juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BFH 3. Senat, Urteil vom 08.08.2024 - III R 24/22
Autor:Dr. Johannes Selder, RiBFH a.D.
Erscheinungsdatum:27.01.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 70 EStG, § 45 SGB 10, § 65 EStG, § 227 AO 1977, § 102 FGO, § 68 EStG, § 32 EStG, § 31 EStG
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 4/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:Selder, jurisPR-SteuerR 4/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Kein Erlass einer Kindergeld-Rückforderung bei Mitwirkungspflichtverletzung des Kindergeldempfängers und fehlendem Verschulden der Familienkasse



Leitsätze

1. Ein Erlass aus Billigkeitsgründen scheidet regelmäßig aus, wenn der Kindergeldberechtigte seinen Mitwirkungspflichten gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht nachgekommen ist und kein überwiegendes behördliches Mitverschulden der Familienkasse vorliegt (Bestätigung der Senatsrechtsprechung, z.B. Senatsurteil vom 27.05.2020 - III R 45/19 - BFH/NV 2020, 1283).
2. Ein Verschulden der Vereinten Nationen hinsichtlich der Ablehnung kindbezogener Leistungen („Dependent Child Allowance“) ist der inländischen Familienkasse, die das von ihr gewährte Kindergeld wegen § 65 Satz 1 Nr. 2 EStG zurückfordert, nicht zuzurechnen.
3. Die fehlende Weitergabe einer kindergeldrelevanten Information an die Familienkasse seitens der für den Familienzuschlag zuständigen Bezügestelle einer anderen Behörde führt weder zu einer Wissenszurechnung noch zu einem Verschulden der Familienkasse, das zu einem Erlass der Kindergeld-Rückforderung im Billigkeitswege führen könnte.



