Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Apple Sales International (ASI) und Apple Operations Europe (AOE) sind zwei irische Unternehmen, die zu 100 v.H. der Apple-Gruppe gehören. Die Gruppe wird von der US-amerikanischen Muttergesellschaft Apple Inc. kontrolliert. ASI kauft Apple-Produkte von Geräteherstellern in aller Welt und verkauft diese u.a. in Europa. ASI ist selbst Vertragspartner der Kunden. Apple hat sein europäisches Vertriebsgeschäft so gestaltet, dass – nahezu – alle Gewinne aus in Europa getätigten Verkäufen in Irland anfallen. Wenn z.B. ein Kunde in Deutschland ein iPhone erwirbt, schließt er den Kaufvertrag mit ASI und nicht mit dem deutschen Händler, der ihm das iPhone übergibt. Der Gewinn aus diesem Verkauf ist dann bei ASI und nicht bei dem deutschen Händler zu verbuchen. Die in Europa erwirtschafteten und Irland zugewiesenen Gewinne von ASI werden in Irland kaum besteuert. Dies erreicht Apple durch eine interne Zuweisung der Unternehmensgewinne von ASI zu einem „Verwaltungssitz“. Das irische Steuerrecht lässt zu, dass die Gewinne in dem Land erwirtschaftet werden, in dem das Unternehmen gemanagt wird. Dies ist nach der aufgezeigten Struktur das Land, in dem der Verwaltungssitz liegt.
Im Rahmen dieser Vereinbarung leisten ASI und AOE jährliche Zahlungen an Apple in den USA, um die im Auftrag der irischen Unternehmen in den USA durchgeführte Forschung und Entwicklung zu finanzieren. Dies waren jährliche Zahlungen – ab 2011 – i.H.v. 2 Mrd. US-Dollar mit steigender Tendenz. Mit diesen hauptsächlich von ASI getragenen Aufwendungen wurde mehr als die Hälfte der gesamten Forschung finanziert, mit der die Apple-Gruppe in den USA ihr geistiges Eigentum weltweit entwickelt. Diese Aufwendungen werden im Einklang mit den geltenden Vorschriften jedes Jahr von den Gewinnen abgezogen, die ASI und AOE in Irland erzielen.
Mit Steuervorbescheiden der irischen Finanzverwaltung wurde die von Apple zu Steuerzwecken praktizierte Aufteilung der Gewinne in Irland gebilligt: Der größte Teil der Gewinne wurde intern von Irland weg auf einen „Verwaltungssitz“ (sog. Head Office) übertragen. Dieser „Verwaltungssitz“ war weder in irgendeinem Land niedergelassen noch verfügte er über Mitarbeiter oder eigene Geschäftsräume. Seine Tätigkeiten bestanden lediglich in gelegentlichen Sitzungen des Board of Directors. Nur ein Bruchteil der Gewinne von ASI wurde seiner irischen Zweigniederlassung zugewiesen und in Irland besteuert. Der verbleibende „Löwen“-Anteil der Gewinne wurde dem „Verwaltungssitz“ zugewiesen. Dort wurde der Gewinn nicht besteuert. Auf diese Weise wurde nur ein geringer prozentualer Anteil der Gewinne von ASI in Irland steuerlich erfasst, während der verbleibende Teil weder in Irland noch anderswo besteuert wurde. ASI zahlte im Jahre 2011 in Irland weniger als 10 Mio Euro Körperschaftsteuer, was zu einem effektiven Steuersatz von rd. 0,05 v.H. führte; dieser Steuersatz sank bis zum Jahre 2014 auf 0,005 v.H. Auch der größte Teil der Gewinne von AOE wurde intern einem „Verwaltungssitz“ zugewiesen und weder in Irland noch anderswo besteuert. Wäre der normale irische Steuersatz von etwa 12,5% direkt auf den Gesamtgewinn angewendet worden, hätte Apple rund 13 Milliarden Euro mehr Steuern in Irland gezahlt.
Mit Schreiben vom 29.01.1991 und vom 23.05.2007 erteilte die irische Finanzverwaltung sogenannte „Tax Rulings“ (Steuervorbescheide) zu dem von ASI und AOE in Irland zu versteuernden Gewinn. Sie billigte die Methode der internen Zuweisung von Gewinnen innerhalb der ASI und AOE.
