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Anmerkung zu:EuGH 2. Kammer, Urteil vom 29.07.2024 - C-623/22
Autor:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D., RA
Erscheinungsdatum:07.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 138e AO 1977, § 138d AO 1977, EWGRL 799/77, EURL 2016/1164, 12016P020, 12016P021, 12016P049, 12016P052, 12016P007, EURL 16/2011, EURL 2017/952, EURL 2018/822
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 40/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:Fischer, jurisPR-SteuerR 40/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen - Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Die Richtlinie 2011/16 hält einer Prüfung am Maßstab der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der EUGrRCh insoweit stand, als die in Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der Richtlinie vorgesehene Meldepflicht nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt ist, sondern für alle in ihren Geltungsbereich fallenden Steuern gilt.
2. Bei der Einbeziehung der verschiedenen Arten von Steuern, die nach der Richtlinie 2011/16/EU der Meldepflicht unterliegen, handelt es sich um ein für die Bekämpfung aggressiver Steuerplanung sowie der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt nicht offensichtlich ungeeignetes Mittel.
3. Die von der Richtlinie 2011/16 verwendeten Begriffe wie „Gestaltung“, „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“, „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“, „Bereitstellung der grenzüberschreitenden Gestaltung zur Umsetzung“ halten einer Prüfung am Maßstab des Grundsatzes der Rechtssicherheit und des in Art. 49 Abs. 1 EUGrRCh verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen stand.
4. Art. 7 der EUGrRCh garantiert notwendigerweise das Geheimnis der Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz. Personen, die einen Rechtsanwalt konsultieren, können vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt.
5. Die Meldepflicht als solche stellt einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Kommunikation dar, der dazu führt, dass der Verwaltung Einblick in das Ergebnis steuerlicher Planungs- und Gestaltungsaktivitäten im Kontext persönlicher, beruflicher oder geschäftlicher Tätigkeiten des Steuerpflichtigen selbst oder eines oder mehrerer Intermediäre i.S.v. Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie 2011/16/EU verschafft wird.
6. Die Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und die Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung stellen von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen i.S.v. Art. 52 Abs. 1 der EUGrRCh dar, die es erlauben, die Ausübung der durch Art. 7 der EUGrRCh garantierten Rechte einzuschränken. Die mit der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten 2011/16/EU verbundene Einschränkung des Rechts auf Schutz des Privatlebens, verstanden als das Recht jeder Person, ihr Privatleben zu gestalten, ist gerechtfertigt.



A.
Problemstellung
Aus Anlass eines belgischen Ersuchens um Vorabentscheidung befasst sich der EuGH mit der Vereinbarkeit der Meldepflicht nach der Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung mit höherem europäischem Recht. Die Entscheidung ist für die Anwendung der §§ 138d ff. AO von Bedeutung, mit denen die Richtlinie (EU) 2018/822 umgesetzt worden ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH befasst sich mit Art. 2 der Richtlinie 2011/16 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung. Mit letzterer Richtlinie wurde eine Meldepflicht bei den zuständigen Behörden in Bezug auf potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen (im Folgenden: Meldepflicht oder Meldung) eingeführt. Nach näherer Maßgabe des Art. 8ab der (EU) 2018/822 kann jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um Intermediäre und ggf. den Steuerpflichtigen zur Vorlage/Meldung der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten. Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die auf der Grundlage von Art. 8aa und 8ab dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
Anhang IV („Kennzeichen“) der Richtlinie 2011/16 (im Folgenden: Anhang IV) sieht einen „Main-Benefit“-Test vor und enthält eine Liste der Kategorien von „Kennzeichen“, die in drei Kategorien unterteilt sind. Der Test gilt als erfüllt, wenn festgestellt werden kann, dass der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann, die Erlangung eines Steuervorteils ist.
