juris PraxisReporte

Anmerkung zu:LG Saarbrücken 13. Zivilkammer, Urteil vom 22.12.2023 - 13 S 34/23
Autor:Dr. Michael Nugel, RA, FA für Verkehrsrecht und FA für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum:19.06.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 10 StVO, § 1 StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 12/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Nugel, jurisPR-VerkR 12/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Haftung für Verkehrsunfall nach Einfahren von einem Parkstreifen in den fließenden Verkehr



Leitsätze

1. Ein Parkstreifen ist ein anderer Straßenteil i.S.d. § 10 StVO.
2. Wer von einem Parkstreifen in den fließenden Verkehr einfährt, ordnet sich auch dann in diesen ein, wenn er sofort nach dem Ausfahren aus dem Parkstreifen wieder anhalten will.



A.
Problemstellung
Das LG Saarbrücken hatte über die Haftungsquote bei einem Unfall zu entscheiden, bei dem ein Fahrzeugführer aus einer Parkbucht heraus mit einem vorbeifahrenden Fahrzeugführer im fließenden Verkehr kollidiert war.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Fahrerin des klägerischen Fahrzeuges fuhr im fließenden Verkehr an geparkten Fahrzeugen vorbei, während der Beklagte als Unfallgegner sich aus ihrer Sicht am rechten Fahrbahnrand befand. Auf der rechten Seite war an dieser Stelle auch ein Parkstreifen, so dass die Straße aufgrund der Parkstreifen nur einspurig befahrbar war. Deshalb befanden sich zwischen den Parkstreifen Lücken für die am fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer, damit diese dem Gegenverkehr über diese Lücken ausweichen konnten. Der Beklagte zu 1) fuhr aus dem Parkstreifen geradeaus heraus, um seine Parkposition zu verändern, als es zur Kollision mit dem im fließenden Verkehr vorbeifahrenden Fahrzeug der Klägerseite kam. Die Parteien stritten sodann über die Haftungsquote. Der Tatrichter am Amtsgericht war der Auffassung, dass die Fahrzeugführerin des klägerischen Fahrzeuges eine Mithaftung treffe.
Dies hat das LG Saarbrücken anders gesehen und insbesondere darauf hingewiesen, dass gegen den Lkw-Fahrer auf der Beklagtenseite der Beweis des ersten Anscheins wegen eines Verstoßes gegen § 10 Satz 1 StVO spreche.
Nach dieser Vorschrift habe er beim Einfahren auf die Fahrbahn sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Da der Beklagte von dem Parkstreifen aus in die für den fließenden Verkehr freigegebene Lücke zwischen zwei Parkstreifen gefahren sei, sei auch er i.S.d. § 10 StVO in die Fahrbahn eingefahren. Dabei sei es unerheblich, ob der Erstbeklagte sodann weiterfahren oder noch einmal außerhalb des Parkstreifens hätte anhalten wollen, um von dort aus zu rangieren. Insoweit spreche gegen ihn bereits der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verstoß gegen § 10 StVO, den er nicht erschüttert habe.
Dagegen sei ein Verstoß der Klägerseite gegen § 1 Abs. 2 StVO weder ersichtlich noch nachgewiesen. Dabei hat das Landgericht die Beweiswürdigung des Amtsgerichtes als offenkundig fehlerhaft eingestuft und insbesondere darauf hingewiesen, dass gar nicht sicher festgestellt werden konnte, wie lange der Scheinwerfer des Lkw angewesen sei und ob daraus eine Reaktionsaufforderung abzuleiten gewesen wäre.
Das LG Saarbrücken hat daher in der II. Instanz die Beweisaufnahme wiederholt und war – anders als der Richter am Amtsgericht – nicht zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Lkw zumindest das Abblendlicht eingeschaltet gewesen war. Andere Gesichtspunkte, die eine frühzeitige Reaktion der Fahrerin des klägerischen Fahrzeuges auf den Anfahrvorgang des Lkw erfordert hätten, seien weder ersichtlich noch bewiesen, so dass ein Mitverschulden auf der Klägerseite nicht gegeben und der Klage in vollem Umfang stattzugeben sei.