Im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV prüfte die EU-Kommission, ob vorliegend ein selektiver Vorteil gegeben war. Sie bestimmte zunächst den Bezugsrahmen und prüfte die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes. Auf der Grundlage der Feststellung, dass die irische Steuerverwaltung mit den Steuervorbescheiden Apple einen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen bewilligt habe, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, bejahte die Kommission eine unzulässige Beihilfe. Sie ging davon aus, dass die interne Gewinnzuweisung künstlich und weder sachlich noch wirtschaftlich gerechtfertigt sei. Apple habe seine ab dem Jahr 1991 in Irland gezahlten Steuern „künstlich“ und „wirtschaftlich ungerechtfertigt“ verringert. Nahezu die gesamten von ASI und AOE im Verkaufsbereich erwirtschafteten Gewinne seien intern einem „Verwaltungssitz“ zugewiesen worden. Diese „Verwaltungssitze“ hätten nur auf dem Papier bestanden. Sie hätten weder über ausreichende operative Kapazitäten für die Bewältigung und Verwaltung des Vertriebsgeschäfts – Mitarbeiter und Geschäftsräume – verfügt noch hätten sie nennenswerte einschlägige Geschäftstätigkeiten ausgeübt. Sie hätten daher die zugewiesenen Gewinne nicht erwirtschaften können. Die einzigen Tätigkeiten, die mit den „Verwaltungssitzen“ in Verbindung gebracht werden könnten, seien begrenzte Entscheidungen ihrer Direktoren – von denen viele gleichzeitig auf Vollzeitbasis als Führungskräfte für Apple Inc. arbeiteten – über Dividendenausschüttungen, administrative Vereinbarungen und über das Liquiditätsmanagement. Die Direktoren erwirtschafteten Gewinne in Form von Zinsen, die der beihilferechtlichen Beurteilung der Kommission zufolge die einzigen Erträge sind, die den „Verwaltungssitzen“ zugewiesen werden können. Die von ASI im Verkaufsbereich erwirtschafteten Gewinne hätten bei der irischen Zweigniederlassung verbucht und dort besteuert werden müssen. Die den „Verwaltungssitzen“ zugewiesenen Gewinne seien im Einklang mit – mittlerweile nicht mehr geltenden – Bestimmungen des irischen Steuerrechts in keinem Land besteuert worden.
Die EU-Kommission stellt fest: Irland muss jeder Zweigniederlassung alle Gewinne aus dem Vertriebsgeschäft zuweisen, die zuvor indirekt den „Verwaltungssitzen“ von ASI bzw. AOE zugewiesen worden waren, und auf diese neu zugewiesenen Gewinne die normale irische Körperschaftssteuer anwenden.
ASI und AOE erhoben Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses der Kommission (Rechtssache T-892/16). Ausgehend von der Annahme, dass die Kommission zu Unrecht einen Vorteil i.S. von Art. 107 Abs. 1 AEUV bejaht habe, hat das EuG den Beschluss der Kommission in vollem Umfang für nichtig erklärt. Das Gericht hob mit Urteilen vom 15.07.2020 (T-778/16 „Irland/Kommission“; T-892/16 „ASI und AOE/Kommission“; vgl. Pressemitteilung des EuG v. 15.07.2020 Nr. 90/20) die Entscheidungen der EU-Kommission auf. Die Kommission habe in dem angefochtenen Beschluss nicht hinreichend dargelegt, dass die Gesellschaften von den irischen Steuerbehörden einen selektiven Vorteil i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV erhalten haben. Die Kommission habe aber zu Unrecht angenommen, dass sämtliche gewerblichen Einkünfte, die der Apple-Konzern durch Produktverkäufe außerhalb Nord- und Südamerikas erzielt habe, den irischen Niederlassungen der beiden Gesellschaften zugeordnet werden müssten. Hierfür hätte die Kommission belegen müssen, dass diese Einkünfte der Wertschöpfung entsprachen, die durch die Aktivitäten in den irischen Niederlassungen generiert wurde.
Der EuGH bestätigt nunmehr die Auffassung der Kommission und hebt das Urteil des EuG auf. Mit den beanstandeten Steuervorbescheiden seien diesen Gesellschaften Betriebsbeihilfen gewährt worden. Diese seien nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar. Es handle sich, da sie nicht angemeldet worden seien, unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV durchgeführte rechtswidrige staatliche Beihilfen.