Zu den „Allgemeinen Kennzeichen“ gehören Vertraulichkeitsklauseln, nach denen nicht offengelegt werden darf, auf welche Weise aufgrund der Gestaltung ein Steuervorteil erlangt wird. Ein spezifisches Kennzeichen i.V.m. dem Main-Benefit-Test ist z.B. eine Gestaltung, bei der ein Beteiligter „künstlich“ Schritte unternimmt, um ein verlustbringendes Unternehmen zu erwerben, die Haupttätigkeit dieses Unternehmens zu beenden und dessen Verluste dafür zu nutzen, seine Steuerbelastung zu verringern, einschließlich der Übertragung dieser Verluste in ein anderes Hoheitsgebiet oder der rascheren Nutzung dieser Verluste. „Eine Gestaltung, die zirkuläre Transaktionen nutzt, die zu einem round tripping von Vermögen führen, und zwar durch die Einbeziehung zwischengeschalteter Unternehmen ohne primäre wirtschaftliche Funktion oder von Transaktionen, die sich gegenseitig aufheben oder ausgleichen oder die ähnliche Merkmale aufweisen.“ Spezifische Kennzeichen hinsichtlich des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer sind u.a. Gestaltungen „mit einer intransparenten Kette an rechtlichen oder wirtschaftlichen Eigentümern durch die Einbeziehung von Personen, Rechtsvereinbarungen oder Strukturen“.
Die Richtlinie listet spezifische Kennzeichen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Transaktionen auf sowie Kennzeichen zum „wirtschaftlichen Eigentümer“. Der EuGH verweist ferner auf den 11. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1164 („ATAD“) und deren Art. 6 („Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch“), dessen Absatz 1 lautet:
„(1) Liegt unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, so berücksichtigen die Mitgliedstaaten diese bei der Berechnung der Körperschaftsteuerschuld nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.“
Der EuGH nimmt Bezug auf die Begründungserwägungen der Richtlinie 2018/822 zum „verpflichtenden automatischen Informationsaustausch im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“: „Es ist ... von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen.“
Im Jahre 2019 hat Belgien die Richtlinie 2018/822 umgesetzt. Die Kläger des Ausgangsverfahrens beantragten bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof Belgien), dem vorlegenden Gericht, die vollständige oder teilweise Nichtigerklärung des Gesetzes vom 20.12.2019. Dieses Gericht stellte an den EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen zur Gültigkeit des Gesetzes unter verschiedenen rechtlichen Aspekten.
I. Diskriminierungsverbot
Zum 1. Leitsatz enthält das Urteil grundlegende Aussagen zum Diskriminierungsverbot – insbesondere zur Vergleichbarkeit unterschiedlicher Sachverhalte und zur gerichtlichen Kontrolle – als dem spezifischen Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, der zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört (Art. 20 EUGrRCh). Die Prüfung des Aspekts, auf den sich die erste Frage bezieht, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 EUGrRCh berühren könnte.
II. Zur inhaltlichen Bestimmtheit von Unionsgesetzen
1. Der Grundsatz der Rechtssicherheit hindert den Unionsgesetzgeber nicht daran, beim Erlass von Normen abstrakte Rechtsbegriffe zu verwenden. Er muss nicht die konkreten Anwendungsfälle benennen, sofern der Gesetzgeber nicht alle diese Fälle im Voraus bestimmen kann.
Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt er, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen auferlegten Pflichten genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (EuGH, Urt. v. 16.02.2022 - C-156/21 Rn. 223 - EuGRZ 2022, 207 „Ungarn/Parlament und Rat“ und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Begriffe „Gestaltung“ und „grenzüberschreitende Gestaltung“ in Art. 3 der geänderten Richtlinie 2011/16/EU und die in Anhang 4 der geänderten Richtlinie 2011/16/EU definierten Kennzeichen, die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeuten, erscheinen hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klar und bestimmt. Gleiches gilt für die – einander ausschließenden – Begriffe „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“. Der Begriff „Intermediär“ wird in Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie 2011/16 definiert. Die im Anhang IV enthaltenen Definitionen der Kennzeichen können mit den detaillierten Analysen im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts und in der Folgenabschätzung verknüpft werden.
2. Der in Art. 49 EUGrRCh normierte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ist gewahrt, wenn der Einzelne anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mithilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen. Dieser Grundsatz, der eine besondere Ausprägung des allgemeinen Prinzips der Rechtssicherheit darstellt, impliziert nämlich insbesondere, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen im Gesetz klar definiert werden. Er gehört zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und ist in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen, u.a. in Art. 7 Abs. 1 EMRK, verankert. Eine „absolute Bestimmtheit des Wortlauts von Normen“ ist nicht gefordert.
