Funktionslosigkeit einer Festsetzung und Einzelfall i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGBLeitsätze 1. Die Betrachtung der Funktionslosigkeit einer Festsetzung kann auf ein Teilgebiet des Bebauungsplans begrenzt werden, wenn die betroffene Festsetzung ihre Wirkung nach der Plankonzeption der Gemeinde in diesem Bereich auch ungeachtet benachbarter Bereiche entfalten soll. 2. Der Verlust der Steuerungsfähigkeit einer Festsetzung ist offenkundig, wenn auf der Grundlage des ausermittelten Sachverhalts und nach einer durch Fachkenntnisse geprägten Betrachtung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse die nachträglich eingetretenen Abweichungen im maßgeblichen Betrachtungsraum nach Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht haben, aufgrund dessen sich der Schluss aufdrängt, dass ein Vertrauen in die Fortgeltung der Festsetzung nicht mehr schutzwürdig ist. 3. Das Einzelfallerfordernis in § 31 Abs. 3 BauGB verlangt einen atypischen Sonderfall. - A.
Problemstellung In Deutschland fehlen Wohnungen in sehr erheblicher Zahl. Die vorliegenden Untersuchungen kommen zwar zu im Einzelnen verschiedenen Zahlen. Über die Größenordnung fehlender Wohnungen besteht allerdings Konsens. Sie liegt bei mehreren Hunderttausend, bei weiter steigender Tendenz. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat in einem aktuellen Gutachten vom 07.06.2024 festgestellt, dass der Wohnungsbedarf im Zeitraum 2021 bis 2025 von jährlich 308.000 neu benötigten Wohnungen auf jährlich 372.000 neu benötigte Wohnungen gestiegen ist und dass diesem Bedarf durch die aktuelle Bautätigkeit im bundesweiten Durchschnitt nur zu 79% entsprochen wird, wobei die Unterdeckung in den größten sieben Städten des Landes, wo die Not besonders groß ist, sogar nur bei 59% liegt (Institut der deutschen Wirtschaft, Mehr Wohnungsmangel durch steigende Bedarfe und sinkende Bautätigkeit, 07.06.2024, abrufbar unter: www.iwkoeln.de). Auch der Gesetzgeber hat das Problem erkannt. Die Ampelregierung hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag sogar 400.000 neue Wohnungen jährlich zum Ziel gesetzt. Umgesetzt hat der Gesetzgeber dieses Vorhaben durch das Gesetz zur Mobilisierung von Bauland (Baulandmobilisierungsgesetz) vom 14.06.2021 (BGBl, 1802, zu allen Inhalten dieses Gesetzes u.a. Uechtritz, BauR 2021, 1227; Uechtritz, BauR 2021, 1385; Spieler, jurisPR-UmwR 8/2021 Anm. 1 m.w.N.). Eine dort enthaltene neue Regelung ist § 31 Abs. 3 Satz 1 BauGB, wonach in einem Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt, das nach § 201a BauGB durch eine entsprechende Rechtsverordnung des Landes bestimmt ist, mit Zustimmung der Gemeinde im Einzelfall bereits dann von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus befreit werden kann, wenn die Befreiung unter der Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Im Gegensatz zu § 31 Abs. 2 BauGB kann eine Befreiung nach dieser Vorschrift also auch dann erteilt werden, wenn die Grundzüge der Planung berührt werden, allerdings ausdrücklich nur „im Einzelfall“. Nach der Begründung des Gesetzes sollte mit § 31 Abs. 3 BauGB eine „behutsame Lockerung“ der Befreiungsvoraussetzungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB ermöglicht werden (vgl. BT-Drs. 19/24838, S. 28). In der Literatur wurde § 31 Abs. 3 BauGB unterschiedlich bewertet. Einerseits wurde die Auffassung vertreten, mit § 31 Abs. 3 BauGB könne eine beachtliche Flexibilisierung des Bauplanungsrechts erreicht werden, und die Vorschrift könne zu einer der effektivsten Regelungen für die Schaffung von Wohnraum werden (Reidt, BauR 2022, 168, 174). Andererseits wurde auf (angebliche) Gefahren für die durch Art. 28 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich garantierte kommunale Planungshoheit hingewiesen und daraus ein allenfalls sehr eingeschränkter Anwendungsbereich der Vorschrift abgeleitet (Reiling, DVBl 2022, 764, 766 ff.; Franßen, NVwZ 2023, 1787, 1789 ff.; differenzierend Schröer/Kümmel, NVwZ 2021, 1477). Rechtstatsächlich wurde – was auch der Erfahrung des Verfassers entspricht – bereits festgestellt, dass die Bauaufsichtsbehörden von § 31 Abs. 3 BauGB nur sehr zaghaft Gebrauch machen (Schröer/Pusic, BauR 2024, 456, 462 m.w.N. in Fn. 48). Nachdem es, soweit aus allgemein zugänglichen Quellen ersichtlich, zu § 31 Abs. 3 BauGB zunächst nur zwei obergerichtliche Entscheidungen gegeben hatte (OVG Hamburg, Beschl. v. 16.08.2021 - 2 Bs 182/21 und OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.02.2023 - OVG 10 B 15.18) ist die Vorschrift recht schnell Gegenstand des vorzustellenden Urteils des BVerwG vom 24.04.2024 geworden. Das dortige Verständnis des von § 31 Abs. 3 BauGB geforderten Einzelfalls ist wenig überraschend. Welchen Anwendungsbereich § 31 Abs. 3 BauGB mit der damit erfolgten, insoweit aber nur abstrakten, Klärung dieses Tatbestandsmerkmals hat, ist in einer wirklich praxistauglichen Art und Weise indessen leider nicht entschieden.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der Fall spielt in Berlin. Die Beteiligten streiten um die Zulässigkeit des Ausbaus des Dachgeschosses eines fünfgeschossigen Altbaus. Den vom Kläger beantragten Bauvorbescheid hat das Bezirksamt mit Bescheid vom 09.03.2015 mit der Begründung abgelehnt, der geplante Ausbau verstoße gegen das im maßgeblichen Baunutzungsplan festgesetzte Maß der baulichen Nutzung (GFZ). Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das VG Berlin hat die Klage mit Urteil vom 28.06.2018 (13 K 3 115.15) mit der Begründung abgewiesen, das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich unzulässig. Das Maß der baulichen Nutzung überschreite das im Baunutzungsplan festgesetzte Maß der baulichen Nutzung. Dieser Baunutzungsplan sei auch weiterhin wirksam; er sei insbesondere nicht funktionslos geworden. Auch einen Anspruch auf Erteilung einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB habe der Kläger nicht. Die vom VG Berlin in seinem Urteil zugelassene Berufung hat das OVG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 22.02.2023 (OVG 10 B 15.18) zurückgewiesen. In der Sache hat es sich der Auffassung des VG Berlin angeschlossen. Der positiven Beantwortung des Antrags auf Bauvorbescheid stehe entgegen, dass das beabsichtigte Maß der baulichen Nutzung gemäß § 30 Abs. 2 BauGB nach den Festsetzungen des Baunutzungsplans, der als übergeleiteter einfacher Bebauungsplan fortgelte, nicht zulässig sei. Der Baunutzungsplan sei im maßgeblichen Gebiet auch nicht funktionslos geworden. Die dafür nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG erforderlichen Voraussetzungen lägen nicht vor. Auch eine Befreiung könne nicht erteilt werden. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB lägen nicht vor, weil durch das Bauvorhaben die Grundzüge der Planung berührt würden. Das hier maßgebliche Maß der baulichen Nutzung stelle eine tragende Festsetzung der Planung dar. Weil vor dem Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 22.02.2023 § 31 Abs. 3 BauGB in Kraft getreten war, hatte das Berufungsgericht Anlass, sich auch mit dieser Vorschrift zu befassen. Das Gericht hat festgestellt, dass auch nach § 31 Abs. 3 BauGB eine Befreiung nicht erteilt werden könne, da es sich nicht um eine Befreiung für einen hiernach vorausgesetzten Einzelfall handeln würde. Es dürfe (auch) nach dieser Vorschrift nicht um städtebauliche Situationen gehen, die in dem betreffenden Plangebiet nahezu beliebig häufig auftreten könnten, da dann die auch bei § 31 Abs. 3 BauGB maßgebliche Grenze zu einer notwendigen Planänderung überschritten wäre. Eine Befreiung im Einzelfall komme nicht in Betracht, wenn dabei auf Umstände abgestellt werde, die auf mehr als nur einzelne Grundstücke oder Vorhaben übertragen werden könnten. Dies wäre hier aber der Fall, da sich im zu betrachtenden Teil des Plangebiets die durch das Bauvorhaben aufgeworfene Konstellation des Dachgeschossausbaus noch in einer Reihe weiterer Fälle stellen werde. Von einem Einzelfall könne daher nicht die Rede sein. Der Senat sehe insoweit durchaus das Problem, dass der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 31 Abs. 3 BauGB eine behutsame Lockerung und ein Abweichen von den Grundzügen der Planung im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung bezweckt habe, dieses Ansinnen aber durch den Wortlaut, der eine solche Befreiung gerade auf den Einzelfall beschränke, wieder infrage gestellt habe. Eine gegenteilige Auslegung des § 31 Abs. 3 BauGB gegen den klaren Wortlaut erscheine dem Senat nicht möglich, da dies das Tatbestandsmerkmal des Einzelfalls letztlich völlig entwerten würde. Höchstrichterliche Klärung zu dieser Frage sei bislang nicht erfolgt. Auf die vom OVG Berlin-Brandenburg zugelassene Revision hin hat das BVerwG das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das OVG zurückverwiesen. Diese Entscheidung liegt bislang noch nicht vor. Nach telefonischer Auskunft der Geschäftsstelle des weiterhin zuständigen 10. Senats ist eine erneute mündliche Verhandlung auch noch nicht terminiert. Maßgeblich für die Zurückverweisung war die Feststellung des BVerwG, das Berufungsgericht habe die Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans im maßgeblichen Betrachtungsraum mit bundesrechtlich nicht tragfähigen Erwägungen verneint. Zunächst hat das BVerwG in diesem Zusammenhang seine Rechtsprechung zur Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans nochmals zusammengefasst. Demnach tritt eine Festsetzung eines Bebauungsplans automatisch außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sich die Planung bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz mehr verdient (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urt. v. 29.04.1977 - IV C 39.75 Rn. 35; BVerwG, Urt. v. 28.04.2004 - 4 C 10/03 Rn. 15; BVerwG, Urt. v. 30.06.2004 - 4 C 3/03 Rn. 11, und BVerwG, Urt. v. 21.03.2023 - 4 A 9/21 Rn. 39). Diese Grundsätze gelten auch für nach § 233 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 übergeleitete Pläne. Das BVerwG hat weiter festgestellt, das OVG sei aber unter Verstoß gegen Bundesrecht davon ausgegangen, dass bei der Prüfung der Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen des Baunutzungsplans in der Regel und so auch hier nur der jeweilige Baublock zu betrachten sei. Zwischen den Begriffen der Funktionslosigkeit und der Erforderlichkeit i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB bestehe eine innere Wechselbeziehung (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 - 4 CN 11/03 Rn. 33, 34). Für die Frage, ob eine Festsetzung eines Bebauungsplans funktionslos geworden sei, komme es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend sei vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet sei, zur städtebaulichen Ordnung i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Denn die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liege, werde nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden könne. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abwichen, dass der Bebauungsplan insoweit seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermöge, könne von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Dies setze voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar sei, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren habe, die städtebauliche Entwicklung noch in eine bestimmte Richtung zu steuern (BVerwG, Urt. v. 21.03.2023 - 4 A 9/21 Rn. 39). Dabei sei auch die Bedeutung zu berücksichtigen, die die einzelne Festsetzung für den Plan in seiner Gesamtheit habe (BVerwG, Urt. v. 29.04.1977 - IV C 39.75 Rn. 35 und BVerwG, Urt. v. 03.08.1990 - 7 C 41/89 Rn. 16). Maßgeblicher Betrachtungsraum für die Beurteilung der Funktionslosigkeit einer Festsetzung sei folglich grundsätzlich das Plangebiet, in dem die Gemeinde ihre Planungsbefugnis und Gestaltungsfunktion nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB wahrgenommen habe. Diese Grundsätze würden jedoch zum einen in Berlin durch besondere organisationsrechtliche Regelungen eingeschränkt. Aus der Aufgabenzuweisung an die Bezirke ergebe sich eine äußerste Grenze für den Betrachtungsraum, der den Zuständigkeitsbereich der Bezirke nicht überschreiten dürfe, die als verselbstständigte Teile der nachgeordneten Verwaltung der Einheitsgemeinde Stadt Berlin die Aufgabe der Bauleitplanung aus abgeleitetem Recht auf der Grundlage organisationsrechtlich zugewiesener Kompetenzen wahrnehmen würden. In den so voneinander abgegrenzten Teilbereichen des Stadtgebiets könne sich die bauplanungsrechtliche Situation deshalb eigenständig fortentwickeln. Dies betreffe auch die Funktionslosigkeit infolge tatsächlicher Entwicklungen. Zum anderen würden diese Grundsätze (auch außerhalb von Berlin) eine Ausnahme mit der Folge erfahren, dass die Betrachtung der Funktionslosigkeit auf ein Teilgebiet des Geltungsbereichs des Bebauungsplans zu beschränken sei, wenn die betroffene Festsetzung ihre Wirkung nach der Plankonzeption der Gemeinde in diesem Teilbereich auch ungeachtet benachbarter Bereiche entfalten sollte. Für den Berliner Baunutzungsplan folge daraus, dass der Betrachtungsraum für die Beurteilung der Funktionslosigkeit einer Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung jedenfalls nicht über den jeweils abmarkierten Geltungsbereich der im Baunutzungsplan festgesetzten maßgeblichen Baustufe hinausgehe. Im Übrigen könne bei einer Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung eine kleinräumige Betrachtung z.B. des Straßengevierts geboten sein, wenn sich die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich innerhalb des jeweiligen Baublocks – etwa zur Auflockerung des Hinterhofbereichs – auswirken solle und sie nicht, etwa zum Erhalt eines einheitlichen Straßenbildes, auf eine weiträumigere städtebauliche Gestaltung abziele. Diesen Maßstäben sei das Berufungsurteil nicht gerecht geworden. Auch bei der Prüfung der sachlichen Voraussetzungen der Funktionslosigkeit der Festsetzung der GFZ habe das Berufungsgericht bundesrechtliche Anforderungen verfehlt. Es habe zu Unrecht die Offenkundigkeit des Verlusts der Steuerungswirkung verneint. Die Offenkundigkeitsprüfung verlange im Sinne eines Evidenzurteils eine auch rechtliche Wertung, ob die Abweichungen von der Festsetzung im maßgeblichen Betrachtungsraum ein Ausmaß erreicht hätten, das aufgrund der Unumkehrbarkeit einem in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nehme (BVerwG, Urt. v. 29.04.1977 - IV C 39.75 Rn. 35 und BVerwG, Urt. v. 21.03.2023 - 4 A 9/21 Rn. 39). Die Bewertung als offenkundig beruhe mithin auf der Feststellung der von der planerischen Festsetzung objektiv abweichenden tatsächlichen Entwicklung und setze eine umfassende, auch rechtliche Würdigungen einbeziehende Prüfung der irreversiblen tatsächlichen Verhältnisse voraus. Es komme entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts weder darauf an, ob die zur Funktionslosigkeit führenden tatsächlichen Entwicklungen für einen beliebigen externen Betrachter ohne Weiteres aus der baulichen Substanz oder ihrer nach außen erkennbaren Nutzung ablesbar seien, noch darauf, ob diese aus allgemein zugänglichen Unterlagen bzw. sonstigen Informationsquellen, z.B. aus Lageplänen, Luftbildern oder elektronisch abrufbaren Geoinformationssystemen, ersichtlich seien. Entscheidend sei vielmehr, ob auf der Grundlage des ausermittelten Sachverhalts und nach einer durch Fachkenntnisse geprägten Betrachtung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse – und damit nicht nach dem Erkenntnishorizont eines wie auch immer gearteten „Durchschnittsbetrachters“ – die nachträglich eingetretenen Abweichungen im maßgeblichen Betrachtungsraum nach Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht hätten, aufgrund dessen sich der Schluss aufdränge, dass ein Vertrauen in die Fortgeltung der Festsetzung nicht mehr schutzwürdig sei. Auch der Umstand, dass bei der Ermittlung der für die Bestimmung der GFZ maßgeblichen Geschossfläche im Einzelfall schwierige rechtliche Maßstäbe zugrunde zu legen seien und unterschiedliche Parameter zur Anwendung kommen könnten, stehe der Offenkundigkeit des – ohnehin erhebliche Abweichungen erfordernden – Verlusts der Steuerungsfähigkeit einer solchen Festsetzung nicht entgegen. Ohne Verstoß gegen Bundesrecht habe das Berufungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Befreiung von der (also möglicherweise fortgeltenden) GFZ-Festsetzung verneint. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB lägen nicht vor, weil die festgesetzte GFZ Teil des planerischen Grundkonzepts des Baunutzungsplan sei und deshalb einen einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB entgegenstehenden Grundzug der Planung darstelle. Auch die Voraussetzungen des § 31 Abs. 3 Satz 1 BauGB lägen nicht vor. Demnach könne in einem durch Rechtsverordnung bestimmten Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt mit Zustimmung der Gemeinde im Einzelfall von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus befreit werden, wenn die Befreiung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Der Gesetzgeber habe mit dem Einzelfallerfordernis ersichtlich an das entsprechende Tatbestandsmerkmal der früheren Fassung des § 31 Abs. 2 BauGB angeknüpft, das durch das BauROG vom 18.08.1997 (BGBl, 2081) weggefallen sei. Nach der Begründung des damaligen Gesetzentwurfs sollte damit klargestellt werden, dass ein atypischer Sonderfall nicht mehr Befreiungsvoraussetzung nach § 31 Abs. 2 BauGB sei (vgl. BT-Drs. 13/6392, S. 56). Daraus folge, dass der Gesetzgeber mit der weiteren Befreiungsmöglichkeit in § 31 Abs. 3 BauGB und dem dort vorgesehenen Einzelfallerfordernis im Sinne einer behutsamen Lockerung der sonst geltenden Tatbestandsvoraussetzungen nach § 31 Abs. 2 BauGB jene strenge tatbestandliche Grenze wiedereingeführt habe. Der Einzelfall in § 31 Abs. 3 BauGB verlange daher einen atypischen Sonderfall. Dieser sei zu verneinen, wenn es an einer grundstücksbezogenen Besonderheit fehle, wenn also etwa die Gründe, die für eine Befreiung streiten würden, für jedes oder nahezu für jedes Grundstück im Planbereich gegeben wären (BVerwG, Urt. v. 14.02.1991 - 4 C 51/87 Rn. 31) bzw. wenn sich eine vergleichbare Befreiungslage innerhalb des Plangebiets in einer erheblichen Zahl gleich gelagerter Fälle einstellen könnte (OVG Hamburg, Beschl. v. 16.08.2021 - 2 Bs 182/21 Rn. 29). Das Berufungsurteil entspreche diesen Vorgaben.
- C.
Kontext der Entscheidung I. Einführung Das Urteil des BVerwG betrifft eine Fallkonstellation, die so immer wieder vorkommt. Der Bauherr möchte ein Vorhaben realisieren, das allen oder einzelnen Festsetzungen des für das Baugrundstück geltenden Bebauungsplans nicht entspricht. Dann hat er grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie er dieses Ziel erreichen kann: Entweder er beantragt und bekommt eine Befreiung von diesen Festsetzungen des Bebauungsplans. Oder er setzt sich mit der Auffassung durch, dass er eine Befreiung gar nicht braucht, weil der Bebauungsplan oder jedenfalls die Festsetzung, die sein Vorhaben nicht einhält, nicht gilt. Liegt sein Vorhaben, so der Regelfall, im Innenbereich und fügt es sich dort gemäß § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein, ist es (deshalb) zulässig. Dass eine Festsetzung des Bebauungsplans nicht gilt, kann wiederum zwei Gründe haben: Entweder sie ist (also von Anfang an) wegen eines (gemäß den §§ 214, 215 BauGB beachtlichen und auch nicht unbeachtlich gewordenen) Rechtsverstoßes unwirksam oder sie ist durch die tatsächliche Entwicklung im Geltungsbereich des Bebauungsplans nachträglich funktionslos geworden. Letzteres ist nach der Grundsatzentscheidung des BVerwG vom 29.04.1977 der Fall, wenn die Verhältnisse, auf die sich die Planung bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz mehr genießt (BVerwG, Urt. v. 29.04.1977 - IV C 39.75 Rn. 35). Ohne dass diese Fragestellung hier vertieft werden soll und kann, ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass zwar Konsens besteht, dass die Gerichte die Kompetenz haben, die Unwirksamkeit und die Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen (inzident) festzustellen. Nach wie vor umstritten ist dagegen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen diese sog. „Verwerfungskompetenz“ auch den Bauaufsichtsbehörden zusteht. Das BVerwG hat diese Frage jedenfalls grundsätzlich bis zum heutigen Tag offengelassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.03.2019 - 4 BN 18/18 Rn. 50 m.w.N.). In seinem Urteil vom 31.01.2001 hat es eine Verwerfungskompetenz (nur) in dem Sonderfall bejaht, in dem die Gemeinde Hinweisen der Baubehörde auf rechtserhebliche Mängel des Bebauungsplans nicht Rechnung getragen hatte und die Unwirksamkeit des Bebauungsplans in einem Verwaltungsrechtsstreit eines Dritten, aber ohne allgemeine Verbindlichkeit, bereits gerichtlich festgestellt worden war (BVerwG, Urt. v. 31.01.2001 - 6 CN 2/00 Rn. 21 ff.). Der BGH hat eine Verwerfungsbefugnis der Bauaufsichtsbehörden (durch die Brille des Amtshaftungsanspruchs) verneint (BGH, Urt. v. 25.10.2012 - III ZR 29/12 Rn. 19). Die Obergerichte und die Literatur beantworten sie unterschiedlich und teilweise differenzierend (ablehnend u.a. OVG Lüneburg, Beschl. v. 09.03.2012 - 1 LA 352/07 Rn. 104; OVG Lüneburg, Beschl. v. 14.05.2023 - 8 A 10043/13 Rn. 7, 8; grundsätzlich ebenso OVG Münster, Urt. v. 30.06.2005 - 20 A 3988/03 Rn. 66 und VGH München, Urt. v. 09.06.2021 - 15 N 20.1412 Rn. 55, aber jeweils mit dem Vorbehalt, dass bei „offensichtlichen“ Mängeln etwas anderes gelten könne; bejahend dagegen OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.10.1999 - 1 M 3614/99 Rn. 10; aus der Literatur verneinend u.a. Kukk in: Schrödter, BauGB, 9. Aufl. 2019, § 10 Rn. 13; differenzierend Külpmann in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: 04/2024, § 10 Rn. 398, jeweils m.w.N.). Obwohl die Gründe für die Unwirksamkeit und die Gründe für die Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans völlig verschiedene sind, ist jedenfalls das OVG Koblenz der Auffassung, dass den Bauaufsichtsbehörden auch bei funktionslosen Bebauungsplänen eine Verwerfungskompetenz nicht zustehe (OVG Koblenz, Beschl. v. 14.05.2013 - 8 A 10043/13 Rn. 7, 8 m.w.N.). Wenn die Verwerfungskompetenz der Bauaufsichtsbehörden verneint wird, ist der Bauherr mit dem Argument der Funktionslosigkeit also von vornherein auf die Gerichte angewiesen. Dies ist bzw. wäre einerseits nicht von vorherein problematisch, kann es andererseits aber werden, wenn sich die Dauer dieser Gerichtsverfahren wie im vorliegenden Fall entwickelt (vgl. dazu E.). Das Urteil des BVerwG vom 24.04.2024 befasst sich sowohl mit den Anforderungen an die Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen als auch mit den Voraussetzungen einer Befreiung, insbesondere auch gemäß § 31 Abs. 3 BauGB. Zu beiden Fragestellungen enthält das Urteil Präzisierungen: II. Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen Die Präzisierung der Rechtsprechung zur Funktionslosigkeit liegt zum einen in den Ausführungen zum maßgeblichen Betrachtungsraum. Das BVerwG hat festgestellt, dass es für eine Funktionslosigkeit grundsätzlich auf den Bebauungsplan in seiner Gesamtheit ankommt. Grundsätzlich ist also maßgeblich, ob die tatsächliche Entwicklung im gesamten Plangebiet das erforderliche massive und offenkundige Ausmaß an Abweichung von der Planungskonzeption erreicht hat. Deshalb ist maßgeblicher Betrachtungsraum für die Beurteilung der Funktionslosigkeit einer Festsetzung grundsätzlich das gesamte Plangebiet, in dem die Gemeinde ihre Planungshoheit wahrgenommen hat. Von diesem Grundsatz gibt es aber Ausnahmen: Eine erste und spezielle Ausnahme gilt für Berlin. Weil die Bezirke in der Regel für die Aufstellung von Bebauungsplänen zuständig sind, kann der maßgebliche Betrachtungsraum nicht größer sein als der Zuständigkeitsbereich eines Bezirks. Eine weitere Ausnahme gilt dagegen bundesweit. Wenn die fragliche Festsetzung ihre Wirkung nach der Plankonzeption der Gemeinde nur in einem Teilbereich des Bebauungsplans entfalten sollte, ist auch nur dieser Teilbereich der maßgebliche Betrachtungsraum. Die fragliche Festsetzung wird in solchen Fällen also bereits dann funktionslos, wenn nur in diesem Betrachtungsraum die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt im erforderlichen Umfang und offenkundig abweichen. Ohne dies ausdrücklich der Rechtsfigur der Funktionslosigkeit zuzuordnen, hatte der VGH Mannheim diese Differenzierung im Zusammenhang mit der Fortgeltung der Grundzüge der Planung in seinem Urteil vom 15.09.2016 bereits ebenso vorgenommen und festgestellt, dass das dafür maßgebliche Gebiet auch nur ein Teil des Plangebiets sein könne (VGH Mannheim, Urt. v. 15.09.2016 - 5 S 114/14 Rn. 37; zur – auch dort nicht der Funktionslosigkeit zugeordneten – Fortgeltung der Grundzüge der Planung auch VGH München, Urt. v. 09.08.2007 - 25 B 05.1337 Rn. 41 ff. und BVerwG, Urt. v. 18.11.2010 - 4 C 10/09 Rn. 39). Ohne dass das BVerwG dies ausdrücklich so festgestellt hätte, kann das Urteil vom 24.04.2024 aber wohl nur so verstanden werden, dass die fragliche Festsetzung dann auch nur in diesem Betrachtungsraum funktionslos wird, nicht aber im gesamten Geltungsbereich des Bebauungsplans. Eine weitere Präzisierung besteht in den Klarstellungen zur erforderlichen Offenkundigkeit einer Funktionslosigkeit. Das BVerwG hat festgestellt, dass für eine solche Feststellung eine umfassende, insbesondere auch rechtliche Würdigungen einbeziehende Prüfung der Unumkehrbarkeit der tatsächlichen Verhältnisse erforderlich ist. Nicht maßgeblich ist dagegen der, wie das BVerwG ausdrücklich formuliert hat, „Erkenntnishorizont eines wie auch immer gearteten Durchschnittsbetrachters“. III. Einzelfall i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB Mit dem Urteil des BVerwG liegt – allerdings nur auf einer eher abstrakten Ebene, vgl. dazu D.II. – die vom OVG Berlin-Brandenburg vermisste höchstrichterliche Klärung der Frage vor, wie das Tatbestandsmerkmal des „Einzelfalls“ i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB zu verstehen ist. Das BVerwG hat seine Entscheidung – wenig überraschend – auf die Gesetzgebungsmaterialien, insbesondere auch zu früheren Änderungen der Vorschrift über Befreiungen, gestützt. Diese