Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten um Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz aus einem vom Kläger behaupteten Verkehrsunfall. Der Kläger nahm am Vorabend des Unfalls an einer Feier der Landjugend teil. Dort trank er Alkohol; eine durchgeführte Atemalkoholkontrolle ergab einen Wert von 1,92‰. Es war ein Bus-Shuttle-Dienst eingerichtet worden, um Gäste der Feier zu befördern.
Der frühere Beklagte zu 2), der zwischenzeitlich verstorbene R., war im Rahmen des Shuttle-Dienstes als Busfahrer mit einem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Reisebus (Kraftomnibus mit mehr als neun Sitzplätzen) eingesetzt. Als der Kläger die Feier verlassen wollte, begab er sich am frühen Morgen in den Eingangsbereich der Wiese zur Straße, wo ein Freund ihn abholen wollte.
Streitig ist, ob es dort zu einem Unfall mit einem Überfahren der Füße des Klägers durch den bei der Beklagten zu 1) versicherten Bus kam. Der Kläger, dem nach einem Arbeitsunfall der rechte Vorfuß amputiert worden war, wurde in der Nacht vom Ort der Feier per Rettungswagen mit einer Quetschung beider Vorfüße ins Klinikum S. verbracht.
Der Kläger behauptete, er habe sich in dem für den Fahrzeugverkehr gesperrten Bereich auf einen Schachtring am Rand der Straße gesetzt, um dort zu warten. Er habe sich auf sein Mobiltelefon konzentriert. Dann sei der Bus so dicht an ihm vorbeigefahren, dass er nicht mehr habe ausweichen können und der Bus sei ihm schließlich über die Füße gefahren.
Die Beklagten haben den behaupteten Unfall, die Unfallursächlichkeit der Verletzungen und die geltend gemachten materiellen Schadenspositionen bestritten. Der Busfahrer habe von einem Unfall nichts mitbekommen. Jedenfalls treffe den Kläger ein weit überwiegendes Mitverschulden, weil er aufgrund seiner Alkoholisierung nicht ausgewichen sei.
Das Landgericht hatte nach Beweiserhebung der Klage überwiegend stattgegeben (Schmerzensgeld i.H.v. 4.000 Euro, Ersatz seines Verdienstausfallschadens i.H.v. 1.948,16 Euro, Ersatz von Fahrtkosten, Zuzahlungen und einer Unfallkostenpauschale i.H.v. zusammen 751,31 Euro). Der Kläger sei beim Betrieb des vom früheren Beklagten zu 2) gelenkten und bei der Beklagten zu 1) versicherten Busses verletzt worden, indem der Bus über die Füße des Klägers gefahren sei. Dieses Geschehen stehe zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme (Zeugen, Sachverständigengutachten) fest. Ein Fall höherer Gewalt (§§ 18, 7 Abs. 2 StVG) liege ebenso wenig vor wie ein unabwendbares Ereignis (§§ 18, 17 Abs. 3 StVG). Der Busfahrer habe im Falle einer Rückwärtsfahrt gegen § 9 Abs. 5 StVG und anderenfalls jedenfalls gegen seine Sorgfaltspflicht aus § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Sein Verschulden werde vermutet. Umstände, die diese Vermutung widerlegen könnten, seien von den Beklagten nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich.
Es liege auch kein Mitverschulden des Klägers nach § 9 StVG, § 254 BGB vor. Die erhebliche Alkoholisierung des Klägers begründe kein Mitverschulden, weil er vorliegend gerade nicht aufgrund der Alkoholisierung zu einer ihm gebotenen und zumutbaren Handlung, die den Unfall verhindert hätte und die er ohne die Alkoholisierung hätte vornehmen können, nicht mehr in der Lage gewesen sei. Nach den getroffenen Feststellungen habe sich der Schachtring, auf dem der Kläger gesessen habe, nicht direkt an der Straße befunden, sondern ein Stück weiter hinten auf dem Grundstück. Der Kläger habe nicht damit rechnen müssen, außerhalb der Fahrbahn von einem Bus angefahren zu werden. Dem Busfahrer habe demgegenüber klar sein müssen, dass sich in dem Bereich wegen der Feier viele Fußgänger befinden könnten. Es sei deshalb unerheblich, dass der Kläger durch die Beschäftigung mit seinem Smartphone abgelenkt gewesen sei.