Schließlich wird die Beurteilung der möglichen „Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer“ einer Gestaltung in Anhang IV hinreichend erläutert, da dort in Kategorie D die spezifischen Kennzeichen zum automatischen Informationsaustausch und zum wirtschaftlichen Eigentümer aufgeführt sind. Kategorie D enthält in Nr. 1 und 2 Listen verschiedener Organisations- oder Funktionsmodalitäten, aufgrund deren eine Gestaltung zu einer Aushöhlung der Meldepflicht oder durch den Rückgriff auf intransparente Eigentümerketten zu einer Verschleierung der Identität der wirtschaftlichen Eigentümer, die von diesen Organisations- oder Funktionsmodalitäten profitieren, führen kann.
III. Die Meldepflicht im Verhältnis zum Recht auf Achtung des Privatlebens und der Kommunikation
1. Art. 7 der EUGrRCh garantiert notwendigerweise das Geheimnis der Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz. Personen, die einen Rechtsanwalt konsultieren, können vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt. Abgesehen von Ausnahmefällen müssen diese Personen daher mit Recht darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren.
Art. der 7 EUGrRCh entspricht Art. 8 Abs. 1 EMRK. Nach Art. 52 Abs. 3 EUGrRCh berücksichtigt der Gerichtshof bei der Auslegung der durch Art. 7 EUGrRCh garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierten Rechte.
Die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten genießt einen ganz spezifischen Schutz, der sich aus der singulären Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten sowie der ihm übertragenen grundlegenden Aufgabe ergibt, die von allen Mitgliedstaaten anerkannt wird. Aufgrund dieser Erwägungen hat der EuGH im Urt. v. 08.12.2022 (C-694/20 - DStR 2023, 351 = NJW 2023, 667, anwaltliches Berufsgeheimnis – Befreiung des dem Berufsgeheimnis unterliegenden Rechtsanwalt-Intermediärs von der Meldepflicht „Orde van Vlaamse Balies u.a.“) festgestellt, dass eine dem Rechtsanwalt auferlegte Unterrichtungspflicht gegen Art. 7 EUGrRCh verstößt.
2. Die Meldepflicht als solche stellt einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Kommunikation dar, der dazu führt, dass der Verwaltung Einblick in das Ergebnis steuerlicher Planungs- und Gestaltungsaktivitäten im Kontext persönlicher, beruflicher oder geschäftlicher Tätigkeiten des Steuerpflichtigen selbst oder, in den meisten Fällen, eines oder mehrerer Intermediäre i.S.v. Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie 2011/16/EU verschafft wird.
3. Die in Art. 7 EUGrRCh verankerten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, „sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden“. Die Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und die Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung stellen von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen i.S.v. Art. 52 Abs. 1 der EUGrRCh dar, die es erlauben, die Ausübung der durch Art. 7 der EUGrRCh garantierten Rechte einzuschränken. Die mit der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16/EU verbundene Einschränkung des Rechts auf Schutz des Privatlebens, verstanden als das Recht jeder Person, ihr Privatleben zu gestalten, ist gerechtfertigt.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Nicht zuletzt als Antwort auf die sog. Panama Papers forcieren die europäischen Institutionen (zur Historie vgl. Rat der EU v. 09.06.2018 - 6804/18, Interinstitutionelles Dossier: 2017/0138 (CNS) FISC 103 ECOFIN 206) und ebenso der deutsche Gesetzgeber den „Kampf gegen die aggressive Steuerplanung“ im Interesse der Steuergerechtigkeit und der fiskalischen Interessen der Mitgliedstaaten (EU-Parlament, Entschließung v. 08.03.2019 zu Finanzkriminalität, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung (2018/2121(INI)) P8_TA(2019)0240; zusammenfassend Kofler, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts, in Festschrift für den BFH, S. 699, 709 ff.). Der EWSA hat sich in seiner Stellungnahme v. 18.09.2020 – auch zum Ausmaß von Steuerbetrug, Steuervermeidung, Steuerhinterziehung und Geldwäsche – dafür ausgesprochen, dass angesichts der zahlreichen Skandale im Zusammenhang mit Steueroasen (LuxLeaks, Panama Papers, Paradise Papers usw.) und im Blick auf jüngste Schätzungen zur Steuerhinterziehung in der EU die Bekämpfung von Steuerbetrug vorrangig bedeutsam bleiben müsse. „Es sollte ein vorrangiges Ziel der EU sein, den kriminellen Aktivitäten von Steueroasen einen Riegel vorzuschieben“ (EWSA, Wirksame und koordinierte Maßnahmen der EU zur Bekämpfung von Steuerbetrug Steuervermeidung, Geldwäsche und Steueroasen, ABl. EU v. 11.12.2020 - C 429/8). Der Rat der EU hat die Empfehlung beschlossen: „Maßnahmen zur Bekämpfung aggressiver Steuerplanung, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung können die Steuersysteme effizienter und gerechter machen“ (Schlussfolgerungen v. 06.06.2020 zur Gestaltung der digitalen Zukunft Europas, 2020/C 202 I/01), ABl. EU v. 16.06.2020 C 202 I/1 Rn. 67).
