Steuerliches Einlagekonto: Offenbare Unrichtigkeit trotz fehlender Erkennbarkeit des zutreffenden WertsLeitsatz Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos nicht die mechanische Übernahme der im Jahresabschluss angegebenen Kapitalrücklage ausreicht, sondern auf einer zweiten Stufe noch weitere Sachverhaltsermittlungen zur Höhe des steuerlichen Einlagekontos erforderlich sind, schließt eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 129 Satz 1 der Abgabenordnung nicht aus (des BFH, Urt. v. 08.12.2021 - I R 47/18 - StBl II 2022, 827). - A.
Problemstellung Nach der Rechtsprechung des BFH kommt es im Rahmen einer Zwei-Stufen-Lösung (nur) darauf an, dass die Voraussetzungen einer offenbaren Unrichtigkeit dem Grunde nach vorliegen.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Klägerin ist eine im Jahr 2010 gegründete GmbH. Die Alleingesellschafterin A erhöhte mit notariellem Vertrag vom 25.03.2010 das Stammkapital der Klägerin um 100 Euro (auf 25.100 Euro) und brachte ihre Beteiligung (25%) an einer GbR zu Buchwerten nach § 20 des Umwandlungssteuergesetzes – UmwStG) in die Klägerin ein. In ihrer Erklärung zur gesonderten Feststellung des steuerlichen Einlagekontos auf den 31.12.2010 gab die Klägerin den Bestand des steuerlichen Einlagekontos mit 0 Euro an. In der Bilanz der Klägerin auf den 31.12.2010 ist eine Kapitalrücklage von 1.073.611,72 Euro ausgewiesen. Im Jahresabschluss 2010 ist dazu erläutert, die Gesellschafterin A habe in der GbR einen Eigenkapitalanteil von 1.073.711,72 Euro gehabt, von dem 100 Euro für die Erhöhung des Stammkapitals der Klägerin verwendet worden seien. Das beklagte FA stellte das steuerliche Einlagekonto der Klägerin zum 31.12.2010 durch Bescheid vom 11.05.2012 erklärungsgemäß i.H.v. 0 Euro fest. Der Bescheid ist nach Eintritt der Bestandskraft mehrfach nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geändert worden. Die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos mit 0 Euro änderte sich dadurch nicht. Die nachfolgenden Feststellungsbescheide zum 31.12.2011 und 31.12.2012 stehen jeweils unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Gegen die geänderten Feststellungsbescheide zum 31.12.2010, 31.12.2011 und 31.12.2012, jeweils vom 05.08.2014, legte die Klägerin Einsprüche ein. Sie beantragte zudem die Berichtigung des Bescheids zum 31.12.2010 gemäß § 129 AO. Das FA lehnte die Berichtigung mit Bescheid vom 09.02.2015 ab. Dagegen erhob die Klägerin ebenfalls Einspruch. Mit Einspruchsentscheidung vom 04.04.2018 verwarf das FA den Einspruch gegen den Feststellungsbescheid zum 31.12.2010 als unzulässig und wies die übrigen Einsprüche als unbegründet zurück. Die dagegen eingelegte Klage hatte keinen Erfolg (FG München, Urt. v. 20.04.2021 - 6 K 1311/18 - EFG 2022, 1176). Die Voraussetzungen für eine Berichtigung des Feststellungsbescheids zum 31.12.2010 lägen nicht vor. Zur Feststellung des steuerlichen Einlagekontos hätte das FA den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Deshalb könne der Bescheid nicht berichtigt werden. Auch eine unzutreffende Anwendung von § 20 UmwStG und § 27 KStG sei nicht auszuschließen. Der BFH entschied, die Revision der Klägerin sei begründet und verwies die Sache unter Aufhebung der Vorentscheidung an das FG zurück. Im Revisionsverfahren sei nur noch streitig, ob das FA die Berichtigung des Feststellungsbescheids auf den 31.12.2010 zu Recht abgelehnt habe. Nach § 129 Satz 1 AO könne die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen seien, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten sei zu berichtigen (§ 129 Satz 2 AO). Das FG ist von anderen Maßstäben (vgl. dazu BFH, Urt. v. 08.12.2021 - I R 47/18 - BStBl II 2022, 827; Anm. Schmitz-Herscheidt, jurisPR-SteuerR 42/2022 Anm. 2) ausgegangen. Die Voraussetzungen für eine Berichtigung des geänderten Bescheids über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen zum 31.12.2010 nach § 129 Satz 1 AO lägen vor. Zu Recht sei das FG davon ausgegangen, dass es für die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2010 weiterer Sachverhaltsaufklärung und Prüfung bedürfe. Das FG habe daraus aber rechtsfehlerhaft den Schluss gezogen, dass die Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO nicht möglich sei. Das treffe nicht zu. Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos noch weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich seien, schließe eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 129 Satz 1 AO nicht aus (vgl. BFH, Urt. v. 08.12.2021 - I R 47/18 Rn. 23 - BStBl II 2022, 827). Die Voraussetzungen für eine Berichtigung des angefochtenen Feststellungsbescheids nach § 129 Satz 1 AO lägen im Übrigen vor. Die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2010 mit 0 Euro sei auf der Grundlage der vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen offenbar unrichtig. Es liege ein sogenannter Übernahmefehler des FA vor. Sowohl die fehlerhafte Angabe des steuerlichen Einlagekontos mit 0 Euro in der Feststellungserklärung der Klägerin als auch deren Übernahme durch das FA beruhten jeweils auf quasi mechanischen Versehen; eine gedankliche Fehlleistung könne aufgrund der vom FG festgestellten Umstände auf beiden Ebenen ausgeschlossen werden. Es