Ferner führt der EuGH aus: Die Methode der Zuweisung müsse auf dem Fremdvergleichsgrundsatz beruhen. Vorliegend verschaffe die Zuweisung dem Unternehmen Apple einen ungerechtfertigten, nach den EU-Beihilfevorschriften (Art. 107 Abs. 1 AEUV) unzulässigen Vorteil. Der EuGH stellt fest (Rn. 305 f.):
„Die Kommission hat hinreichend nachgewiesen, dass die beanstandeten Steuervorbescheide dazu führen, dass ASI und AOE eine günstigere steuerliche Behandlung erfahren als gebietsansässige Gesellschaften, die in Irland besteuert werden und – obwohl sie sich hinsichtlich des mit dem Bezugssystem verfolgten Ziels der Besteuerung der in Irland erwirtschafteten Gewinne in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden – nicht in den Genuss solcher Steuervorbescheide der Finanzverwaltung kommen können, nämlich insbesondere autonome, nicht integrierte Unternehmen, integrierte Konzernunternehmen, die Geschäfte mit Dritten abschließen oder integrierte Konzernunternehmen, die Geschäfte mit verbundenen Konzerngesellschaften abschließen und dabei die Preise unter Marktbedingungen festsetzen.
Da mit ihnen der jährliche Betrag der Steuer, die ASI und AOE im Vergleich zu nicht integrierten Gesellschaften, deren zu versteuernder Gewinn die Preise widerspiegelt, die auf dem Markt bestimmt worden sind und unter Marktbedingungen ausgehandelt worden sind, in Irland zu entrichten haben, verringert wird, stellten die beanstandeten Steuervorbescheide eine unterschiedliche Behandlung dar, die im Wesentlichen als abweichend und diskriminierend eingestuft werden kann (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C-20/15 P und C-21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 54).“
Die Gewinne aus der Benutzung der Lizenzen des geistigen Eigentums des Apple-Konzerns hätten in einem fremdvergleichskonformen Kontext nicht den Verwaltungssitzen von ASI und AOE zugewiesen werden dürfen, die außerstande gewesen seien, diese Lizenzen zu verwalten und zu kontrollieren. Nach Auffassung der Kommission bietet der Fremdvergleichsgrundsatz einen Maßstab für die Feststellung, ob einem Konzernunternehmen aufgrund einer steuerlichen Maßnahme, die seine Verrechnungspreise und mithin seine Steuerbemessungsgrundlage bestimme, ein selektiver Vorteil i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV verschafft werde.
Kontext der Entscheidung
I. Der EuGH bestätigt seine Rechtsprechung zu den von den Nationalstaaten gewährten Steuervergünstigungen. Diese werden beihilferechtlich am Maßstab des Art. 107 AEUV anhand der folgenden Kriterien geprüft:
Die Maßnahme muss vom Staat ausgehen bzw. staatliche Mittel in Anspruch nehmen.
Es muss festgestellt werden, dass die Maßnahme geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.
Der Begünstigte muss ihretwegen einen selektiven Vorteil erlangen.
Die Maßnahme muss den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.
Eine Begünstigung liegt vor, wenn ein Vermögenstransfer aus staatlichen Mitteln an bestimmte Unternehmen oder Wirtschaftszweige erfolgt und dieser Vermögenstransfer ohne Gegenleistung (z.B. Kaufpreis, Miete) bzw. mit einer marktunüblichen Gegenleistung (besonders niedriger Preis, symbolischer Mietbeitrag, Verkauf von Liegenschaften unter dem Marktwert etc.) erfolgt. Ein Unternehmen oder ein Wirtschaftszweig wird unzulässigerweise begünstigt, wenn diese aufgrund der Gewährung der staatlichen Beihilfe im Wettbewerb bessergestellt sind als vergleichbare Unternehmen, die keine Beihilfen erhalten haben.