ergeben in der Tat ein sehr eindeutiges Ergebnis: Bis zum Inkrafttreten des BauROG vom 18.08.1997 setzte die Erteilung einer Befreiung ausdrücklich einen Einzelfall voraus. Diese Voraussetzung hat der Gesetzgeber mit dem BauROG gestrichen und in der Gesetzesbegründung klargestellt, dass damit ein atypischer Sonderfall nicht mehr Voraussetzung einer Befreiung sein sollte ( BT-Drs. 13/6392, S. 56). Ohne dass es für das Verständnis des hier interessierenden § 31 Abs. 3 BauGB maßgeblich wäre, ist darauf hinzuweisen, dass sich im Anschluss an diese damalige Neuregelung eine bislang nicht abgeschlossene Diskussion entwickelt hat, ob diese gesetzgeberische Intention auch Inhalt des § 31 Abs. 2 BauGB geworden ist, oder ob nicht aus dem „Wesen“ der Befreiung auch ohne ausdrückliche Regelung im Gesetz das Erfordernis eines atypischen Einzelfalls folgt (zum Streitstand Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 31 Rn. 29 ff. und Dürr in: Brügelmann, BauGB, Stand: 07/2024, § 31 Rn. 38 ff., jeweils m.w.N.). Jedenfalls diese Diskussion sollte mit dem Urteil des BVerwG vom 24.04.2024 beendet sein, denn das BVerwG hat die damalige Gesetzesbegründung nur, also unwidersprochen, zitiert und festgestellt, dass der Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal des Einzelfalls mit § 31 Abs. 3 BauGB wiedereingeführt habe. Also gilt es für § 31 Abs. 2 BauGB nicht (mehr). Wenngleich sich in den Gesetzgebungsmaterialien zum Baulandmobilisierungsgesetz kein entsprechender Hinweis findet, spricht in der Tat alles dafür, dass der Gesetzgeber mit dem – wieder eingeführten – Begriff des Einzelfalls in § 31 Abs. 3 BauGB an die Regelung in § 31 Abs. 2 BauGB vor dem BauROG angeknüpft hat. Anders kann man den Begriff nach den verschiedenen Fassungen des Gesetzes und den Gesetzgebungsmaterialien nicht verstehen (so auch bereits Uechtritz, BauR 2021, 1385, 1386 und Fn. 7). Hätte der Gesetzgeber etwas anderes gewollt, hätte er eine andere Formulierung verwenden müssen. Eine nochmalige Änderung des § 31 Abs. 3 BauGB wurde inzwischen allerdings bereits auf den Weg gebracht; auf den Einzelfall soll dabei jedoch weiterhin nicht verzichtet werden. Nach dem Referentenentwurf zur Änderung des BauGB vom 03.09.2024 soll § 31 Abs. 3 BauGB neu wie folgt lauten: „(3) Mit Zustimmung der Gemeinde kann im Einzelfall von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnbaus befreit werden, wenn die Befreiung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Von dem Einzelfallerfordernis nach Satz 1 kann abgesehen werden, wenn entsprechende Befreiungen voraussichtlich auch in vergleichbaren Fällen erteilt werden sollen und wenn die Befreiung 1. der Erweiterung, Änderung oder Erneuerung eines zulässigerweise errichteten Gebäudes, insbesondere seiner Aufstockung, dient oder 2. der Errichtung eines Gebäudes dient, das nach Art der baulichen Nutzung nach dem Bebauungsplan zulässig wäre. Die Gemeinde hat den Inhalt der jeweils ersten nach Satz 2 erteilten Befreiung ergänzend zum Bebauungsplan entsprechend § 10a Abs. 1 Satz 1 zu veröffentlichen und entsprechend § 10a Abs. 2 Satz 1 zugänglich zu machen. Für die Zustimmung der Gemeinde nach Satz 1 gilt § 36 Abs. 2 Satz 2 entsprechend.“ Ob und wann und mit welchem Inhalt diese oder eine andere Änderung des § 31 Abs. 3 BauGB in Kraft treten wird, ist – erst recht seit dem Ende der Ampelkoalition am 06.11.2024 – allerdings nicht absehbar. Deshalb bleibt bis auf Weiteres die Frage, welchen Anwendungsbereich die derzeit geltende Fassung des § 31 Abs. 3 BauGB hat. Sollte der Referentenentwurf Gesetz werden, wird sich die Frage, wann ein Einzelfall im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, auch weiterhin stellen.
- D.
Auswirkungen für die Praxis I. Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans Das BVerwG hat die Anforderungen an die Funktionslosigkeit einer Festsetzung mit seinem Urteil vom 24.04.2024 jedenfalls ein Stück weit gelockert. Dies gilt zum einen im Hinblick auf die Klarstellungen zum maßgeblichen Betrachtungsraum. Das erforderliche erhebliche Ausmaß der Abweichung zwischen Planung und tatsächlicher Entwicklung wird sich in einem – ggf. maßgeblichen – kleineren Betrachtungsraum häufiger feststellen lassen als im gesamten Geltungsbereich eines Bebauungsplans. Von den dafür erforderlichen separat zu betrachtenden Teilbereichen eines Bebauungsplans wird man grundsätzlich schon dann ausgehen können, wenn der Bebauungsplan für diese Teilbereiche unterschiedliche Festsetzungen trifft, z.B. zu Art und Maß der baulichen Nutzung oder zu den überbaubaren Grundstücksflächen. Denn in solchen Fällen dürfte gelten, was nach dem Urteil des BVerwG das maßgebliche Kriterium ist: Wenn die Gemeinde selbst für verschiedene Teilbereiche unterschiedliche Festsetzungen trifft, ist jedenfalls grundsätzlich davon auszugehen, dass diese ungeachtet der Festsetzungen in anderen Teilbereichen gelten sollen. Eine entsprechende Bestätigung durch die Begründung des jeweiligen Bebauungsplans wäre zwar hilfreich, ist aber wohl nur in Ausnahmefällen zu erwarten. Auch die Klarstellungen zu den Anforderungen an die Offenkundigkeit sollten zu Lockerungen führen, zumal das BVerwG den Erkenntnishorizont eines „Durchschnittsbetrachters“ ausdrücklich für nicht maßgeblich