Hiergegen wandten sich die Beklagten mit ihrer Berufung, mit der sie ihr Begehren auf Abweisung der Klage weiterverfolgten.
Das OLG Schleswig hat die Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet.
Das landgerichtliche Urteil sei nicht zu beanstanden. Der Kläger habe gegen die Beklagten Ansprüche in ausgeurteilter Höhe aus den §§ 7 Abs. 1, 11, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG, §§ 249, 252, 253 BGB, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG.
Der Kläger sei beim Betrieb des bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und vom früheren Beklagten zu 2) gelenkten Bus verletzt worden. Hieran bestehen aufgrund der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme keine vernünftigen Zweifel. Die Beweiswürdigung durch das Landgericht sei nicht zu beanstanden. Der Kläger habe eine Skizze gefertigt, auf der er die Absperrung auf der rechten Fahrspur sowie den Schachtring mit seiner eigenen Sitzposition eingezeichnet habe. Nach dieser Zeichnung habe sich der Schachtring teilweise auf der abgesperrten Fahrspur befunden, wobei der Kläger auf dem auf der Fahrbahn befindlichen Teil des Schachtrings gesessen habe.
Der Senat gehe davon aus, dass – wie vom Kläger geschildert – der Bus in Vorwärtsfahrt und nach rechts eingelenkt mit den rechten Reifen der hinteren beiden Achsen über die Füße des Klägers gefahren sei. Dies lasse sich technisch ohne Weiteres erklären. In einer Kurvenfahrt werde – sofern (wie bei einem Bus üblich) nur die Vorderräder angelenkt werden – die Fahrspur der Hinterräder ins Kurveninnere verlagert, so dass das Heck die Kurve also quasi „schneide“. So sei es gerade bei einem langen Fahrzeug wie einem Bus plausibel, dass der vordere Teil mit größerem Abstand an einem Hindernis – wie hier – dem Schachtring vorbeikomme, während der hintere Teil mit dem Schachtring oder eben einer darauf sitzenden Person kollidiere. Der Senat ist weiter davon ausgegangen, dass sich der Schachtring jedenfalls nicht direkt auf der Fahrbahn befunden habe. Es erscheine nicht lebensnah, dass ein derartiges Hindernis direkt auf die Fahrbahn verbracht werde, auch wenn diese vorübergehend – halbseitig – abgesperrt werde.
Für die Möglichkeit, dass der Unfall beim Rückwärtsfahren des Busses passiert sei, liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor.
Die Einholung eines – von den Beklagten gegenbeweislich beantragten – Unfallrekonstruktionsgutachtens habe das Landgericht zu Recht abgelehnt. Der Beweisantritt sei auf die Feststellung gerichtet, dass es nicht zu dem vom Kläger behaupteten Überrollen der Füße gekommen sein könne. Für einen derartigen Negativ-Beweis sei das beantragte Gutachten jedoch in der vorliegenden Situation nicht geeignet. Denn ein Überrollen der Füße einer auf einem Schachtring sitzenden Person durch einen nach rechts eingelenkten, vorwärts vorbeifahrenden Bus sei selbstverständlich möglich. Dies sei technisch-physikalisch offenkundig und bedürfe keiner Einholung eines Gutachtens. Einer gutachterlichen Beurteilung könnte allenfalls die Frage unterzogen werden, ob ein derartiges Geschehen unter den konkreten örtlichen Gegebenheiten möglich gewesen wäre oder nicht. Also ob etwa der Platz für das vom Kläger behauptete Fahrmanöver des Busses ausreichend gewesen sei. Hierzu fehlen allerdings hinreichend konkrete Darlegungen der Beklagten zu den konkreten Verhältnissen vor Ort. Es sei leider keine sachgerechte Unfallaufnahme erfolgt.