II. Im „Kampf gegen die Steuerhinterziehung“ ist ein Paradigmenwechsel festzustellen: Vom Bemühen um eine Legaldefinition eines sog. „Missbrauchs“ bzw. der „Steuerumgehung“ zu einer indiziengestützten Methode mittels einer Konkretisierung durch „Kennzeichen“ (Hallmarks). Osterloh-Konrad (Die Steuerumgehung, 2019, S. 691 ff.) befasst sich in ihrer Habilitationsschrift mit der Frage, ob die nationalen „Allgemeinen Vorschriften zur Bekämpfung der Steuerumgehung“ (General Anti-Avoidance Rules – GAAR) in begrifflich-definitorischer Hinsicht harmonisiert werden sollten. Sie weist zutreffend darauf hin, „dass die konkrete Grenzziehung weniger von den abstrakten Begriffen als von deren Ausfüllung durch die Rechtsprechung in konkreten Fällen abhängt und hierbei ein erheblicher Spielraum besteht“. Sie vertritt zu Recht die Auffassung, dass sich eine Angleichung weit besser mit einem verstärkten internationalen Diskurs über die Lösung gängiger Fallgestaltungen bewirken ließe.
Der EuGH hat entschieden: Die Feststellung eines (Steuer-)Betrugs beruht auf einem Bündel übereinstimmender Indizien, aus denen sich das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements ergibt (EuGH v. 06.02.2018 - C-359/16 - wistra 2018, 163 = ZESAR 2018, 433 Rn. 49 „Altun u.a.“). Auch in seinen Entscheidungen zu den dänischen Durchlaufgesellschaften argumentiert der EuGH mit „Indizien für eine künstliche Gestaltung“ (EuGH v. 26.02.2019 - C-115/16, C-118/16, C-119/16 und C-299/16 - IStR 2019, 308 = DStRE 2019, 1093 Rn. 132 ff. „N Luxembourg 1 u.a.“). In der neueren Rspr. des BFH findet sich die Bemerkung, der Gestaltungsmissbrauch „entziehe sich einer allgemeinen Definition“ und lasse sich „nur durch Würdigung der gesamten Umstände im Einzelfall feststellen“ (BFH, Urt. v. 11.12.2018 - VIII R 21/15 - BFH/NV 2019, 542 Rn. 19). Dies läuft darauf hinaus, dass einschlägige Indizien benannt werden, bei deren Vorliegen ein solcher Missbrauch zumindest naheliegt (BFH, Urt. v. 18.03.2004 - III R 25/02 - BStBl II 2004, 787 Rn. 75; BFH, Urt. v. 10.07.2019 - X R 21-22/17 - BFH/NV 2020, 177 Rn. 31I).
Die besprochene Entscheidung verweist auf den Erwägungsgrund Nr. 9 der Richtlinie 2018/822 („ATAD II“), wo dieses Methodenproblem angesprochen wird:
„Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als ‚Kennzeichen‘ bezeichnet.“
Die Art. 7 ff. des Entwurfs der EU-Kommission v. 22.12.2021 für eine Richtlinie zur Festlegung von Vorschriften zur Verhinderung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen (COM(2021) 565 final) befassen sich mit „Kennzeichen“ unter den folgenden Stichworten: „Indikatoren für die minimale Substanz zu Steuerzwecken“; „Vermutung der minimalen Substanz zu Steuerzwecken“; „Widerlegung der Vermutung“.
