Gehörsverletzung bei Übergehen des Kerns des klägerischen VorbringensLeitsätze 1. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer zentralen Frage des Rechtsstreits in den Entscheidungsgründen nicht ein, handelt es sich regelmäßig um eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Gleiches gilt, wenn das Gericht den erkennbaren Kerngehalt des Vortrags des Beteiligten nicht ausschöpft. 2. Weicht das aus dem Poststempel ersichtliche Datum von dem Absendevermerk der Behörde ab, gebührt regelmäßig dem Poststempel der Vorrang. 3. Wenn ein Urteil angegriffen wird, das zu mehreren Verwaltungsakten (Streitgegenständen) ergangen ist, ist grundsätzlich erst die Rechtsmittelbegründungsschrift für die Konkretisierung des Umfangs der Urteilsanfechtung maßgebend. Wenn einzelne Streitgegenstände zwar nicht im Rubrum der Rechtsmittelschrift, wohl aber in der Rechtsmittelbegründungsschrift bezeichnet werden, ist das Urteil daher auch hinsichtlich dieser Streitgegenstände als angefochten anzusehen, sofern zuvor nicht ein ausdrücklicher und eindeutiger Rechtsmittelverzicht ausgesprochen worden ist. - A.
Problemstellung Das Besprechungsurteil betrifft den verfahrensrechtlichen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) im finanzgerichtlichen Verfahren. Konkret ging es darum, dass das FG den wesentlichen Vortrag des Klägers zur Bekanntgabe der angegriffenen Einspruchsentscheidung nicht wahrgenommen hatte. Daraufhin hat der Kläger das finanzgerichtliche Urteil mit einer Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung I. Der Kläger (ein juristischer Laie) erhob am 16.08.2023 Klage gegen die Einspruchsentscheidung des FA vom 07.07.2023, die einen Einspruch zur Einkommensteuerfestsetzung 2018 und 2019 sowie zu entsprechenden Verspätungszuschlägen als unbegründet zurückwies. Das FG ging davon aus, die Einspruchsentscheidung sei vom FA am 11.07.2023 per einfachem Brief versandt worden. Sie gelte damit gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am 14.07.2023 als bekannt gegeben. Mithin sei die Klagefrist am 14.08.2023 abgelaufen. Allerdings hatte der Kläger während des Klageverfahrens einen Briefumschlag mit Poststempel vom 12.07.2023 vorgelegt und argumentiert, die Klagefrist habe wegen eines Feiertags erst am 16.08.2023 geendet. Das FG wertete diesen Vortrag als Wiedereinsetzungsantrag, lehnte diesen jedoch ab. Daher sei die Klage als unzulässig zu verwerfen. Im Rahmen der daraufhin erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde war streitig, ob das FG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hatte, indem es nicht auf den wesentlichen Kern des klägerischen Vortrags zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung eingegangen war. Der Kläger hat seine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass der Poststempel auf dem vorgelegten Briefumschlag vom Absendevermerk des FA abweiche und nach der Rechtsprechung des BFH dem Poststempel Vorrang gebühre. II. Für den BFH ist die Nichtzulassungsbeschwerde begründet, da ein zur Revisionszulassung führender Verfahrensmangel vorliege (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Zu Recht habe der Kläger gerügt, dass das FG mangels Berücksichtigung des Kerns des klägerischen Vortrags seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verlange, dass das Gericht die Ausführungen der Beteiligten beachte. Ein Verstoß liege vor, wenn wesentlicher Vortrag zu einer zentralen Frage nicht berücksichtigt werde (BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 05.07.2013 - 1 BvR 1018/13 Rn. 14 f. - MDR 2013, 1113; BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 17.09.2020 - 2 BvR 1605/16 Rn. 14 - NJW 2021, 50 Rn. 14; BGH, Beschl. v. 24.03.2015 - VI ZR 179/13 Rn. 11 - NJW 2015, 2125; BGH, Beschl. v. 23.04.2024 - VIII ZR 35/23 Rn. 12 - NJW 2024, 2393; BFH, Beschl. v. 13.08.2020 - X B 26/20 Rn. 19 f. - BFH/NV 2021, 201). Im Streitfall habe der Kläger entgegen der Annahme des FG keinen Wiedereinsetzungsantrag gestellt, da der Begriff „Wiedereinsetzung“ in der Klageschrift nicht vorkomme. Stattdessen habe der Kläger argumentiert, die Klagefrist sei erst am 16.08.2023 abgelaufen, was er durch Vorlage eines Briefumschlags mit Poststempel vom 12.07.2023 habe belegen wollen. Dieser Stempel habe zeigen sollen, dass die Einspruchsentscheidung erst am 12.07.2023 zur Post gegeben worden sei. Das FG habe sich jedoch nur auf die wörtliche Aussage des Klägers gestützt, die Einspruchsentscheidung sei ihm „laut Poststempel am 12.07.2023 per Post zugestellt“ worden, und damit den Kern seines Vortrags unbeachtet gelassen. Es sei aber offensichtlich gewesen, dass der Kläger, ein juristischer Laie, mit seiner Formulierung die spätere Absendung und damit eine spätere Klagefrist habe geltend machen wollen. Das FG hätte den Vortrag dahin gehend auslegen müssen, dass die Frist erst am 16.08.2023 geendet habe und so dem Kern seiner Argumentation folgen müssen.