stehe außer Streit, dass im Streitjahr 2010 eine Einbringung stattgefunden habe. Nach einer Einbringung hätte der Bestand des steuerlichen Einlagekontos nur 0 Euro betragen können, wenn entweder der Wert der eingebrachten Wirtschaftsgüter exakt dem Nennwert der ausgegebenen Anteile (hier: 100 Euro) entspräche oder wenn die Sacheinlage den Nennwert der ausgegebenen Anteile nicht erreichen würde. In diesem Fall wäre auch der Grundsatz der Kapitalaufbringung verletzt und die Kapitalerhöhung hätte nicht in das Handelsregister eingetragen werden dürfen. Dafür, dass ein solcher Fall vorgelegen haben könnte, spreche im Streitfall nichts. In allen anderen denkbaren Fällen könne das steuerliche Einlagekonto nicht 0 Euro betragen. So liege auch der Streitfall, denn in der Bilanz der Klägerin auf den 31.12.2010 sei eine Kapitalrücklage von 1.073.611,72 Euro ausgewiesen und dieser Wert sei im Jahresabschluss der Klägerin nachvollziehbar erläutert. Selbst wenn man davon ausginge, dass dem FA im Feststellungsverfahren der Einbringungsvertrag noch nicht vorgelegen habe, sei für einen unvoreingenommenen Dritten unter den gegebenen Umständen offensichtlich gewesen, dass der Bestand des steuerlichen Einlagekontos nicht 0 Euro habe betragen können. Die Sache sei nicht spruchreif. Die vom FG bisher festgestellten Tatsachen reichten nicht aus, um die zutreffende Höhe des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2010 ermitteln zu können. Der Senat könne deshalb die begehrte Verpflichtung nicht aussprechen. Das FG werde die Höhe des steuerlichen Einlagekontos nach § 27 Abs. 2 KStG zum 31.12.2010 zu ermitteln und über das Verpflichtungsbegehren erneut zu entscheiden haben.
- C.
Kontext der Entscheidung I. Die Berichtigung nach § 129 AO setzt grundsätzlich voraus, dass die offenbare Unrichtigkeit in der Sphäre der den Verwaltungsakt erlassenden Finanzbehörde entstanden ist. Die Unrichtigkeit muss aber nicht aus dem Bescheid selbst erkennbar sein. § 129 AO ist daher auch anwendbar, wenn die Behörde offenbar fehlerhafte Angaben des Steuerpflichtigen als eigene übernimmt (sogenannte Übernahmefehler; ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Urt. v. 30.11.2023 - IV R 13/21 Rn. 41 m.w.N. - BFH/NV 2024, 371). II. Offenbare Unrichtigkeiten i.S.d. § 129 AO sind mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler. Ein Fehler ist offenbar, wenn er auf der Hand liegt, also durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist (BFH, Urt. v. 29.01.2003 - I R 20/02 Rn. 13 m.w.N. - BFH/NV 2003, 1139). Dagegen schließen Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts eine offenbare Unrichtigkeit aus. § 129 AO ist nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH, Urt. v. 30.11.2023 - IV R 13/21 Rn. 42 m.w.N. - BFH/NV 2024, 371). III. Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalls beurteilt werden (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH, Urt. v. 30.11.2023 - IV R 13/21 Rn. 43 m.w.N. - BFH/NV 2024, 371). In Fällen, in denen die offenbare Unrichtigkeit auf der versehentlichen Nichtangabe eines Werts in der Steuererklärung beruht, ist § 129 Satz 1 AO bereits dann anwendbar, wenn für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich erkennbar ist, dass die Nichtangabe fehlerhaft ist. Entsprechendes gilt, wenn (nur) die Angabe einer Endsumme mit 0 Euro erfolgt und dies erkennbar unrichtig ist (vgl. BFH, Urt. v. 08.12.2021 - I R 47/18 Rn. 22 - BStBl II 2022, 827). IV. Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos nicht die mechanische Übernahme der im Jahresabschluss angegebenen Kapitalrücklage ausreicht, sondern auf einer zweiten Stufe noch weitere Sachverhaltsermittlungen zur Höhe des steuerlichen Einlagekontos erforderlich sind, schließt eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 129 Satz 1 AO nicht aus (BFH, Urt. v. 08.12.2021 - I R 47/18 Rn. 23 - BStBl II 2022, 827). Der VIII. Senat des BFH schließt sich dieser Rechtsprechung an.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Der I. Senats des BFH hatte sich in seiner Entscheidung vom 08.12.2021 (I R 47/18 - BStBl II 2022, 827) früherer Rechtsprechung des BFH angeschlossen, wonach die Berichtigung nach § 129 AO nur die Erkennbarkeit der Unrichtigkeit, nicht aber auch eine direkte Erkennbarkeit des zutreffenden Werts voraussetzt (vgl. Schmitz-Herscheidt, jurisPR-SteuerR 42/2022 Anm. 2 unter D.). Dies setzt im Einzelnen voraus, dass sich aus dem Akteninhalt (z.B. der E-Bilanz) sowohl die Erhöhung der Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 AGB als auch ein tatsächlicher Mittelzufluss bei der Gesellschaft ergibt (vgl. Ratschow in: Klein, 18. Aufl., § 129 AO Rn. 39 m.w.N.). Die Entscheidung des I. Senats des BFH ist in der Literatur begrüßt worden (vgl. Binnewies/Gravenhorst, AG 2022, 698; Karcher, BB 2022, 1886; Freitag/Veddeler/Meixner, DStR 2022, 2170). Mit der durch die Besprechungsentscheidung bestätigten Rechtsprechung des BFH wird verfahrensrechtlich ein in der Praxis häufiger vorkommendes Problem befriedigend gelöst, sofern die Umstände im Einzelfall dem Grunde nach eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne eines Übernahmefehlers des FA annehmen lassen.
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