C.
Kontext der Entscheidung
Es handelt sich um einen typischen Fall, der im Straßenverkehr tagtäglich häufiger passieren dürfte: Ein Fahrzeugführer fährt aus seiner haltenden Position aus dem ruhenden in den fließenden Verkehr ein und kollidiert mit einem vorbeifahrenden Fahrzeugführer, der im fließenden Verkehr rangiert, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Hier bestand die Besonderheit, dass der Fahrzeugführer der Beklagtenseite nicht von einem abgesenkten Bordstein auf die Fahrbahn in den fließenden Verkehr eingefahren ist, sondern sich schon dort auf einem Parkstreifen auf gleicher Höhe befand. Aber auch bei einem abgetrennten Parkstreifen mit einer entsprechenden Parkmarkierung ist überzeugenderweise der Anwendungsbereich des § 10 StVO eröffnet, so dass ein Rangieren aus diesem Parkstreifen heraus in den fließenden Verkehr dazu führt, dass der Fahrzeugführer bei diesem Manöver die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen muss.
Kommt es bei diesem Fahrmanöver zu einem Unfall mit dem fließenden Verkehr, spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verstoß gegen § 10 StVO und die einfache Betriebsgefahr des Pkws im fließenden Verkehr tritt hinter diesem überragenden Fehlverhalten zurück (BGH, Urt. v. 08.03.2022 - VI ZR 1308/20; BGH, Urt. v. 20.09.2011 - VI ZR 282/10). Ein solcher enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit der Einfahrt in den fließenden Verkehr ist dabei auch dann noch zu bejahen, wenn das Fahrzeug mehrere Fahrzeuglängen zurückgelegt hat (OLG Hamm, Urt. v. 07.03.2014 - 9 U 210/13; LG Mönchengladbach, Urt. v. 16.02.2021 - 5 S 29/20) – denn das Einfahren endet räumlich erst dann, wenn sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Einflussnahme des Anfahrvorgangs auf den fließenden Verkehr ausgeschlossen ist (OLG Hamm, Urt. v. 27.03.2015 - 11 U 44/14). Für eine Haftung der verbleibenden Betriebsgefahr des Unfallgegners ist bei einem solchen Fehlverhalten in der Regel kein Raum (LG Mönchengladbach, Urt. v. 09.09.2014 - 5 S 27/14).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Eine Mithaftung der Fahrzeugführerin der Klägerseite kommt in dieser Konstellation mithin nur dann in Betracht, wenn ihr frei von Zweifeln eine verspätete oder unterlassene Reaktion bei Vermeidbarkeit des Verkehrsunfalls und damit ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO nachgewiesen werden könnte. Dafür muss aber erst einmal geklärt werden, welcher Umstand eine Signalaufforderung setzt, ab derer die Kollision hätte vermieden werden können. Dies setzt wiederum eine Erkennbarkeit des Anfahrvorganges voraus. Im vorliegenden Fall ergaben sich dafür keine durchgreifenden Anhaltspunkte, zumal die Beklagtenseite dafür auch die Beweislast trug. Im Übrigen dürfte es auch schon sehr zweifelhaft sein, ob allein ein eingeschaltetes Licht bei einem geparkten Fahrzeug Veranlassung gibt, damit zu rechnen, dass dieses Fahrzeug vom ruhenden in den fließenden Verkehr aus einem Parkstreifen heraus bewegt wird – wenn überhaupt, dürfte dies nur eine Warnposition, aber noch nicht der Moment der kritischen Reaktionsaufforderung mit einem erkennbaren Fahrmanöver begründen.
Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer jedenfalls dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anlass dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (BGH, Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15; Nugel, DAR 2022, 438). Dies wird in der Regel beim bloßen Einschalten der Scheinwerfer vor dem Anfahren noch nicht der Fall sein, sondern allenfalls eine sog. Warnposition begründen. Bei dieser Warnposition ist noch nicht ernsthaft eine Missachtung des Vorrangrechtes anzunehmen, dies aber zumindest möglich, und je nach den weiteren Umständen ist dann der bevorrechtigte Fahrzeugführer allenfalls gehalten, seine Geschwindigkeit angemessen zu verringern und bremsbereit zu sein (BGH, Urt. v. 23.04.2002 - VI ZR 180/01 - VersR 2002, 911, 912; OLG Hamm, Urt. v. 06.04.2017 - 6 U 2/16 - ZfSch 2017, 560; weitere Beispiele bei Nugel, DAR 2022, 438).



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