- C.
Kontext der Entscheidung I. Der praktisch sehr relevante und in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.11.1989 - 1 BvR 1011/88 Rn. 19 - BVerfGE 81, 123). Der „Mehrwert“ der Verbürgung besteht darin, einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zu sichern (BVerfG, Beschl. v. 23.10.2007 - 1 BvR 782/07 Rn. 13 - BVerfGE 119, 292). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (BVerfG, Beschl. v. 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 Rn. 35 - BVerfGE 86, 133 „Rückübertragungsanspruch“). Im Einzelnen verpflichtet die Garantie rechtlichen Gehörs die Gerichte, über den entscheidungserheblichen Prozessstoff vom Gericht informiert zu werden (BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 15.08.2014 - 2 BvR 969/14 Rn. 49 - NJW 2014, 3085) und sich vor dessen Entscheidung sowohl zu dem maßgeblichen Sachverhalt als auch zu der Rechtslage äußern zu können (BFH, Urt. v. 21.03.1996 - XI R 82/94 Rn. 16 - BStBl II 1996, 518). Darüber hinaus sind nach dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen und keine „Überraschungsentscheidungen“ zu treffen (BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 05.04.2012 - 2 BvR 2126/11 Rn. 18 - BVerfGK 19, 377). II. In der Besprechungsentscheidung war die Gewährung rechtlichen Gehörs in ihrer Ausprägung der Kenntnisnahme und Erwägung des Beteiligtenvortrags einschlägig (sog. Beachtungspflicht, BFH, Beschl. v. 30.04.2022 - X B 130/21 Rn. 27). Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht zwar nicht, sich mit Ausführungen auseinanderzusetzen, auf die es für die Entscheidung nicht ankommt. Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, sich mit jedem Beteiligtenvorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich auseinanderzusetzen (BFH, Beschl. v. 13.08.2020 - X B 26/20 Rn. 19 - BFH/NV 2021, 201). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist jedoch verletzt, wenn – wie im Streitfall – das Gericht Sachverhalt und Sachvortrag, auf den es ankommen kann, nicht nur nicht ausdrücklich bescheidet, sondern überhaupt nicht berücksichtigt.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Weist ein instanzgerichtliches Verfahren einen Verfahrensmangel auf, genügt es für die nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erforderliche und ansonsten anspruchsvolle Darlegung des Zulassungsgrunds, wenn der Beschwerdeführer die Tatsachen vorträgt, die den Verfahrensmangel ergeben. In praktischer Hinsicht folgt daraus: Es ist für die auf einen Verfahrensmangel gestützte Nichtzulassungsbeschwerde nicht erforderlich, die angeblich verletzte Vorschrift des Verfahrensrechts ausdrücklich zu bezeichnen (BFH, Beschl. v. 19.09.2012 - X B 138/11 Rn. 13 - BFH/NV 2013, 63).
