlicher Kausalität für beide Risse wirksam, weil sie zu dieser Zeit ohne diese Einwirkung höchst unwahrscheinlich seien. Die späteren, ins Einzelne gehenden Darstellungen eines näheren Unfallablaufs durch den Kläger seien nicht glaubhaft, weil er schon in seiner ersten Darstellung mit der Einschränkung als „offenbar“ deutlich gemacht habe, dass er eine konkrete Erinnerung an genaue Abläufe nicht habe.
Vom Landessozialgericht verneint wird jedoch – ohne dass dies klar ausgesagt wird – eine wesentliche Verursachung der beiden Quadrizepssehnenrisse durch das Stolpern und Stürzen des Klägers, denn es wird ausgeführt: Neben der Einwirkung des Ereignisses liege eine unfallunabhängige Schadensursache vor, der gegenüber dem Ereignis nach der Einschätzung des Sachverständigen die überragende Bedeutung für den Eintritt der Risse zukomme. Diese schlüssige Beurteilung des Ereignisses als unwesentlich nehme der Sachverständige D. vor, indem er das Ereignis als Gelegenheitsursache einordne und degenerative Veränderungen als klar gegen eine unfallbedingte Verursachung sprechend werte. Denn es ließen sich im Bereich der Rissbildungen mittelbar knorpelige Umbauvorgänge und Verkalkungen nachweisen. Dies stehe in Übereinstimmung mit den zuvor im Laufe des Verfahrens eingeholten ärztlichen Stellungnahmen.


C.
Kontext der Entscheidung
Der Entscheidung liegt ein Standardfall aus der gesetzlichen Unfallversicherung zugrunde: Eine nach den §§ 2, 3, 6 SGB VII versicherte Person stürzt bei einer versicherten Tätigkeit oder erfährt hierbei eine andere Beeinträchtigung der körperlichen Fähigkeiten und es stellt sich die Frage, ob der anschließend festgestellte Gesundheitsschaden durch die versicherte Tätigkeit i.S.d. SGB VII verursacht wurde und ein zu entschädigender Arbeitsunfall vorliegt.
Vergleichbar zu der vorliegenden Fallgestaltung der Quadrizepssehnenrisse sind Risse der Achillessehnen (letztens z.B. LSG Darmstadt, Urt. v. 05.02.2021 - L 3 U 205/17), des Meniskus (letztens z.B. LSG Hamburg, Urt. v. 29.06.2022 - L 2 U 46/20) oder der Supraspinatussehne (letztens z.B. LSG Stuttgart, Urt. v. 19.02.2020 - L 8 U 4109/19).
Der entscheidende Punkt in solchen Verfahren ist die Beurteilung der haftungsbegründenden Kausalität zwischen der Einwirkung im Rahmen des Unfallereignisses und dem Gesundheitsschaden. Diese Beurteilung hat nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu erfolgen und hervorzuheben ist die Unterscheidung zwischen der Prüfung der naturwissenschaftlichen Verursachung i.S.d. conditio-sine-qua-Formel auf der ersten Stufe und die wertende Prüfung der Wesentlichkeit auf der zweiten Stufe. Dies alles ist gefestigte langjährige Rechtsprechung des BSG, auf die das LSG Halle sich auch bezieht (vgl. BSG, Urt. v. 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196; BSG, Urt. v. 05.07.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274; letztens z.B. BSG, Urt. v. 21.03.2024 - B 2 U 14/21 R - vorgesehen für BSGE, vgl. zudem z.B. Becker, Peter, Der Arbeitsunfall, SGb 2007, 721 ff., 722 f., 727 f.).
Von daher kann der Entscheidung vor dem Hintergrund des mitgeteilten Sachverhalts nur zugestimmt werden, zumal ein vorbestehender degenerativer Verschleiß eine typische konkurrierende, nicht versicherte Ursache sein kann, die gegenüber der versicherten Ursache von so überragender Bedeutung ist, dass letztere nicht wesentlich ist. Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit sind die Umstände des Einzelfalls von ausschlaggebender Bedeutung: Welche konkurrierende(n), nicht-versicherte(n) Ursache(n) gibt es? Welches Gewicht haben sie im Rahmen der Ursachenbeurteilung? Wie war der genaue Ablauf des Unfallereignisses? Welche Kräfte wurden dabei frei? Warum ist die versicherte Ursache wesentlich oder nicht wesentlich? Wobei zu erinnern ist: „Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben)“ (BSG, Urt. v. 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 Rn. 15 m.w.N.). Das Herausarbeiten dieser Entscheidungskriterien mit Hilfe ärztlichen Sachverstandes ist der Kern solcher Verfahren.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des LSG Halle hat keine spezifischen Auswirkungen auf die Praxis, sondern verdeutlicht nur ein weiteres Mal anhand einer klassischen Fallkonstellation die Anwendung der Theorie der wesentlichen Bedingung und deren Folgen, die für Laien sowieso und für mit der gesetzlichen Unfallversicherung wenig vertraute Juristinnen und Juristen schwer nachzuvollziehen sind. In der Vermittlung dieser dogmatisch richtigen, aber schwer zu vermittelnden Folgen – keine Feststellung eines Arbeitsunfalls und keine Entschädigung trotz des klaren zeitlichen Zusammenhangs – liegen die finalen Schwierigkeiten solcher Verfahren.
Im Ergebnis ist die Entscheidung des Landessozialgerichts, wie ausgeführt, überzeugend und die Nichtzulassung der Revision ebenfalls. Eine mögliche Nichtzulassungsbeschwerde könnte allenfalls auf einen Verfahrensmangel nach § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG gestützt werden.



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