II. Im Falle von steuerlichen Vergünstigungen muss die Kommission zur dritten Voraussetzung des selektiven Vorteils zunächst das jeweilige Bezugssystem ermitteln. Eine staatliche Maßnahme, nach der bestimmte Unternehmen nicht zur Zahlung einer Steuer verpflichtet werden, auch wenn der Staat keine öffentlichen Mittel überträgt, ist eine staatliche Beihilfe, sofern sie einen Verzicht der betroffenen Körperschaften auf Steuereinnahmen darstellt, die normalerweise hätten erzielt werden können. Aufgrund der Steuerautonomie der Mitgliedstaaten sind darunter die Steuerregelungen nach nationalem Recht zu verstehen. Sodann muss die Kommission darlegen, dass die fragliche Maßnahme von dem Bezugssystem abweicht, indem sie zwischen Wirtschaftsteilnehmern unterscheidet, die sich im Hinblick auf das mit dem Bezugssystem verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. Ebenso muss sie feststellen, dass sich diese Unterscheidung nicht mit der Natur oder dem Aufbau des Bezugssystems rechtfertigen lässt.
III. Im Urteil vom 14.12.2023 (Rs. C-457/21 P „Kommission/Amazon.com u.a.“; hierzu Cloer/N. Vogel, IWB 2024, 128) hat der EuGH entschieden, dass beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts es „keinen eigenständigen Fremdvergleichsgrundsatz gebe, der unabhängig von seiner Verankerung im nationalen Recht gelte“. Die Kommission dürfe den Fremdvergleichsgrundsatz bei der Prüfung der Frage, ob ein selektiver Vorteil i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt, daher nur anwenden, wenn dieser Grundsatz als solcher im nationalen Recht verankert sei (EuGH, Urt. v. 14.12.2023 – Rs. C-457/21 P „Kommission/Amazon.com u.a.“ Rn. 54 ff.). Vestager bekräftigt, die EU-Kommission werde „auch künftig Streitfälle vor Gericht ausfechten“.
IV. Die von einer Beihilfe begünstigten Unternehmen dürfen auf die Ordnungsmäßigkeit einer Beihilfe grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn sie unter Einhaltung des in Art. 108 AEUV vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde. Im Streitfall hat die Kommission mit der Anordnung der Rückforderung der Beihilfen nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen.
V. Bei den „Verwaltungssitzen“, die in der besprochenen Entscheidung eine bedeutsame Rolle spielen, handelte es sich offenbar um substanzlose Rechtsträger. Die Wettbewerbskommissarin Margarethe Vestager führte in ihrer Pressemitteilung v. 10.09.2024 aus (
https://germany.representation.ec.europa.eu/news/vestager-zu-den-urteilen-des-eugh-zu-apple-und-google-shopping-ein-grosser-erfolg-fur-die-2024-09-10_de (zuletzt abgerufen am 25.11.2024)): „Die Hauptsitze existierten nur auf dem Papier. Keine Tische, keine Stühle, keine Aktivitäten.“ M.a.W. handelte es sich de facto um Briefkastengesellschaften. Auch diesen haben die europäischen Institutionen den Kampf angesagt. Der Entwurf einer Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Verhinderung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen für Steuerzwecke will verhindern, dass Rechtsträger ohne minimale Substanz und wirtschaftliche Tätigkeit zu unangemessenen Steuerzwecken wie Steuerhinterziehung und Steuervermeidung genutzt werden (sog. ATAD III; EU-Kommission, Vorschlag v. 22.12.2021 für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Verhinderung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen für Steuerzwecke und zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU, COM(2021) 565 final; hierzu Rat der EU, Begleitunterlage Interinstitutionelles Dossier v. 22.12.2021 15296/21 ADD 3, FISC 253 ECOFIN 1299 IA 217, SWD(2021) 579 final). Mit diesem Projekt gehen umfangreiche Meldepflichten hinsichtlich substanzschwacher Gesellschaften einher, denen bei Verfehlen der Mindestsubstanzanforderungen der Verlust von Steuervorteilen aus der Inanspruchnahme von Doppelbesteuerungsabkommen oder EU-Richtlinien drohen. Einleitend heißt in dem einleitenden Abschnitt des Vorschlags: „Damit wird auf eine Forderung des Europäischen Parlaments nach Maßnahmen der Union zur Bekämpfung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen für Steuerzwecke sowie allgemein auf die Forderung mehrerer Mitgliedstaaten, Unternehmen und der Zivilgesellschaft nach einem stärkeren und kohärenteren Ansatz der Union gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung eingegangen.“