Ein Mitverschulden gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB sei dem Kläger nicht nachzuweisen. Nach den getroffenen Feststellungen habe sich der Schachtring nicht auf der Straße, sondern daneben befunden. Indem der Kläger auf diesem Schachtring gesessen habe, habe er nicht aktiv am Straßenverkehr teilgenommen. Er habe nicht damit rechnen müssen, dort von einem Fahrzeug erfasst zu werden.
Dies gelte auch dann, wenn sich der Schachtring teilweise auf der Fahrbahn befunden haben sollte, denn die Straße sei in diesem Bereich für den allgemeinen Fahrzeugverkehr gesperrt gewesen. Es sei nicht ersichtlich, dass der Kläger wusste oder wissen musste, dass Shuttle-Busse eingesetzt waren, die die Fahrbahn trotz der Absperrung befahren könnten. Es begründe deshalb kein vorwerfbares Eigenverschulden, dass er dort gesessen habe, um auf einen Freund zu warten, und sich währenddessen mit seinem Smartphone beschäftigte.
Auch die Alkoholisierung des Klägers begründe in dieser Situation kein Mitverschulden. Es sei kein alkoholbedingtes Verhalten des Klägers zu erkennen, das sich auf den Unfall ausgewirkt haben könnte. Dass er den herannahenden Bus erst spät bemerkt habe, könne auch mit – nicht vorwerfbarer – Unaufmerksamkeit bzw. Ablenkung erklärt werden. An seinem Aufenthaltsort habe er nicht mit gefährlichem Busverkehr rechnen müssen. Das reflexartige Zurückziehen des Fußes sei durch die Gestaltung der verwendeten Sitzgelegenheit verhindert wurden, ohne dass hieraus ein Mitverschulden abgeleitet werden könnte. Demgegenüber habe der Busfahrer, der um die Feier wusste, trotz der späten Stunde mit regem Fußgängerverkehr und auch mit angetrunkenen Gästen der Feier rechnen müssen, was ihm gemäß § 1 Abs. 1, 2 StVO ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit und Umsicht abverlangt habe. Er habe den Kläger, der sich völlig passiv in einem für den Fahrzeugverkehr gesperrten und damit für Fußgänger vermeintlich geschützten Bereich aufgehalten habe, schlicht übersehen. Ein etwaiges verbleibendes Mitverschulden des Klägers wäre allenfalls geringfügig und müsste hinter dem Verschulden des Busfahrers vollständig zurücktreten.
Im Ergebnis bestehe eine alleinige Haftung der Beklagten. Das Verschulden des früheren Beklagten zu 2) hinsichtlich eines Verstoßes gegen seine Sorgfaltspflichten (§ 1 Abs. 1, 2 StVO) werde vermutet. Ein unabwendbares Ereignis oder ein Fall höherer Gewalt (§§ 7 Abs. 2, 18 Abs. 1 Satz 2 StVG) liegen ersichtlich nicht vor.
Kontext der Entscheidung
Das OLG Schleswig spricht verschiedene Themen des Prozessrechts und des materiellen Rechts an, wobei auf wenige Punkte durchaus genauer hätte eingegangen werden können.