- E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung I. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist vorrangig der Poststempel heranzuziehen, wenn das Datum des Poststempels vom Absendevermerk der Behörde abweicht (BFH, Urt. v. 18.07.1986 - III R 216/81 - BFH/NV 1987, 12; BFH, Urt. v. 09.10.1962 - I 313/61 U - BStBl III 1963, 25; BFH, Urt. v. 29.10.1974 - I R 37/73 - BFHE 114, 5 = BStBl II 1975, 155). Dies gilt jedoch nicht bei privaten Postdienstleistern, wenn der Stempelaufdruck den Tag des Posteingangs beim Empfänger anzeigt (BFH, Beschl. v. 07.12.2010 - X B 212/09 Rn. 10 - BFH/NV 2011, 564). Nimmt also z.B. der private Postdienstleister eine Vordatierung vor und weist der Stempelaufdruck im Regelfall den Tag des Eingangs der Postsendung bei dem Empfänger aus, lässt ein solcher Stempelaufdruck gerade nicht den Schluss zu, der Absender habe die Sendung dem Postunternehmen erst an dem im Stempelaufdruck ausgewiesenen Tag übergeben. Ein Absendevermerk dokumentiert die Aufgabe zur Post nur dann, wenn er von der Poststelle des FA stammt (BFH, Urt. v. 09.12.2009 - II R 52/07 Rn. 27 - BFH/NV 2010, 824; BFH, Beschl. v. 26.02.2021 - X B 108/20 Rn. 9, 11 - BFH/NV 2021, 929). Der Beweis der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post an einem bestimmten Tag kann also nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises geführt werden, wenn die Absendung nicht in einem Absendevermerk der Poststelle des FA festgehalten ist (vgl. BFH, Beschl. v. 26.06.2006 - II B 99/05 Rn. 9 - BFH/NV 2006, 1860). Da sich die Aufgabe von Verwaltungsakten zur Post im Wissens- und Verantwortungsbereich des FA abspielt, hat es insoweit die erforderliche Beweisnähe (BFH, Urt. v. 28.09.2000 - III R 43/97 Rn. 28 - BStBl II 2001, 211). Die Feststellungslast (objektive Beweislast) für den Tag der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post trägt das FA (BFH, Beschl. v. 26.06.2006 - II B 99/05 Rn. 9 - BFH/NV 2006, 1860). II. Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde hatte der Kläger außerdem geltend gemacht, dass das Urteil auch hinsichtlich der Verspätungszuschläge als angefochten zu betrachten sei, obwohl diese bei Einlegung der Beschwerde nicht angegeben wurde (Streitgegenstand lt. Beschwerdeschrift: „wegen Einkommensteuer 2018 und 2019“). Erst in der Beschwerdebegründung hat sich der Kläger ausdrücklich auf die Verspätungszuschläge bezogen (Streitgegenstand: „wegen Einkommensteuer 2018 und 2019 und Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 2018 und 2019“). Auch nach Auffassung des BFH umfasst die Beschwerde nicht nur die Einkommensteuer 2018 und 2019, sondern darüber hinaus die Festsetzungen der Verspätungszuschläge zur Einkommensteuer 2018 und 2019. Denn nach der Rechtsprechung des BFH wird durch die rechtzeitige Einlegung eines Rechtsmittels grundsätzlich die Rechtskraft des gesamten (!) angefochtenen Urteils gehemmt. Ein nicht in der Rechtsmitteleinlegungsschrift genannter Verwaltungsakt kann deshalb – vorbehaltlich eines ausdrücklichen Rechtsmittelverzichts – Gegenstand des Rechtsmittels sein, wenn er nicht schon in der Beschwerdebegründungsschrift, sondern erst in der Rechtsmittelbegründungsschrift erwähnt wird (BFH, Beschl. v. 11.05.2010 - X B 183/09 Rn. 2 m.w.N.- BFH/NV 2010, 2077). Ebenso werden bei einer engeren Fassung in der Rechtsmittelbegründung gegenüber der Einlegungsschrift erst dort die Streitgegenstände konkretisiert (BFH, Urt. v. 09.07.2019 - X R 9/17 Rn. 21 m.w.N. - BStBl II 2021, 418). Im Streitfall hatte der Kläger die Verspätungszuschläge zwar nicht in der Beschwerdeschrift, jedoch ausdrücklich im Rubrum der Beschwerdebegründungsschrift genannt. Mangels vorherigen ausdrücklichen Rechtsmittelverzichts blieb dem Kläger die Einbeziehung der Verspätungszuschläge in den Rechtsstreit möglich.
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