III. § 138d Abs. 2 Satz 2 AO normiert, dass eine grenzüberschreitende Steuergestaltung auch dann vorliegt, wenn sie aus einer Reihe von Gestaltungen besteht und nur ein Schritt oder Teilschritt der Reihe einen grenzüberschreitenden Bezug hat. Dies findet sich auch in Art. 6 Abs. 1 ATAD II: Damit wird „der Gesamtplan“ angesprochen. Die gesamtplanmäßige Verbindung von Ausweich- und Korrekturgeschäft – „gegenläufige“, „sich wirtschaftlich gegenseitig neutralisierende Rechtsgeschäfte“ (zutr. BFH, Urt. v. 12.06.2018 - VIII R 32/16 - BFHE 262, 74 = BFH/NV 2018, 1184) bzw. zirkuläre Kettung von Rechtsgeschäften – betreffen eine Mehrzahl von Rechtsgeschäften, die auf einem einheitlichen Plan (= „Gesamtplan“) beruhen. Diese stehen in engem zeitlichen und sachlichen, von einem Mastermind beherrschten Zusammenhang auch eines interpersonellen Vertragsgeflechts, das auch aus mehr als zwei Beteiligten bestehen kann. Sie heben sich in ihrer Wirkung auf und erweisen sich „im Ergebnis lediglich als formale Maßnahme“. Entscheidend sind der Zweck des Gesetzes und der Realitätsbezug des Steuerrechts („réalisme du droit fiscal“; „realistic view on the facts“). Die Teilschritte des zusammengesetzten Gesamtakts sind unbeachtlich (substance over form) und sollen nicht „eintreten und bestehen“. Die Zusammenfassung zu einem einheitlichen Vorgang dient mit der Ausgrenzung nur „papierener“ Zwischenschritte der Aufbereitung des Sachverhalts für eine teleologisch geleitete Subsumtion unter das einschlägige Gesetz. Der „Gesamtplan“ hat sich im nationalen wie im europäischen Recht als Instrument der Rechtsanwendung etabliert. Skeptisch zeigt sich vor allem der IV. Senat des BFH (Urt. v. 16.12.2015 - IV R 8/12 - BStBl II 2017, 766 Rn. 16): „Bei der Auslegung des Steuergesetzes sind die allgemeinen Grundsätze anzuwenden, zu denen auch die am Zweck des Gesetzes orientierte Auslegung gehört (ständige Rechtsprechung . . .). Ein daneben bestehendes oder darüber hinausgehendes Rechtsinstitut eines ‚Gesamtplans‘ gibt es nicht.“


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die §§ 138d ff. sind durch das Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen v. 21.12.2019 (BGBl I 2019, 2875) in die AO eingefügt worden. Hierzu wird verwiesen auf die Gleich lautenden Erlasse BMF v. 29.03.2021 (BStBl I 2021, 582), zuletzt geändert durch BMF-Schreiben v. 23.01.2023 (BStBl I 2023, 183) und v. 07.06.2024 (BStBl I 2024, 926).
Mit § 138d AO wurde eine Mitteilungspflicht grenzüberschreitender Steuergestaltungen eingeführt, um die auf der Empfehlung des OECD-BEPS-Aktionspunkts 12 aufbauende Richtlinie (EU) 2018/822 in nationales Recht umzusetzen. § 138d Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO legt als kumulative Voraussetzung inhaltliche Kennzeichen fest, die eine grenzüberschreitende Steuergestaltung ausmachen, und dient der Umsetzung des Anhangs IV Teil I und II der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Amtshilferichtlinie. Innerhalb der Nummer 3 können dabei die Buchstaben a und b alternativ erfüllt sein. Eine umfassende Definition der einzelnen Kennzeichen enthält § 138e AO. § 138d Abs. 2 Satz 2 AO normiert, dass eine grenzüberschreitende Steuergestaltung auch dann vorliegt, wenn sie aus einer Reihe von Gestaltungen besteht und nur ein Schritt oder Teilschritt der Reihe einen grenzüberschreitenden Bezug hat. § 138e Abs. 2 AO benennt solche Kennzeichen, deren Vorliegen ohne Relevanztest zu einer mitteilungspflichtigen Steuergestaltung führen (BT-Drs. 19/14685, S. 31).
§ 138e AO enthält die abschließende Aufzählung der Kennzeichen, die einen mitteilungspflichtigen Tatbestand auslösen können. Die in § 138e AO genannten Nummern orientieren sich im Wesentlichen an der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Amtshilferichtlinie. Dabei erfasst § 138e Absatz 1 AO die Kennzeichen, auf die der Relevanztest des § 138d Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a AO (sog. „Main-Benefit“-Test) anzuwenden ist.



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