Zunächst ist auch bei einer anscheinend etwas verworrenen Beweislage mit etlichen Zeugen und Unfallgeschehen zur Nachtzeit nur der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) relevant, der das Gericht berechtigt, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden ist (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 286 Rn. 13). Wenn diese Grundsätze eingehalten werden, ist die Beweiswürdigung durch das Landgericht nicht zu beanstanden. Sie muss nicht zwingend sein, nur möglich, so dass sich das Berufungsgericht ihr anschließen kann. Eine Wiederholung der Beweisaufnahme steht gemäß den §§ 529, 531 ZPO nicht im reinen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also ihre Unrichtigkeit herausstellt (BGH, Beschl. v. 02.07.2013 - VI ZR 110/13 - NJW 2014, 74; BGH, Beschl. v. 21.03.2018 - VII ZR 170/17 - NJW-RR 2018, 651; BGH, Beschl. v. 04.09.2019 - VII ZR 69/17 - NJW-RR 2019, 1343; BGH, Beschl. v. 08.08.2023 - VIII ZR 20/23 - NJW 2023, 3496). Konkreter Anhaltspunkt ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen, wobei aber bloß subjektive Zweifel oder Vermutungen nicht ausreichen (BGH, Urt. v. 08.06.2004 - VI ZR 230/03 - NJW 2004, 2828; BGH, Urt. v. 18.10.2005 - VI ZR 270/04 - NJW 2006, 152). Solche konkreten Anhaltspunkte waren vorliegend aber nicht ersichtlich.
Materiell-rechtlich stand das Problem im Raum, wann und in welchem Umfang ein Mitverschulden des Geschädigten anzunehmen ist, wenn dieser alkoholisiert war. Allein die festgestellte hohe Atemalkoholkonzentration lässt keinen Schluss auf einen schweren Rausch zu, weil erstens die Atemalkoholmessung unzuverlässig ist (z.B. in Abhängigkeit vom Zeitpunkt des letzten Alkoholkonsums) und eine Blutalkoholmessung nicht ersetzt und weil zweitens der tatsächliche Grad der Alkoholisierung auch von weiteren Faktoren wie etwa einer Alkoholgewöhnung abhängt. Einen kausalen Verursachungsbeitrag hat er gerade nicht gesetzt (vgl. zur gegenteiligen Situation: volle Haftung bei alkoholisierter Überquerung der Straße, KG, Beschl. v. 18.09.2010 - 12 W 24/10). Eine zu späte Reaktion auf den herannahenden Bus ist nicht zwingend nur alkoholbedingt begründbar. Zudem befand sich die Sitzgelegenheit des Geschädigten und damit auch er selbst gerade nicht auf der Straße, sondern daneben. Indem der Kläger auf diesem Schachtring saß, nahm er nicht aktiv am Straßenverkehr teil. Er musste nicht damit rechnen, dort von einem Fahrzeug erfasst zu werden, gerade weil – wie festgestellt – dieser Bereich für den allgemeinen Fahrzeugverkehr gesperrt war.
Zutreffend ist für die Frage der Verantwortungsverteilung – man befindet sich ja außerhalb des § 17 StVG – auch der Hinweis auf die besondere Aufmerksamkeitsanforderung an den Busfahrer gerade wegen Ereignis und Uhrzeit: Der Busfahrer, der um die Feier wusste, musste trotz (oder gerade wegen) der späten Stunde mit regem Fußgängerverkehr und auch mit angetrunkenen Gästen der Feier rechnen, was ihm nicht nur gemäß § 1 Abs. 1, 2 StVO ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit und Umsicht abverlangt, sondern auch im Rahmen des § 3 Abs. 1 StVO von Belang ist. Er muss seine Geschwindigkeit diesem Umstand anpassen (Krenberger in: BeckOK StVR, § 3 StVO Rn. 48), wobei das Oberlandesgericht auf die Problematik der Haftung aus § 3 StVO hier gar nicht eingegangen ist.
Bei der Schmerzensgeldbemessung wurde die Vorschädigung des Fußes nicht zum Nachteil des Geschädigten berücksichtigt. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes können vor der Verletzung bereits bestehende Beeinträchtigungen der Erlebnisfähigkeit zwar grundsätzlich in die Berechnung einbezogen werden (BGH, Urt. v. 30.04.1996 - VI ZR 55/95 - NJW 1996, 2425). Handelt es sich aber wie hier um einen abgrenzbaren, neuen Schaden für den Betroffenen, ist die Herangehensweise von Land- und Oberlandesgericht nicht zu beanstanden (vgl. Spindler/Flume in: BeckOK BGB, § 253 BGB Rn. 38).