Auswirkungen für die Praxis
Das Deutschland nach innerstaatlichem Recht zustehende Besteuerungsrecht für die streitgegenständliche Abfindung ist – jedenfalls in dem Umfang, in dem es vom FA ausgeübt wurde – nicht nach Maßgabe des DBA-Frankreich 1959/2001 ausgeschlossen.
I. Nach Art. 13 Abs. 1 DBA-Frankreich 1959/2001 können Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit vorbehaltlich etwaiger (hier nicht einschlägiger) Sonderregelungen nur in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem die persönliche Tätigkeit, aus der die Einkünfte herrühren, ausgeübt wird (Satz 1). Als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit gelten nach Satz 2 der Regelung insbesondere Gehälter, Besoldungen, Löhne, Gratifikationen oder sonstige Bezüge sowie alle ähnlichen Vorteile, die von anderen als den in Art. 14 DBA-Frankreich 1959/2001 bezeichneten Personen (das sind bestimmte öffentliche Kassen) gezahlt oder gewährt werden. Eine Entschädigungszahlung für den Verlust des Arbeitsplatzes wird folglich vom objektiven Regelungsgegenstand des Art. 13 Abs. 1 Satz 2 DBA-Frankreich 1959/2001 erfasst (BFH, Urt. v. 24.07.2013 - I R 8/13 - BStBl II 2014, 929).
II. Zwar sind Abfindungen anlässlich der Beendigung eines Dienstverhältnisses nach den auf Art. 15 Abs. 1 Satz 1 und 2 OECD MustAbk basierenden DBA nicht im Tätigkeitsstaat, sondern im Ansässigkeitsstaat zu besteuern. Denn bei Abfindungen handelt es sich unbeschadet dessen, dass sie nach dem innerstaatlichen Recht Arbeitslohn (§ 19 EStG) sind, nicht um ein zusätzliches Entgelt für eine frühere Tätigkeit i.S.d. Art. 15 Abs. 1 Satz 2 OECD MustAbk. Sie werden nicht für eine konkrete im Inland oder Ausland ausgeübte Tätigkeit gezahlt, sondern für den Verlust des Arbeitsplatzes (BFH, Urt. v. 02.09.2009 - I R 111/08 - BStBl II 2010, 387 und BFH, Urt. v. 24.07.2013 - I R 8/13 - BStBl II 2014, 929; s.a.: BMF v. 14.09.2006, BStBl I 2006, 532, dort Tz 6.3). Hieran hält auch der erkennende – seit dem 01.01.2024 insoweit sachlich zuständige – Senat uneingeschränkt fest.
III. Etwas anderes gilt nach ständiger Rechtsprechung des I. Senats des BFH, der sich der erkennende Senat ebenfalls anschließt, wegen des von Art. 15 Abs. 1 OECD MustAbk abweichenden Wortlauts nach Art. 13 Abs. 1 DBA-Frankreich 1959/2001. Danach steht das Besteuerungsrecht für Abfindungen grundsätzlich dem Tätigkeitsstaat und damit im Streitfall Deutschland zu. Indem diese Regelung zur Abgrenzung ihres sachlichen Gegenstands ausdrücklich auf die zahlende Person abstellt (Satz 2) und für die Zuordnung auf den Ort der persönlichen Tätigkeit verweist, „aus der die Einkünfte herrühren“, lässt sie einen – wie vorliegend – lediglich kausalen Zusammenhang („Anlasszusammenhang“) zwischen einem Arbeitsverhältnis und der Zahlung durch einen Arbeitgeber ausreichen (BFH, Urt. v. 24.07.2013 - I R 8/13 - BStBl II 2014, 929).
IV. Demnach Art. 13 Abs. 1 DBA-Frankreich 1959/2001 Deutschland zustehenden Besteuerungsrecht betreffend die Abfindung steht – jedenfalls soweit der Abfindungsbetrag auf die Zeit entfällt, in der der Kläger seinen Wohnsitz sowie Arbeitsort im Inland hatte und auch dort besteuert wurde – die sogenannte Grenzgängerregelung des Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich 1959/2001 nicht entgegen.