erklärt hat. Offensichtlich ist also auch das, was sich erst im Ergebnis einer intensiven, auch rechtlichen Prüfung als offensichtlich herausstellt. Die Parallele zum Verständnis des offensichtlichen Mangels i.S.d. § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.08.1981 - 4 C 57/80 Rn. 19 ff., 24 ff.) liegt auf der Hand. Ob und wie – vorbehaltlich ihrer Verwerfungskompetenz, vgl.o. C. I. – die Bauaufsichtsbehörden und die Instanzgerichte diese (neuen) Spielräume nutzen, bleibt freilich abzuwarten. Ein erster (Anwendungs-)Fall ist der Beschluss des VG Berlin vom 16.08.2024, in dem im konkreten Fall die Funktionslosigkeit (einer Festsetzung des Baunutzungsplans) bejaht wurde (VG Berlin, Beschl. v. 16.08.2024 - 19 L 153/24 mit Anm. Burrack, jurisPR-ÖffBauR 11/2024 Anm. 3). II. Einzelfall i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB Trotz der entsprechenden Herleitung (vgl.o. C.III.) gilt nach dem Urteil des BVerwG vom 20.04.2024 für den Einzelfall i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB nicht nur die Rechtsprechung zum Einzelfall i.S.d. § 31 Abs. 2 BauGB vor dem Inkrafttreten des BauROG. Das BVerwG hat zwar zum einen seine eigene (frühere) Rechtsprechung zu dieser Vorschrift nochmals wiederholt, seine Auffassung zum anderen aber auch, also zustimmend, um die Auffassung des OVG Hamburg im bereits zitierten Beschluss vom 16.08.2021 ergänzt. Demnach gilt: Der für den Einzelfall i.S.d § 31 Abs. 3 BauGB erforderliche atypische Sonderfall ist zu verneinen, wenn es an einer grundstücksbezogenen Besonderheit fehlt, wenn also etwa die Gründe, die für eine Befreiung streiten würden, für jedes oder nahezu für jedes Grundstück im Planbereich gegeben wären (BVerwG, Urt. v. 14.02.1991 - 4 C 51/87 Rn. 31) bzw. wenn sich eine vergleichbare Befreiungslage innerhalb des Plangebiets in einer erheblichen Zahl gleich gelagerter Fälle einstellen könnte (OVG Hamburg, Beschl. v. 16.08.2021 - 2 Bs 182/21 Rn. 29). Man kann dieses Verständnis des „atypischen Sonderfalls“ zwar nicht als widersprüchlich bezeichnen. Eindeutig ist jedoch, dass das BVerwG zwei durchaus verschiedene Konstellationen benennt, die mit der (wie immer mehrdeutigen) Konjunktion „bzw.“ verbunden werden. „Jedes oder nahezu jedes Grundstück“ ist jedenfalls nicht dasselbe Maß wie „eine erhebliche Zahl“. Diese Ausführungen können aber nur so verstanden werden, dass ein atypischer Fall nicht erst dann zu verneinen ist, wenn er – mit der früheren Rechtsprechung des BVerwG – bei jedem oder nahezu jedem Grundstück im Planbereich gegeben ist, sondern bereits dann, wenn er – mit dem (zustimmend zitierten) Beschluss des OVG Hamburg – in einer erheblichen Zahl gleichgelagerter Fälle vorliegt. Denn anderenfalls hätte diese zweite Fallkonstellation keinen (eigenen) Anwendungsbereich. Demnach liegt nach dem Urteil des BVerwG vom 24.04.2024 der für einen Einzelfall i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB erforderliche atypische Sonderfall also bereits dann nicht vor, wenn sich innerhalb des Plangebiets eine erhebliche Zahl gleichgelagerter Fälle findet. Insoweit ist die Voraussetzung des Einzelfalls also geklärt. Was aber ist eine in diesem Sinne „erhebliche Zahl“ gleichgelagerter Fälle? Zunächst nahe liegt die – auch in anderem Zusammenhang von der Rechtsprechung gerne gegebene – Antwort, diese Frage könne nur im Wege einer wertenden Gesamtschau der jeweiligen Umstände des Einzelfalls entschieden werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.09.2024 - 4 B 22/24 Rn. 4). Diese Antwort ist einerseits nicht/nie falsch. Andererseits ist sie wenig praxistauglich, denn sie bietet wenig Rechtssicherheit. Dies zeigt auch der Widerspruch zwischen der Intention des Gesetzgebers, mit § 31 Abs. 3 BauGB die Befreiungsvoraussetzungen für den als dringend erforderlich erkannten Wohnungsbau (behutsam) zu lockern einerseits und dem rechtstatsächlichen Befund andererseits, dass von dieser Möglichkeit in der Praxis nur sehr zaghaft Gebrauch gemacht wird (vgl.o. A.). Nach hier vertretener Auffassung verfehlt diese zaghafte Praxis den Anwendungsbereich des § 31 Abs. 3 BauGB. Dies nicht nur (aber auch) im Lichte der insoweit eindeutigen Intention des Gesetzgebers, sondern auch aus folgenden Rechtsgründen: Auch nach der Rechtsprechung des BVerwG ist Grenze der Zulässigkeit einer Befreiung ein Planungsbedürfnis. Auf das insoweit maßgebliche Verhältnis zwischen Funktionslosigkeit einerseits und der Erforderlichkeit i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB andererseits hat auch das BVerwG in seinem Urteil vom 24.04.2024 nochmals ausdrücklich hingewiesen (vgl. Rn. 12 m.w.N.). Eine bzw. mehrere Befreiungen kommen deshalb dann nicht mehr in Betracht, wenn sie den vom Bebauungsplan erfassten Regelfall außer Kraft setzen würden (so ausdrücklich BVerwG, Beschl. v. 08.05.1989 - 4 B 78/89 Rn. 4); dann ist ein (Änderungs-)Bebauungsplan i.S.d. § 1 Abs. 3 BauGB erforderlich. Den Regelfall außer Kraft zu setzen sind Befreiungen zwar in der Lage, aber nur und erst dann, wenn in der Folge dieser Befreiungen der Bebauungsplan insgesamt oder jedenfalls eine einzelne Festsetzung funktionslos wird. Solange Befreiungen diese Konsequenz nicht haben, setzen sie den Bebauungsplan nicht außer Kraft. Die nach dem Urteil