A.
Problemstellung
Stellt sich beim Bezug von Kindergeld nachträglich heraus, dass die Anspruchsvoraussetzungen weggefallen sind, hebt die Familienkasse den Festsetzungsbescheid nach § 70 Abs. 2 EStG auf und fordert das Kindergeld zurück. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Kindergeld mittlerweile verbraucht ist. Ein Vertrauensschutz wie im Sozialrecht (§ 45 Abs. 2 SGB X – Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts) besteht im Kindergeldrecht nach dem EStG nicht. Die Rückforderung stellt insbesondere dann eine Härte dar, wenn der Kindergeldberechtigte letztlich zu Recht Familienleistungen erhalten hat, wenn auch vom unzuständigen Träger. Sind diese Jahre später zurückzuzahlen, kann es vorkommen, dass der eigentlich zuständige Träger nicht mehr leistet. In einem solchen Fall ist ein Erlassantrag die letzte Möglichkeit. Das Besprechungsurteil zeigt, dass die Voraussetzungen für einen Erlass durchaus streng gehandhabt werden.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger ist Vater des im Jahr 2000 geborenen A. Er ist als Beamter im öffentlichen Dienst beschäftigt und lebt mit der Kindsmutter und A in einem gemeinsamen Haushalt. Seit Juni 2006 bezog er von der Bundesfamilienkasse das Kindergeld für A. Ab Dezember 2006 war M bei den UN beschäftigt. Die UN gewährten der M Familienleistungen für A in Höhe der Differenz zwischen den (höheren) UN-Leistungen und dem deutschen Kindergeld. Aus einer im August 2018 übermittelten Bescheinigung erfuhr die Bundesfamilienkasse davon, dass die UN bislang den Unterschiedsbetrag zwischen der „Dependent Child Allowance“ und dem deutschen Kindergeld von zuletzt monatlich 7 Euro gezahlt hatten. Seit Januar 2018 erhielt M von den UN die vollen Familienleistungen. Die Familienkasse hob mit Bescheid vom 10.10.2018 die Festsetzung für den Zeitraum Januar 2014 bis Juli 2018 auf und forderte einen Betrag von 10.406 Euro zurück.
Dagegen wandte sich der Kläger mit Einspruch und Klage. Im Klageverfahren regte das FG ein Erlassverfahren an. Der Kläger folgte der Anregung und stellte einen Erlassantrag. Das finanzgerichtliche Verfahren ruhte. Einen Teil des Rückzahlungsbetrags leistete der Kläger. Die Bundesfamilienkasse lehnte einen Erlass bzw. eine Erstattung durch Bescheid vom 21.04.2021 ab. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte Erfolg. Das FG war der Ansicht, der Kläger habe einen Anspruch auf eine Billigkeitsmaßnahme, weil ihm nur ein einfacher Sorgfaltsverstoß vorzuwerfen sei.
Auf die Revision der Bundesfamilienkasse hob der BFH das FG-Urteil auf und wies die Klage ab. Der Kläger begehrte den Erlass bzw. die Erstattung gezahlter Beträge, weil er bei einer Ablehnung des Billigkeitsantrags für die Jahre 2014 bis 2017 letztlich nur den von den UN gezahlten geringfügigen Differenzbetrag von monatlich 7 Euro erhalten hätte. Die UN, die eigentlich die „Dependent Child Allowance“ von Anfang an in voller Höhe hätten auszahlen müssen, waren offensichtlich nicht bereit, die vollständigen Zahlungen für frühere Zeiten nachzuleisten. Der Kläger erhielt das deutsche Kindergeld seit der Tätigkeit von M bei den UN zu Unrecht ausgezahlt. Denn nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wird kein Kindergeld für ein Kind gewährt, für das Anspruch auf Leistungen besteht, die von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung gewährt werden und dem Kindergeld vergleichbar sind. Zu diesen Leistungen zählt auch die „Dependent Child Allowance“ der UN, die in A 28.3 Abs. 3 der DA-KG v. 30.04.2024 (BStBl I 2024, 736) ausdrücklich aufgeführt ist.
Ausgangspunkt ist § 227 AO, wonach die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen können, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Die „Unbilligkeit“ ist ein gerichtlich überprüfbarer Rechtsbegriff (BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 - BStBl II 2017, 393, Anm. Schuster, jurisPR-SteuerR 16/2017 Anm. 1). Dagegen ist die Frage, ob bei Unbilligkeit ein Erlass auszusprechen ist, eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde, die vom FG nur darauf hin überprüft werden kann, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind (§ 102 FGO). Hier stand allein eine Billigkeit aus sachlichen Gründen im Streit, nicht etwa aus persönlichen. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen kommt in Betracht, wenn die Geltendmachung des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes aber nicht zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, z.B. BFH, Urt. v. 13.09.2018 - III R 19/17 - BStBl II 2019, 187, Anm. Selder, jurisPR-SteuerR 11/2019 Anm. 2).
Ein derartiger Erlass scheidet aber in der Regel aus, wenn der Kindergeldempfänger seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist und dies die maßgebliche Ursache für die Überzahlung darstellt (BFH, Urt. v. 27.05.2020 - III R 45/19 - BFH/NV 2020, 1283). Nach § 68 Abs. 1 EStG muss der Kindergeldberechtigte Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitteilen. Jedoch hatte der Kläger noch im Januar 2018 in einem Antragsformular die Frage verneint, ob für A ein Anspruch auf eine kindbezogene Geldleistung von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung bestand. Zuvor hatte er die Tätigkeit der M bei den UN nicht der Bundesfamilienkasse mitgeteilt. Es half dem Kläger nicht, dass ihm nur ein „einfacher“ Sorgfaltsverstoß vorzuwerfen war und er nicht darauf aus war, mehr Familienleistungen zu erhalten, als ihm zustanden.
Das Verschulden des Klägers wäre allenfalls dann unbeachtlich gewesen, wenn der Familienkasse ein überwiegendes Mitverschulden an der jahrelangen unzutreffenden Gewährung von Kindergeld vorzuwerfen gewesen wäre. Das war hier allerdings zu verneinen. Ein etwaiges Fehlverhalten der UN oder der für die Besoldung des Klägers zuständigen Bezügestelle, der die UN-Tätigkeit der M bekannt war, wäre der Bundesfamilienkasse nicht zuzurechnen gewesen. Unbilligkeit war somit nicht gegeben, so dass der BFH zur Frage der Ermessensausübung nicht Stellung zu nehmen brauchte.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Das Urteil liegt auch hinsichtlich des materiell-rechtlichen Anspruchs auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung. In der Konstellation, dass ein Kindergeldberechtigter in einem Sachverhalt mit Auslandsberührung die Familienleistungen jahrelang vom „falschen“ EU-Mitgliedstaat erhalten hat, dieser nachträglich die Leistungen zurückfordert und der eigentlich zuständige EU-Mitgliedstaat nicht mehr leistungsbereit ist, hat der BFH bereits entschieden, dass die vom unzuständigen Träger erbrachten Leistungen zurückzuzahlen sind (vgl. BFH, Urt. 09.12.2020 - III R 73/18 - BStBl II 2022, 178, Anm. Selder, jurisPR-SteuerR 24/2021 Anm. 3).
II. Das FG hatte sich auch auf das Urteil des BFH vom 19.11.2008 (III R 108/06 - BFH/NV 2009, 357) gestützt, in dem der BFH einen Billigkeitserlass in einem Fall angeregt hatte, in dem zurückzuzahlendes Kindergeld auf Sozialleistungen angerechnet worden war. Man kann davon ausgehen, dass der BFH inzwischen mit solchen Anregungen zurückhaltender ist.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil zeigt, dass ein Empfänger von Kindergeld Anfragen der Familienkassen genau beantworten muss, auch wenn die Fragebögen sehr detailliert und umfangreich sind. Wendet er nicht genügend Sorgfalt auf oder teilt er Änderungen, die für den Bezug von Kindergeld von Bedeutung sein können, nicht mit, kann ihm dies Jahre später entgegengehalten werden. In solchen Fällen kommt erschwerend hinzu, dass sich dann auch die kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG nicht oder nur in geringem Umfang steuermindernd auswirken. Bei den Einkommensteuerveranlagungen des Klägers wurde im Rahmen der sog. Günstigerprüfung nach § 31 Satz 4 EStG der Kindergeldanspruch in halber Höhe der tariflichen Einkommensteuer hinzugerechnet, falls der Kläger und M nicht verheiratet gewesen sein sollten. Diese Hinzurechnung kann vermutlich bereits aus Verjährungsgründen nicht mehr rückgängig gemacht werden, unabhängig davon, ob eine Änderungsvorschrift einschlägig wäre.



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