1. Zwar können danach Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit von Personen, die im Grenzgebiet eines Vertragsstaats (hier: Deutschland) arbeiten und ihre ständige Wohnstätte, zu der sie in der Regel jeden Tag zurückkehren, im Grenzgebiet des anderen Vertragsstaats haben („Grenzgänger“) – abweichend vom Grundsatz des Art. 13 Abs. 1 DBA-Frankreich 1959/2001 und von Art. 15 Abs. 1 OECD MustAbk – nur in diesem anderen Staat (hier: Frankreich) besteuert werden.
2. Allerdings kommt eine Besteuerung der Abfindung in Frankreich, soweit diese (rechnerisch) auf die 129 Monate entfällt, in denen der Kläger seinen Wohnsitz in Deutschland hatte und auch dort seine Tätigkeit ausübte, vorliegend schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger in diesem Zeitraum nicht unter das DBA-Frankreich 1959/2001 fiel. Er unterlag mit seinen in diesem Zeitraum erzielten Einkünften ausschließlich der unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland.
3. Soweit der Abfindungsbetrag (rechnerisch) auf die Zeit entfällt, in der der Kläger seine Tätigkeit als Grenzgänger i.S.d. Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich 1959/2001 ausgeübt hat, hat das FA von einer Besteuerung abgesehen. Damit kann der Senat offenlassen, ob Abfindungszahlungen – entgegen der Rechtsauffassung des FG – jedenfalls in diesem Umfang von der Grenzgängerregelung in Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich 1959/2001 erfasst werden oder ob durch diese Regelung lediglich das Besteuerungsrecht für Vergütungen des Grenzgängers für eine tatsächlich im anderen Vertragsstaat (hier: Deutschland) ausgeübte Tätigkeit dem Ansässigkeitsstaat (hier: Frankreich) zugewiesen wird (s. a. BMF vom 12.12.2023, BStBl I 2023, 2179 Rn. 268).
V. Die „Abfindungsrechtsprechung (Besteuerung im Ansässigkeitsstaat nicht im Tätigkeitsstaat)“ des I. Senats des BFH, nach der es sich bei Abfindungen nicht um ein zusätzliches Entgelt für eine frühere Tätigkeit i.S.d. Art. 15 Abs. 1 Satz 2 OECD MustAbk, sondern um eine Zahlung für den Verlust des Arbeitsplatzes handelt (BFH, Urt. v. 02.09.2009 - I R 111/08 - BStBl II 2010, 387; BFH, Urt. v. 10.06.2015 - I R 79/13 - BStBl II 2016, 326, Märtens, jurisPR-SteuerR 45/2015 Anm. 1, und BFH, Urt. v. 11.04.2018 - I R 5/16 - BStBl II 2018, 761, Märtens, jurisPR-SteuerR 45/2018 Anm. 2) hat der Gesetzgeber mit der Einführung von § 50d Abs. 12 EStG zum VZ 2017 überschrieben (Gosch in: Kirchhof/Seer, EStG, 23. Aufl. § 50d Rn. 52). Nunmehr gelten Abfindungen, die anlässlich der Beendigung eines Dienstverhältnisses gezahlt werden (Entlassungsentschädigungen), nach § 50d Abs. 12 Satz 1 EStG für Zwecke der Anwendung eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung als für frühere Tätigkeit geleistetes zusätzliches Entgelt. Dies gilt nicht, soweit das Abkommen in einer gesonderten, ausdrücklich solche Abfindungen betreffenden Vorschrift eine abweichende Regelung trifft (§ 50d Abs. 12 Satz 2 EStG). § 52 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG sowie Rechtsverordnungen gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 AO bleiben nach § 50d Abs. 12 Satz 3 EStG unberührt. Ab dem VZ 2017 sind daher Abfindungen insoweit im ehemaligen Tätigkeitsstaat des Arbeitnehmers zu besteuern, als diesem für die frühere Tätigkeit nach Art. 15 Abs. 1 OECD-MA ein Besteuerungsrecht zusteht (§ 50d Abs. 12 Satz 1 EStG). Hierzu finden sich im BMF-Schreiben vom 12.12.2023 zur steuerlichen Behandlung des Arbeitslohns nach den Doppelbesteuerungsabkommen umfangreiche Ausführungen (BStBl I 2023, 2179 Tz. 254 ff.).