des BVerwG maßgebliche „erhebliche“ Zahl gleichgelagerter Fälle wird also solange nicht erreicht, wie dadurch der Geltungsanspruch des Bebauungsplans nicht aufgehoben wird. Mit anderen Worten liegt eine der Annahme eines atypischen Einzelfalles i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB entgegenstehende erhebliche Anzahl vergleichbarer Fälle so lange nicht vor, wie es durch die Erteilung von Befreiungen in allen diesen Fällen nicht zu einer Funktionslosigkeit des Bebauungsplans bzw. der maßgeblichen Festsetzung kommt. Nach der im Urteil des BVerwG vom 24.04.2024 nochmals wiederholten Rechtsprechung müssen für eine Funktionslosigkeit so viele Befreiungen erteilt werden, dass die tatsächlichen Verhältnisse vom Bebauungsplan so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag. Eindeutig ist, dass es sich dabei immer um eine relative Anzahl von Fällen handelt, also in Abhängigkeit von der Größe des Plangebiets und der dort vorhandenen Zahl von Grundstücken. Sucht man dafür nach konkreten Fällen, findet man z.B. das Urteil des VGH Mannheim vom 15.09.2016. Dort ging es um die Einhaltung einer festgesetzten hinteren Baugrenze. Das Gericht hat festgestellt, dass diese auf 5 von insgesamt 20 Grundstücken im Plangebiet überschritten war, was dem VGH Mannheim für die Annahme einer Funktionslosigkeit dieser Festsetzung nicht ausgereicht hat (VGH Mannheim, Urt. v. 15.09.2016 - 5 S 114/14 Rn. 37, 38). Das VG Hamburg hat in seinem Urteil vom 23.11.2023 ebenfalls im Hinblick auf die Überschreitung einer Baugrenze festgestellt, dass die Überschreitung dieser Baugrenze auf 3 von insgesamt 14 Grundstücken nicht zu einer Funktionslosigkeit der Festsetzung führe (VG Hamburg, Urt. v. 23.11.2023 - 6 K 2971/21 Rn. 50, 51). Dies entspricht also einem Anteil von 25% bzw. 21%. Zieht man, was nach Auffassung des Verfassers richtig und aufgrund der erklärten Intention des Gesetzgebers auch geboten ist, die vom BVerwG in seinem Urteil vom 24.04.2024 nochmals betonte Wechselbeziehung zwischen Funktionslosigkeit und Erforderlichkeit i.S.d. § 1 Abs. 3 BauGB zur Bestimmung des atypischen Sonderfalls und damit auch des Einzelfalls i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB heran, so ergibt sich, dass Befreiungen auch nach Maßgabe des erforderlichen atypischen Einzelfalls gemäß § 31 Abs. 3 BauGB jedenfalls dann erteilt werden können, wenn der Anteil vergleichbarer Fälle im Plangebiet ein Fünftel, ggf. sogar ein Viertel aller Grundstücke nicht übersteigt. Mit diesem Verständnis hat § 31 Abs. 3 BauGB auch den vom Gesetzgeber ersichtlich gewollten und mehr als völlig unbeachtlichen Anwendungsbereich. Von dem die Bauaufsichtsbehörde – mit Zustimmung der Gemeinde – auch Gebrauch machen kann, ohne eine Verwerfungskompetenz in Anspruch nehmen zu müssen.
- E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung Naturgemäß nicht thematisiert hat das BVerwG, ebenso wie in der vorangegangenen Berufungsentscheidung das OVG Berlin-Brandenburg, einen Umstand, der aber gleichwohl ein – auch sehr maßgebliches – „Thema“ der Entscheidungen ist. Zwischen dem Erlass des streitgegenständlichen (ablehnenden) Vorbescheids vom 09.03.2015 und dem Revisionsurteil des BVerwG vom 24.04.2024 sind mehr als neun Jahre vergangen. Von diesen entfallen allerdings nur ca. 14 Monate auf das Revisionsverfahren. Die nach der Zurückverweisung durch das BVerwG erforderliche weitere Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg steht noch immer aus. Da die mündliche Verhandlung noch nicht terminiert wurde, wird es das Verfahren sicher in sein elftes Jahr (!) schaffen. Offensichtlich hat der Kläger einen langen Atem, zu dem man ihn nur beglückwünschen kann. Auch wenn es nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Frage der Abwägung im Einzelfall ist, wann ein Verfahren so lange dauert, dass deshalb ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG vorliegt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.06.2011 - 1 BvR 194/11 Rn. 26, 27), spricht viel dafür, dass diese Schwelle hier überschritten ist. Gleiches gilt für einen Verstoß gegen die Art. 6 und 13 EMRK (vgl. EGMR, Urt. v. 02.09.2010 - 46344/06 Rn. 4 ff.). Unabhängig davon, ob diese Verstöße vorliegen, ist eine solche Verfahrensdauer jedenfalls für den/einen Kläger eine schlichte Katastrophe. Geht es z.B. um das Haus oder die Wohnung für die bei Antragstellung junge Familie, sind die Kinder aus dem Haus, noch bevor die Baugenehmigung erstritten wurde. Zwar bewegt sich diese Verfahrensdauer fraglos in besonderen Sphären. Gleichwohl stellt sich die Situation inzwischen auch allgemein so dar, dass der (anwaltliche) Rat insbesondere zur Erhebung einer Verpflichtungsklage wegen der damit regelmäßig verbundenen Verfahrensdauer ein ambivalenter Rat ist und die Bauherren jedenfalls wirtschaftlich häufig besser beraten sind, wenn sie sich, wo das möglich ist, mit der Bauaufsichtsbehörde und ggf. der Gemeinde auf ein (zulässiges) Vorhaben verständigen. Dies kann man unter dem Gesichtspunkt des Rechtsfriedens sogar begrüßen; der beste Prozess ist bekanntlich der, den man nicht führen muss. Nach Maßgabe des Gebots eines wirklich effektiven Rechtsschutzes sieht dies allerdings anders aus.
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